Je lauter über ein mögliches Ende des Ukraine-Krieges gesprochen wird, desto mehr Aufmerksamkeit bekommt die Rückkehr der Soldaten. Kriegsveteranen werden zur Bedrohung für die Gesellschaft.
Als Nikita Ljubimow aus dem Krieg nach Hause kam, hatte das ganze Dorf Angst vor ihm. Bewohner von Mursakowo in der russischen Teilrepublik Tschuwaschien an der Wolga berichteten lokalen Medien später, der junge Mann habe sich aufgeführt, als könne er sich alles erlauben. Er bedrohte sie, beraubte sie und wurde gewalttätig. Als Ljubimow betrunken einen Mann besuchte, mit dem ihn schon von früher eine Abneigung verband, verprügelte er ihn «aus persönlicher Feindseligkeit», wie es in den Ermittlungsakten hiess. Eine Nachbarin fand ihn später im Haus tot auf. Ljubimow wurde am Tag vor dem Begräbnis als mutmasslicher Täter festgenommen.
Ljubimow war 2022 in der Strafkolonie von der paramilitärischen Gruppe Wagner für den Krieg gegen die Ukraine rekrutiert worden und kehrte vorzeitig als Verwundeter zurück. Wegen Diebstahls und mehrfacher Körperverletzung hatte er eingesessen. Als Veteran der «SWO», wie der als «militärische Spezialoperation» bezeichnete Ukraine-Krieg in Russland abgekürzt genannt wird, fühlte er sich als Held. Der Fronteinsatz hatte ihn für seine Mitbürger aber erst recht zur Bedrohung gemacht.
Erschütternde Zwischenbilanz
Die Geschichte ist fast zwei Jahre alt, aber seither haben sich die Berichte über Mord und Totschlag durch Kriegsheimkehrer vervielfacht. Das Portal «7×7 – horizontales Russland», dessen Schwerpunkt in der Berichterstattung aus den russischen Regionen liegt, stellte zum dritten Jahrestag des Krieges eine erschütternde Zwischenbilanz auf. Auf 271 Urteile gegen Veteranen des Ukraine-Krieges wegen Mordes oder Totschlags kamen die Journalisten. In ihrem Beitrag beschrieben sie Dutzende dieser Gewaltakte. Die Exil-Plattform «Wjorstka» hatte im vergangenen September 242 Tote und 227 Schwerverletzte durch zurückgekehrte Frontkämpfer gezählt. Meist waren diese Gewalttaten in betrunkenem Zustand und nach einem Streit verübt worden.
Die Erzählungen hinter diesen Zahlen sind erschütternd. Oft handelt es sich bei den Opfern um Bekannte, Freunde oder Familienangehörige: Ehefrauen, Ex-Frauen, Grossmütter, Kinder. Nicht selten sind es aber auch Zufallsopfer – Leute, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Auch ist häufig sexualisierte Gewalt im Spiel, auch gegenüber Kindern. Generell ist die Brutalität der Verbrechen gross.
«Wjorstka» stellte bei der Analyse der Vorfälle fest, dass Kriegsveteranen, die als Strafgefangene für die Front angeworben worden waren und oft schon vor dem Krieg schwere Straftaten verübt hatten, für ihre Umgebung gefährlicher sind als diejenigen, die ohne Vorstrafen in den Krieg gezogen waren. Das verwundert nicht, aber widerspricht der verharmlosenden Haltung, die auch Präsident Wladimir Putin der Rekrutierung von Mördern und Vergewaltigern entgegenbrachte. Mit ihrem Kriegseinsatz hätten sie sich von ihrer Schuld freigekauft; Wiederholungstäter unter ihnen seien selten, behauptete er.
Lehren aus dem Afghanistan-Krieg
Die russisch-amerikanische Annäherung und die Gespräche über eine Waffenruhe haben in der russischen Gesellschaft die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges geweckt. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein für die Schwierigkeiten, die damit auf das Land zukommen werden.
Die potenziellen Auswirkungen der Rückkehr Hunderttausender von Kriegsteilnehmern nehmen mittlerweile auch die Behörden ernst. Sie wollen aus der Erfahrung mit den Afghanistan-Kämpfern am Ende der Sowjetzeit lernen, die nach ihrer Heimkehr trotz psychischer und physischer Versehrung weitgehend sich selbst überlassen wurden. Die Behörden führen besorgniserregende Zahlen an: Die Zahl der Schwer- und Schwerstverbrechen war seit 2010 nie so hoch wie 2024. Das wird mit den Kriegsrückkehrern in Verbindung gebracht.
Staatliche, vom Präsidenten initiierte Programme wie die Organisation Verteidiger des Vaterlandes oder der Veteranen-Lehrgang «Zeit der Helden» wollen zweierlei bezwecken: Sie sollen den Kriegsteilnehmern und ihren Angehörigen zeigen, dass sie nicht allein gelassen werden. Ziel Putins ist es aber auch, die Veteranen der «SWO» zu einer Art neuen Elite zu machen, an der weder die Politik noch die Gesellschaft vorbeikommt. Hunderte ehemaliger Kämpfer werden an Schulen eingesetzt. Einzelne Regionen haben Programme aufgelegt, um die Rückkehrer beruflich wieder einzugliedern. In Baschkortostan, hiess es kürzlich, würden sich diese am ehesten zu Wachmännern, Fahrern und Psychologen umschulen lassen.
Schwierige Wiedereingliederung
Die Betreuung der Heimkehrer aus dem Krieg ist eine Mammutaufgabe. Die berufliche Wiedereingliederung wird durch die Kriegserfahrung, aber auch die durch die enorm hohen Gehälter überhöhten Ansprüche an die Beschäftigung im Zivilleben erschwert. Immer wieder ist zu vernehmen, dass Arbeitgeber kaum erpicht darauf seien, Frontrückkehrer, die mobilisiert worden waren, wieder aufzunehmen oder andere mit dieser Erfahrung überhaupt neu einzustellen.
Gerade die propagandistische Darstellung als Helden führt im Alltag dazu, dass die Veteranen selbstherrlich handeln, keine Kritik zulassen und ihr Umfeld terrorisieren – ob an der Arbeit oder im Wohnblock. Widerrede kann schnell im Vorwurf der «Diskreditierung der Armee» enden. Das Denunziantentum blüht nach drei Jahren, die die Gesellschaft von innen zerfressen haben. Die Polizei stellt sich eher auf die Seite der Veteranen, als dass sie die potenziellen Opfer schützt.
Generell mangelt es in Russland an Psychologen, erst recht aber an solchen, die für Kriegstraumatisierte geeignet sind. Nun müssten plötzlich Hunderttausende begleitet werden können. Die fehlende psychologische Betreuung perpetuiert das gesellschaftliche Problem: Selbst wenn aus den Rückkehrern keine Mörder und Vergewaltiger werden, können sie durch ihr Verhalten ihr Umfeld – die Familie oder das Wohnviertel – so sehr in Angst und Schrecken versetzen, dass dieses selbst traumatisiert wird. Auch nichtstaatliche Organisationen, die sich aus patriotischer Verpflichtung heraus der Wiedereingliederung der Kriegsteilnehmer annehmen, spielen die Schwierigkeiten herunter. Ihre Überzeugung ist es, dass die Rückkehrer im Krieg neue Fähigkeiten erworben hätten, die ihnen im zivilen Beruf von Nutzen sein würden.
Zurück an die Front
Gewalttäter wie Nikita Ljubimow aus Tschuwaschien kommen zwar nicht ungestraft davon. Aber der Krieg hat Mördern die Chance gegeben, sich an der Front zu bewähren und, wenn sie überleben, als freie Menschen zurückzukehren. Angesichts des Bedarfs nach immer neuen Soldaten für die Front müssen Angeklagte mittlerweile nicht einmal ihre Verurteilung abwarten, sondern können sich für den Kriegseinsatz melden und so auf weitere Strafbefreiung hoffen. Für viele Opfer von Gewaltverbrechen und ihre Angehörigen beginnt damit die Hölle unter Umständen von vorn: wenn der Täter am Ende erneut freigelassen wird und in ihr Dorf oder ihr Wohnhaus zurückkehrt.