Ozempic gilt als Lifestyle-Mittel gegen Übergewicht und ist wegen des Hypes kaum mehr verfügbar. Um an das Präparat zu kommen, ziehen Abnehmwillige alle Register. Das Nachsehen haben die Diabetiker.
Stefan Kunz will abnehmen. Aber die Umstände machen es ihm schwer: Er hat Stress bei der Arbeit – und wenn er gestresst ist, dann isst er. «Das war schon immer so», sagt der 44-Jährige, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen will. Es soll nicht jeder wissen, was er gegen sein Übergewicht tut: Er nimmt seit rund fünf Monaten Ozempic.
Ursprünglich war Ozempic ein Diabetesmedikament. Aber weil es den Hunger dämpft, ist es auch für Abnehmwillige interessant. Amerikanische Promis wie Elon Musk und Oprah Winfrey haben im vergangenen Jahr öffentlich gemacht, dass sie mit Ozempic abnehmen. Seitdem ist auch in Europa ein Hype rund um das Medikament entstanden.
«Ich probiere gern Neues aus und wollte wissen, ob das Mittel auch mir helfen kann», sagt Stefan Kunz. Doch weil es Lieferengpässe gibt, sollte es vorrangig an Diabetiker abgegeben werden.
Stefan Kunz musste also einen Arzt finden, der ihm das Medikament verschrieb – und eine Apotheke, in der er es bekam. Letztlich bat er einen befreundeten Dermatologen um Hilfe: «Er nimmt selbst auch Ozempic und hat es mir verschrieben.»
In fünf Apotheken, erinnert sich Stefan Kunz, sei er abgewiesen worden. «Dort fragte man mich, ob ich Diabetiker sei. Ich war ehrlich und verneinte.» Erst in der sechsten Apotheke sei er nicht gefragt worden.
Hat sich der Aufwand gelohnt? Seit er die Therapie vor fünf Monaten begann, hat er nach eigener Aussage vier Kilogramm abgenommen. Seine Bilanz: «Als Wundermittel sehe ich es nicht, aber es ist für mich eine Hilfe in einer stressigen Zeit. Ohne Ozempic hätte ich weiter zugenommen.»
Patienten können sich das Medikament selbst spritzen
Philipp Schütz, Chefarzt Endokrinologie, Diabetes und Metabolismus am Kantonsspital Aarau, hört immer wieder von solchen Fällen. Den Gebrauch von Ozempic als Lifestyle-Medikament hält er für ein Problem: «Wer abnehmen will, sollte es zuerst mit einer Ernährungsumstellung und mit Sport probieren, statt gleich zu Ozempic zu greifen», sagt er. «Sonst nimmt man das Medikament jemandem weg, der es weitaus dringender brauchte.»
Entwickelt wurde Ozempic eigentlich zur Behandlung von Diabetes Typ 2. Patienten können es sich in Form einer Spritze wöchentlich selbst verabreichen. Als sogenannter GLP-1-Agonist ahmt das Medikament ein Darmhormon nach: Es sorgt dafür, dass Insulin ins Blut ausgeschüttet und der Appetit gezügelt wird. So lässt sich nicht nur Diabetes erfolgreich therapieren, als netter Nebeneffekt purzeln auch die Pfunde.
Die dänische Pharmafirma Novo Nordisk wurde zum wertvollsten Unternehmen Europas, indem sie zwei höchst erfolgreiche GLP-1-Agonisten auf den Markt brachte: den Wirkstoff Liraglutid im Medikament Saxenda und die Substanz Semaglutid in Ozempic.
Ihre Wirksamkeit ist in klinischen Versuchen erwiesen. Während sich mit Liraglutid das Körpergewicht durchschnittlich um rund 7 Prozent verringern liess, gelang mit Semaglutid gar eine Reduktion von fast 16 Prozent während einer Behandlungszeit von 68 Wochen.
In der Schweiz ist Saxenda zur Behandlung von Adipositas (Fettleibigkeit) zugelassen, Ozempic dagegen offiziell nur für die Diabetestherapie. Unter bestimmten Voraussetzungen übernehmen die Krankenkassen die Kosten für die Verwendung von Ozempic zum Abnehmen aber trotzdem: wenn eine Person adipös ist und einen Body-Mass-Index (BMI) von über 30 hat oder wenn sie einen BMI von über 28 hat und von einer gewichtsbedingten Begleiterkrankung wie hohen Cholesterinwerten oder Bluthochdruck betroffen ist. Damit die Krankenkasse zahlt, muss das Medikament von einem spezialisierten Arzt verschrieben werden.
BMI-Werte werden zurechtgebogen
Der Hausarzt Thomas Place, der im zürcherischen Adliswil eine Praxis betreibt, wird fast wöchentlich von Patientinnen oder Patienten gebeten, ihnen einen Termin bei einer Endokrinologin oder einem Adipositas-Spezialisten zu verschaffen.
«Es besteht ein enormer Hype rund um die GLP-1-Agonisten», sagt er. Gerade bei jüngeren Frauen kursierten völlig realitätsferne Erfolgsgeschichten: Bis zu 40 Kilogramm könne man mit den Medikamenten verlieren, erzähle man sich.
Den breiten Einsatz der Abnehmspritzen sieht Place äusserst kritisch. Er nimmt Überweisungen nur vor, wenn es medizinisch wirklich angezeigt ist.
Schon mehrere Male hat er jedoch erlebt, dass seine Patienten trotzdem zum Spezialisten gingen und von dort mit Cholesterin- und BMI-Werten zurückkamen, die deutlich über den Zahlen in seinen Akten lagen. «Es scheint leider vorzukommen, dass die Werte auf Druck der Patienten einfach zurechtgebogen werden», sagt er.
Noch leichter, an die Medikamente zu kommen, sei es für Leute, die bereit seien, selbst dafür aufzukommen. «Einige Ärzte stellen ganz einfach Rezepte für Selbstzahler aus», erzählt Place. So ist auch der eingangs erwähnte Stefan Kunz an Ozempic gekommen. Dieses Vorgehen ist zwar nicht illegal, widerspricht laut dem Verband der Haus- und Kinderärzte (MFE) aber klar dem ärztlichen Auftrag und der ärztlichen Ethik.
Denn noch immer herrscht ein Mangel an den Präparaten, wie die Nachfrage bei Enea Martinelli zeigt. Der Chefapotheker der Berner FMI-Spitalgruppe betreibt mit drugshortage.ch eine Datenbank, die Medikamentenengpässe in der Schweiz nachverfolgt.
Die GLP-1-Agonisten von Novo Nordisk und jene von Eli Lilly – diese Pharmafirma hat zwei weniger bekannte Diabetesmedikamente auf dem Markt – seien seit Monaten stets wechselseitig knapp im Angebot. «Ozempic ist für Apotheken derzeit nur verfügbar, wenn sie sich auf eine Warteliste setzen», sagt er. «Saxenda fehlt ganz.»
In den USA kostet die monatliche Dosis 1000 Dollar
Der Grund für die Knappheit ist, dass die weltweite Nachfrage nach den Medikamenten die Produktionskapazitäten der Hersteller bei weitem übersteigt. Die Firmen können ihre Präparate deshalb nur kontingentiert in die Schweiz liefern.
«Die Abnehmspritzen gehören gerade total zum Lifestyle der amerikanischen High Society», sagt Martinelli. Und in den USA gebe es keinen Preisdeckel für Arzneimittel. Da kostet die monatliche Dosis der Medikamente um die 1000 Dollar.
In der Schweiz dagegen belaufen sich die Kosten der Therapie mit Ozempic auf rund 130 Franken pro Monat. Laut Martinelli ist es somit nur logisch, dass die Schweiz hintanstehen muss: «Die Pharmafirmen bedienen primär Märkte, in denen sie viel Geld verdienen.»
Was vielen Nutzern zu wenig bewusst ist: Die Medikamente müssen lebenslang eingenommen werden, damit der Effekt anhält. Setzt man sie ab, steigt das Gewicht wieder, wie verschiedene Studien gezeigt haben.
Zudem haben die Präparate Nebenwirkungen wie Völlegefühl, Erbrechen und Durchfall. Jetzt, wo sie in der breiten Bevölkerung im Einsatz sind, werden immer mehr davon bekannt. So sind Fälle von Bauchspeicheldrüsen-Entzündungen aufgetreten – und in den USA haben Dutzende Ozempic-Nutzer Novo Nordisk verklagt, weil es bei ihnen zu Magenlähmungen oder chronischem Durchfall gekommen sei.
Mangel ist wohl ein temporäres Problem
Doch der Lifestyle-Gebrauch hat auch drastische Auswirkungen auf Patienten, die wirklich auf die Medikamente angewiesen sind. Wie verschiedene Ärzte berichten, mussten aufgrund der Knappheit schon öfters Therapien mit Ozempic unterbrochen werden. Diabetiker müssen dann mit einer Verschlechterung der Blutzuckereinstellung rechnen, adipöse Menschen mit einer erneuten Gewichtszunahme.
«Ein solcher Jo-Jo-Effekt ist nicht nur frustrierend und gesundheitsschädlich», sagt der Endokrinologe Philipp Schütz. «Er kann auch dazu führen, dass die Krankenkassen den Patienten die Medikamente nicht mehr bezahlen, weil sie fälschlicherweise als Therapieversager gelten.»
Im Kantonsspital Aarau sei man nun an dem Punkt angelangt, an dem man keine neuen Patienten mit Adipositas mehr abklären und mit GLP-1-Agonisten versorgen könne.
Schütz erklärt aber auch, der Mangel an diesen Medikamenten sei wahrscheinlich ein temporäres Problem: «Viele neue solche Präparate stecken in den Startlöchern.» Teilweise sollen sie sogar noch besser wirken als die bisherigen. Wie lange es dauert, bis sich die Lage entspannt, ist aber unklar. Manche Ärzte sprechen von Monaten, andere von Jahren.
Eine erste Entlastung könnte das Medikament Wegovy von Novo Nordisk bringen. Wie bei Ozempic handelt es sich dabei um den Wirkstoff Semaglutid, der jedoch höher dosiert verabreicht werden kann, was noch grössere Abnehmerfolge ermöglicht.
In der Schweiz ist Wegovy schon seit fast zwei Jahren für die Behandlung von Adipositas zugelassen. Kontingentiert verfügbar ist es aber erst seit vergangenem November. Die Krankenkasse übernimmt es in der Regel noch nicht, weil sich das Bundesamt für Gesundheit mit dem Hersteller erst auf einen Preis einigen muss. Wer es als Selbstzahler verschrieben bekommt, zahlt derzeit doppelt so viel wie für Ozempic.
In Deutschland spielt Wegovy eine untergeordnete Rolle
Allerdings zeigt der Blick nach Deutschland, dass Wegovy womöglich nicht die schnelle Lösung des Problems ist. In deutschen Apotheken ist das Medikament bereits seit Juli 2023 erhältlich. Es könnte sich jedoch als Ladenhüter entpuppen. Wie oft das Medikament bisher verkauft wurde, ist unklar. Verkaufszahlen werden von den Apotheken nicht erfasst, und der Hersteller Novo Nordisk will keine nennen. Aber Fakt ist: Es gibt in Deutschland derzeit keinen Lieferengpass für Wegovy.
Regionale Apothekerverbände haben auf Anfrage bekanntgegeben, dass die Nachfrage nach dem Medikament nicht allzu gross sei. Und der deutsche Hausärzteverband schreibt: «Wegovy spielt nach unserem Eindruck in den deutschen Hausarztpraxen eine untergeordnete Rolle.»
Wollen die Deutschen nicht abnehmen? Doch. Aber womöglich nicht um jeden Preis. Wegovy kostet auch in Deutschland ungefähr doppelt so viel wie das Diabetesmedikament Ozempic. Wer Gewicht verlieren will, scheint noch immer die günstigere Variante zu wählen.
Der Off-Label-Gebrauch von Ozempic ist in Deutschland ebenfalls möglich. Und er wird weiterhin genutzt: Laut der Pressestelle des Bundesinstituts für Arzneimittel liegt die Menge an Ozempic, die in Deutschland nachgefragt wird, noch immer deutlich über dem durchschnittlichen Bedarf der Diabetiker. Deshalb bleibt das Medikament vorerst knapp.
Braucht es stärkere behördliche Regulierungen?
Auch in der Schweiz hat der vor kurzem erfolgte Aufruf von Novo Nordisk an die Ärzteschaft, die GLP-1-Agonisten derzeit nur gemäss deren Zulassung zu verschreiben, noch nichts geändert: Die Medikamente sind hier weiterhin Mangelware.
Laut dem Chefapotheker Martinelli braucht es effektivere Massnahmen. Er wünscht sich eine Stelle beim Bund, die befähigt ist, bei drastischen Medikamentenengpässen zu reagieren und den Off-Label-Gebrauch zu untersagen. Eine solche fordert auch die Initiative «Ja zur medizinischen Versorgungssicherheit», für die verschiedene medizinische Organisationen derzeit Unterschriften sammeln. In anderen Ländern werde der Off-Label-Gebrauch von Ozempic auf diese Weise verhindert, sagt Martinelli.
Marc Donath, Chefarzt der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus am Universitätsspital Basel, glaubt dagegen nicht, dass es stärkere behördliche Regulierungen braucht. Aus seiner Sicht seien die Vorgaben für die Ärztinnen und Ärzte streng genug, sagt er. «Man muss sich einfach daran halten.»