Ignazio Cassis redet Klartext. Im EU-Dossier. Trotz Spaltung im Bundesrat und der eigenen Partei, der FDP. Das ist man sich vom freisinnigen Aussenminister gar nicht mehr gewohnt.
Am Mittwoch hat Ignazio Cassis überraschend klare Kante gezeigt. Der Bundesrat empfahl, die Abstimmung über die neuen Abkommen mit der EU ohne Ständemehr durchzuführen. In erster Linie gehe es der Landesregierung um die «institutionelle Kohärenz», sagte Aussenminister Cassis vor den Medien. Bei den Abstimmungen über die Bilateralen I und II sei auch nur das Volksmehr zu Anwendung gekommen, obwohl das Schengen/Dublin-Abkommen eine weitergehende dynamische Rechtsübernahme vorgesehen habe als die heutigen Verträge.
Deutliches Signal an die Bevölkerung
Bei den Kritikern der neuen EU-Verträge sorgte die Nachricht für Konsternation. Zwar handelt es sich beim Entscheid des Bundesrats nur um eine Empfehlung, am Ende entscheidet das Parlament über die Form des Referendums. Doch die Landesregierung sendet mit dem Entscheid ein deutliches Signal an die Bevölkerung aus: Der Bundesrat will, dass die neuen Verträge mit der EU zustande kommen. Für den Erfolg an der Urne wird nämlich entscheidend sein, ob es nur ein Volksmehr braucht oder ob auch die Mehrheit der Kantone zustimmen muss. Viele kleine Innerschweizer Kantone ticken aussenpolitisch konservativ.
Bemerkenswerterweise gab Cassis am Mittwoch sogar zu, dass taktische Überlegungen in der Landesregierung eine Rolle gespielt hätten: «Die Chancen an der Urne waren sicher ein Thema», sagte Cassis, «wenn auch nur im Kopf jedes einzelnen Bundesrats und nicht im Gremium selbst.»
Wie es in Cassis’ eigenem Kopf aussieht, hat er in letzter Zeit sehr deutlich gemacht. So hat er seinen Staatsbesuch in China nicht nur für die Stärkung der Beziehung zum Gastland, sondern auch für einen kleinen EU-Werbespot genutzt. Als ein SRF-Journalist ihn fragte, ob China als Handelspartner aufgrund des amerikanischen Zollkriegs wichtiger werde, gab Cassis zwar eine kurze, diplomatische Antwort: «Beide Länder bleiben sehr wichtig für die Schweiz», sagte er.
Dann lenkte er das Gespräch aber schnell auf die EU: Man dürfe nicht vergessen, die Europäische Union sei die «grösste und wichtigste Handelspartnerin der Schweiz». Diese Beziehungen müsse man als Allererstes stabilisieren und weiterentwickeln. «Denn: Der Handel mit dem zweitwichtigsten Partner, den USA, beläuft sich auf nur rund ein Drittel des Handels mit der EU, jener mit China auf rund ein Zehntel.»
Ein umgekehrter Handsschu
Wie anders der Aussenminister noch im letzten Jahr wirkte. Während Diplomaten aus Bern und Brüssel von März bis Dezember 2024 verhandelten, bauten die Gegner des EU-Pakets in der Schweiz immer mehr Druck auf. Die bisherigen EU-Kritiker aus den Reihen der SVP bekamen dabei Unterstützung von Gruppierungen wie «Kompass Europa» und «Autonomiesuisse». Plötzlich meldeten sich Unternehmer zu Wort, die die Risiken des Souveränitätsverlusts höher einschätzen als die wirtschaftlichen Vorteile.
Und Cassis sagte: nichts. Mit dieser «Low-Level-Kommunikation» wollte er die eigene Verhandlungsposition nicht gefährden, hiess es aus bundesratsnahen Kreisen. Doch auch als die materiellen Verhandlungen abgeschlossen waren, spürte man wenig Begeisterung. Er nehme den Abschluss der materiellen Verhandlungen «mit Befriedigung» zur Kenntnis, gab Cassis am 20. Dezember zu Protokoll. Dabei schien sein Enthusiasmus etwa so gross zu sein wie jener eines Freisinnigen am 1.-Mai-Umzug.
Doch jetzt scheint alles anders zu sein: Cassis redet. Und er sagt auch etwas. Das hat auch mit den rasanten geopolitischen Veränderungen zu tun, wie man aus bundesratsnahen Kreisen hört. Ursprünglich habe der Bundesrat in Betracht gezogen, sich erst nach Abschluss der Vernehmlassung zum EU-Paket zur Frage des Ständemehrs zu äussern. Oder gar nichts dazu zu sagen und dem Parlament die Diskussion ganz zu überlassen.
Nun hat die geopolitische Lage ihn offenbar dazu ermutigt, in die Offensive zu gehen. Einen besseren Zeitpunkt gibt es kaum: Donald Trump ist im Begriff, die Weltordnung zu zerlegen. Er bringt die Sicherheitsarchitektur des transatlantischen Bündnisses ins Wanken und verunsichert die Weltwirtschaft mit seiner Unberechenbarkeit.
In dieser chaotischen Zeit ist die Sehnsucht nach Stabilität gross, Cassis verspricht sie in Europa: «Der Bundesrat ist überzeugt, dass die Fortsetzung des bilateralen Wegs eine strategische Notwendigkeit für die Schweiz darstellt», sagte er am Mittwoch. Verlässliche Beziehungen zu unseren Nachbarländern würden Sicherheit, Unabhängigkeit und Wohlstand gewährleisten.
Bundesrat gespalten, Partei gespalten
Allerdings sind nicht alle im Bundesrat so euphorisch: Nebst den beiden SVP-Magistraten war auch Cassis’ Parteikollegin und Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter dem Vernehmen nach für ein Ständemehr. Cassis Kampf richtet sich daher gegen innen – die Landesregierung ist ebenso gespalten wie der Freisinn – sowie gegen aussen, wo auch Mitte und Wirtschaft um eine Position ringen.
Der Aussenminister hat sich offenbar auf einen langen Weg eingestellt und verfolgt eine Kommunikation der kleinen Schritte. Jeder institutionelle Entscheid – der Start der Vernehmlassung im Juni, der Abschluss derselben im Herbst, die parlamentarische Debatte über die einzelnen Vorlagen innerhalb des Pakets und so weiter – werden ihm die Möglichkeit geben, Werbung zu machen. Sein Ziel: Leadership zu zeigen.
Das ist nötig, will der Bundesrat die Verträge ins Ziel bringen. Die Gegner sind Cassis nämlich voraus. Ihre Kampagne läuft seit Monaten auf Hochtouren. Die SVP hat mit der 10-Millionen-Schweiz-Initiative und der Grenzschutzinitiative gleich zwei Begehren am Laufen, welche die Personenfreizügigkeit gefährden. Und auch die Gründer der Partners Group sind ihm mit ihrer Kompass-Initiative auf den Fersen. Cassis wird seinen Schwung behalten müssen.