Amerikanische Medien haben mutmassliche Dokumente der Hamas ausgewertet. Die Protokolle und Präsentationen zum Terrorangriff vom 7. Oktober zeigen: Mithilfe Irans und des Hizbullah hofften die Islamisten ein geschwächtes Israel kollabieren zu lassen.
Bei ihrer Offensive im Gazastreifen stellten die israelischen Streitkräfte vertrauliche Dokumente der palästinensischen Terrororganisation Hamas sicher. Einen Teil davon machte die Regierung in Jerusalem nun amerikanischen Medien zugänglich. Die «New York Times» wertete zehn Sitzungsprotokolle aus, die im Januar in einem verlassenen Bunker der Hamas-Führung in der Stadt Khan Yunis gefunden worden waren. Hamas-nahe Experten bestätigten gegenüber der «Times» die Authentizität der Schriftstücke.
Im Allgemeinen bestätigen die Protokolle bereits bekannte Gewissheiten. Aber sie enthalten auch interessante Details: So wollte die Hamas-Führung um Yahya Sinwar im Gazastreifen den Terrorangriff angeblich bereits ein Jahr früher – im September oder Oktober 2022 – lancieren. Warum sie ihr «grosses Projekt» aufschob, gehe nicht aus den Unterlagen hervor, schreibt die «New York Times». Aber ein vieldiskutiertes Thema bei den Sitzungen sei gewesen, wie man Iran und die libanesische Schiitenmiliz Hizbullah für die Operation gewinnen könnte. Womöglich war sich die Hamas dieser Unterstützung noch nicht gewiss genug.
Zwei Jahre bis zur Zerstörung Israels
Die «Washington Post» wertete Briefe aus, die Sinwar bereits 2021 an höchste Entscheidungsträger in Teheran – auch den Revolutionsführer Ali Khamenei – gesandt haben soll. Darin bittet er Iran angeblich um finanzielle Hilfe im Umfang von 500 Millionen Dollar sowie Waffenlieferungen und militärische Ausbildung, um zusätzliche 12 000 Kämpfer aufstellen zu können. Im Gegenzug verspricht der Hamas-Führer nicht weniger als die Zerstörung Israels: «Wir sind überzeugt, dass wir und ihr innerhalb von zwei Jahren – so Gott will – dieses monströse Gebilde (Israel) ausmerzen werden.» Die Hamas werde keine Minute und kein Geld verschwenden, bis dieses «heilige Ziel» erreicht sei.
Gemäss von Israel sichergestellten Planungsdokumenten mit Tausenden von Bildern militärischer und ziviler Ziele träumte die Hamas von einem noch viel grösseren Terrorangriff als jenem vom 7. Oktober 2023. Unter anderem entwickelte sie angeblich Ideen dafür, Hochhäuser in Tel Aviv zu sprengen, mit Brennstoff gefüllte Güterzüge in israelischen Städten explodieren zu lassen oder Fischkutter in Schnellboote umzubauen, die israelische Häfen angreifen.
Die «Washington Post» schreibt indes auch, dass sie die Echtheit der Dokumente nicht «definitiv» habe verifizieren können. Israel habe in der Vergangenheit immer wieder Falschinformationen verbreitet, erklärte die Uno-Mission Irans in New York in einer Stellungnahme. Das «israelische Regime» sei verlogen und unmenschlich. Die Mission ging dabei allerdings nicht auf die nun veröffentlichten Unterlagen ein.
Iran wurde im Sommer eingeweiht
Wie weit Teheran über den Terrorangriff am 7. Oktober 2023 informiert war, ist bis heute nicht ganz klar. Khamenei streitet jegliche Beteiligung ab. Gleichzeitig meinte er im Juni, der Nahe Osten habe diese Attacke gebraucht. Wie aus den mutmasslichen Sitzungsprotokollen der Hamas hervorgeht, soll Iran durchaus im Bild gewesen sein. Demnach besprach Sinwars Stellvertreter, Khalil al-Hayya, den Plan im Sommer 2023 mit Mohammed Said Izadi, einem in Libanon stationierten Kommandanten der iranischen Revolutionswächter. Die Hamas werde Hilfe brauchen, um zu Beginn der Operation heikle Ziele anzugreifen, erklärte Hayya. Iran und der Hizbullah begrüssten den Plan im Prinzip, aber würden mehr Zeit brauchen, um «das Umfeld vorzubereiten», antwortete Izadi.
Wie aus den Dokumenten hervorgeht, erachtete die Hamas das Umfeld 2023 aus verschiedenen Gründen als günstig. Zum einen kehrte in Israel Benjamin Netanyahu zu Beginn des Jahres durch eine Koalition mit rechtsextremen Kräften an die Macht zurück. Der härtere Kurs dieser Regierung gegenüber den Palästinensern werde ihnen helfen, mehr Unterstützung für ihr «grosses Projekt» erhalten, heisst es in den Sitzungsprotokollen der Hamas-Führer. Gleichzeitig sahen sie Israel durch die «interne Situation» geschwächt. Netanyahus geplante Justizreform spaltete das Land und führte zu anhaltenden Massenprotesten.
Die Hamas präsentierte die Operation gegenüber dem Hizbullah und Iran gemäss den Protokollen zudem als wirksames Mittel, um die von den USA vorangetriebene Normalisierung zwischen Israel und Saudiarabien zu verhindern. Eine Rolle bei der Entscheidung für den Angriff soll aber auch ein neu entwickeltes israelisches Flugabwehrsystem gespielt haben, das Raketen oder Drohnen mit einem Laser abschiesst. Demnach wollte die Hamas zur Tat schreiten, bevor Israel das System in Betrieb nehmen konnte.
Auch ohne eindeutige Zusagen des Hizbullah und Irans war die Hamas offenbar überzeugt, dass der Moment günstig und der Terrorangriff notwendig sei. Sinwar hoffte, dass seine ausländischen Verbündeten sich der Eskalation nicht würden entziehen können. Der Hamas-Führer sei überzeugt gewesen, dass sein «Projekt» einen regionalen Flächenbrand auslöse, der zu Israels Kollaps führe, schreibt die «New York Times».
Der Plan der Hamas ging nicht auf, obwohl es der Organisation gelang, Israel mit dem Angriff zu überraschen. Wie aus den Protokollen hervorgeht, versuchten die Islamisten die Israeli in den zwei Jahren vor dem Attentat in angeblicher Sicherheit zu wiegen. Dass es etwa nach einem Marsch israelischer Ultranationalisten durch Jerusalems Altstadt im Mai 2022 nicht zu einer grösseren Eskalation kam, verzeichneten die Hamas-Führer als Erfolg. Israel sollte glauben, dass ihre Organisation zurzeit nicht an einer Konfrontation interessiert sei. Tatsächlich unterschätzte der israelische Sicherheitsapparat die Hamas. Das Militär und der Geheimdienst wussten bereits 2022 von ihrem grossen Plan, aber trauten ihr die Umsetzung nicht zu.