Das Urteil zur In-vitro-Fertilisation in Alabama, das die Vernichtung von Embryonen als frühe Abtreibung, ja Kindsmord qualifiziert, sorgt für Kontroversen. Das Urteil zitiert aus der Bibel. Kommentatoren warnen schon vor der Theokratie.
In Alabama hat das Oberste Gericht erklärt, dass Embryonen Menschen seien. Das heisst, wenn Embryonen eingefroren werden, wie das bei der In-vitro-Fertilisation (IVF) üblich ist, dann werden eigentlich Kinder eingefroren. Und wenn diese Embryos weggeworfen werden, weil sie für die künstliche Fortpflanzung nicht mehr nötig sind, dann werden Kinder weggeworfen.
Das klingt schauerlich und rückt die IVF, so wie sie heute gehandhabt wird, in die Nähe des Mordes. Denn es werden gemeinhin bei einer Behandlung mehrere Eizellen befruchtet, dann allerdings nur ein oder zwei Embryos in die Gebärmutter eingesetzt. Die restlichen Embryos werden aufbewahrt für den Fall, dass es nicht zur Schwangerschaft kommt oder später noch weitere Kinder gewünscht werden. Es gibt in den USA etwa anderthalb Millionen tiefgefrorene Embryos. Wenn deren Zerstörung kriminell ist, müssten sie bis in alle Ewigkeit konserviert werden.
Die Frage, wann das menschliche Leben beginnt
Theoretisch könnte man, um den Embryonen-«Mord» zu vermeiden, nur jeweils eine einzige Eizelle befruchten. Um diese Eizellen überhaupt zu gewinnen, müsste die Frau jedoch für jeden Versuch wieder von neuem mit einer aufwendigen und teuren Hormonbehandlung beginnen. Tatsächlich hat der Supreme Court von Alabama geäussert, man sei nicht prinzipiell gegen IVF, aber gegen die Vernichtung «ungeborenen Lebens».
Diese Relativierung ist jedoch reichlich theoretisch. Tatsache ist, dass aufgrund der juristischen Unsicherheit nach dem Entscheid bereits drei Fruchtbarkeitskliniken in Alabama ihren Betrieb vorübergehend eingestellt haben. Nun stimmten am Donnerstag jedoch sowohl der Senat wie das Abgeordnetenhaus des Gliedstaats zwei Gesetzesentwürfen zu, die IVF-Kliniken und ihren Angestellten Straffreiheit bei ihrem Umgang mit Embryonen zusichern. Die Gouverneurin Kay Ivey wird sie voraussichtlich nächste Woche unterzeichnen. Aber es besteht weiterhin eine gewisse Konfusion, die quer durch die USA zu Kontroversen führt. Dabei geht es um grundsätzliche Fragen zum Wesen des menschlichen Lebens.
Ein Embryo besteht im ersten Stadium nach der Befruchtung erst aus wenigen Zellen und ist von blossem Auge nicht erkennbar. Die meisten würden wohl zögern, in diesem Frühstadium schon von einem Menschen zu sprechen. Selbst entschiedene Abtreibungsgegner begnügen sich im Allgemeinen mit dem «Herzschlag-Gesetz». Das heisst, sie wollen die Abtreibung nach der sechsten Schwangerschaftswoche verbieten, wenn der Herzschlag des Fötus feststellbar ist. Der Standpunkt, dass man von der Empfängnis an von einem Menschen sprechen müsse, ist auch in den USA einer Minderheit vorbehalten, vor allem fundamentalistischen Christen.
Katholiken skeptischer als Evangelikale
Zoomt man näher an diese Gruppe heran, wird es allerdings interessant. Wer nämlich nun an Evangelikale denkt, liegt falsch. Diese sind zwar mehrheitlich gegen Abtreibung eingestellt, aber nicht gegen künstliche Befruchtung. Gerade weil sie Familienwerte hochhalten, liegt ihnen daran, auch kinderlosen Paaren den Kinderwunsch zu erfüllen, notfalls mit moderner Technologie. Sie lesen die Bibel wortgetreu, und weil dort selbstverständlich nicht von IVF die Rede ist, gibt es für sie auch nichts dagegen einzuwenden. Ein Paradebeispiel ist Mike Pence, Vizepräsident unter Donald Trump. Er ist zwar ein entschiedener Abtreibungsgegner, aber in seiner Autobiografie berichtet er, wie seine Frau sich einer IVF unterzog. Er ist ein klarer Verfechter der Methode.
Auch die «normalen» Protestanten haben mehrheitlich kein Problem mit IVF. Kritisch eingestellt sind vor allem die Katholiken. Hier gibt es zahllose theologische Erörterungen des Themas. Insbesondere Papst Benedikt XIV. verurteilte IVF und künstliche Besamung schon früh. Der jetzige Papst Franziskus äusserte sich gerade kürzlich gegen Leihmutterschaft. Allerdings stellt sich der Vatikan auch gegen Empfängnisverhütung, was viele Katholiken nicht an ihrer Verwendung hindert.
Der Vatikan nimmt auch Anstoss daran, dass beim IVF-Prozedere Masturbation zur Spermiengewinnung involviert ist. Aus katholischer Sicht handelt es sich hierbei ebenfalls um eine «Vergeudung» von potenziellem Leben. Es ist eine Extrapolation der «Pro Life»-Logik, die das menschliche Wesen nicht erst beim ersten Herzschlag, ja nicht einmal erst bei der Empfängnis, sondern schon vorher identifiziert.
«Wir gleiten in eine Theokratie ab»
Bemerkenswerterweise argumentierte der Vorsitzende Richter Tom Parker in seiner Stellungnahme vor allem religiös. Er bemühte für seine Begründungen Bibelstellen aus der Genesis und dem Buch Jeremia sowie Theologen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, von denen selbst Geistliche, die sich zum Urteil äusserten, noch nie gehört hatten.
Bei Parkers Ausführungen ging es vor allem darum, dass der Mensch ein Abbild Gottes sei (und zwar ab dem Moment der Zeugung) und deshalb die Vernichtung solchen Lebens einem Angriff auf den Herrn selbst gleichkomme. Abgesehen vom konkreten Inhalt kann man sich fragen, was solche christlichen Erwägungen in einem Gerichtsurteil verloren haben.
«Wir gleiten in eine Theokratie ab», kommentiert der progressive Kolumnist Charles M. Blow kurz und bündig in der «New York Times». In der Tat: Für Rechtsreligiöse wie Parker gibt es wahrscheinlich kein schlimmeres Feindbild als Iran und Islamisten, und trotzdem wird man manchmal an genau diese Widersacher erinnert, wenn man amerikanischen Fundamentalisten wie ihm zuhört. Die Extreme berühren sich.
Eigengoal der Republikaner
Man kann also die IVF-Technologie als das Gegenteil von Abtreibung sehen, weil Leben ermöglicht wird, aber auch als eine Art frühe Abtreibung, weil Embryos vernichtet werden. Diese Vieldeutigkeit führt dazu, dass die Grenzen der Pro- und Contra-Lager nicht immer wie erwartet verlaufen. Ähnlich wie im religiösen Bereich, wo viele Evangelikale pro IVF eingestellt sind, verlaufen auch die Trennlinien in politischer Hinsicht manchmal überraschend. Während die republikanische Präsidentschaftsanwärterin Nikki Haley das Urteil in Alabama begrüsste, kritisierte es Trump. Ohne Umschweife sagte er: «Wir wollen es Müttern und Vätern leichter machen, Babys zu haben, nicht schwerer!» Auch andere hartgesottene Republikaner wie der texanische Gouverneur Greg Abbott und der Speaker des Abgeordnetenhauses Mike Johnson sind für einmal auf der liberalen Linie von Präsident Biden und stellen sich gegen das Urteil. Ob wirklich aus Überzeugung oder aus Wahlkalkül, ist schwer zu sagen.
Nikki Haley meinte zuerst zum Urteil, auch für sie seien Embryos Babys, um dann einige Tage später zurückzurudern und zu erklären, das sei eine persönlich Meinungsäusserung gewesen und bedeute nicht, dass sie das religiös gefärbte Urteil befürworte. Vermutlich hat sie wie viele andere hochrangige Republikaner realisiert, dass die Dämonisierung von IVF – ähnlich wie ein radikales Abtreibungsverbot – in den USA nicht mehrheitsfähig ist und der Partei im Wahlkampf schadet. Für die Demokraten ist das Urteil umgekehrt ein gefundenes Fressen, ein Fall, den sie – als gegen die Familien und die Frauen gerichtet – genüsslich ausschlachten werden.