Jahrelang balancierte der Machthaber zwischen Russland und Europa. Seit der Niederschlagung der Proteste von 2020 ist sein Handlungsspielraum beschränkt. Ein Ende seiner bereits 30-jährigen Herrschaft ist dennoch nicht in Sicht.
An jenem Montag Mitte August 2020, eine Woche nach der Präsidentschaftswahl, schien es für einen Moment, als stehe Alexander Lukaschenkos Karriere vor dem Ende. Nach der Verkündung der völlig unglaubwürdigen Wahlresultate hatte Weissrussland ein präzedenzloser Protest erfasst, mit einer Welle brutaler Polizeigewalt, mit Festnahmen und Folterungen.
Danach aber zogen Zehn-, ja Hunderttausende in der Hauptstadt Minsk friedlich für Freiheit und Wandel durch die Strassen. Angestellte von staatlichen und privaten Betrieben traten in den Streik. Das Fundament von Lukaschenkos Herrschaft drohte wegzubrechen. Symbolisch dafür wurde sein Versuch, vor streikenden Arbeitern um Unterstützung zu werben. Der Auftritt scheiterte kläglich. Die Rufe «Tritt ab!» und «Schande!» aus einer einst treu ergebenen Gesellschaftsschicht markierten eine Zäsur.
Eine Zäsur bedeuteten die Wochen vor und nach der Wahl in der Tat. Aber die Hoffnungen und Projektionen erwiesen sich als bitterer Trugschluss. Mithilfe des kühl kalkulierenden russischen Präsidenten Wladimir Putin wurde das Zeichen für den Aufbruch in die Freiheit zum Fanal brutalster Repression, die bis heute andauert. Lukaschenko musste nicht abtreten. Er konnte vor kurzem das Dreissig-Jahr-Amtsjubiläum feiern. Und entgegen seinen Beteuerungen von 2020 sieht alles danach aus, als trete er in einem Jahr erneut zur Wiederwahl an.
Demagoge, Populist und Machtbesessener
Alexander Lukaschenko, der Ende August siebzig Jahre alt wird, ist ein politischer Überlebenskünstler. Nur dank Skrupellosigkeit nach innen und aussen gelang es ihm, sich im Amt zu halten.
Als er vor dreissig Jahren auf die politische Bühne trat, war er ein politisches Leichtgewicht. Er hatte eine ärmliche Kindheit gehabt, an der pädagogischen Universität Geschichte studiert und sich später landwirtschaftlich weitergebildet. In der Armee und im Komsomol, der kommunistischen Jugendorganisation, war er für Ideologie zuständig gewesen. Eine Weile lang hatte er eine Kolchose im Osten Weissrusslands geleitet. Für die Führung eines Landes, das die Sowjetzeit hinter sich lassen und einen eigenständigen politischen und ökonomischen Weg finden musste, war er jedoch kaum vorbereitet.
Er war von Anfang an ein Demagoge und Populist, auf dem zunächst die Hoffnungen der verunsicherten Bürger ruhten. Schnell entdeckte er die Freude an der Macht. 1995 und 1996 stellte er die Weichen zum Autoritarismus, indem er den Streit mit dem aufmüpfigen Parlament durch zwei Volksbefragungen löste. Die Machtbefugnisse konzentrierte er bei sich, die Amtszeit liess er sich verlängern.
Kluft zwischen Volk und Herrscher
Mit innenpolitischen Gegnern machte Lukaschenko kurzen Prozess. 1999 verschwanden mehrere seiner Opponenten spurlos, vermutlich wurden sie Opfer einer Todesschwadron des Geheimdiensts KGB. Ebenfalls 1999 vertieften der damalige russische Präsident Boris Jelzin und Lukaschenko mit der Gründung des «Unionsstaats» die zuvor schon in mehreren Schritten gestärkte Partnerschaft Russlands und Weissrusslands. Jahrelang ruhte sich Minsk darauf aus und profitierte von immer neuen russischen Krediten, ohne sich politisch Moskau allzu sehr auszuliefern. Das änderte sich erst 2019, als Russland allmählich immer ungeduldiger mit Minsk wurde.
Vor allem in den Jahren nach Russlands Zerwürfnis mit dem Westen über der Krim-Annexion von 2014 balancierte Lukaschenko durchaus erfolgreich zwischen West und Ost. Minsk erlebte einen Aufschwung als hippes Reiseziel, chinesische Investitionen flossen ins Land, und im sonst noch sowjetisch geprägten Wirtschaftssystem bildete ein IT-Cluster das Symbol für den Anschluss an die Welt. Das allerdings vertiefte das Missverständnis zwischen Volk und Herrscher. Dieser sah weiterhin sowjetische Arbeiter vor sich. Die Gesellschaft aber hatte sich weiterentwickelt und forderte Freiheitsrechte ein.
Zusätzlich dazu gab die Corona-Pandemie, die Lukaschenko auf geradezu menschenverachtende Weise verharmloste, gesellschaftlicher Initiative und dem Wunsch nach einem Wandel im Frühjahr 2020 einen Schub. Der alternde Machthaber tat alles dies als Spielchen seiner Gegner ab.
Im Rückblick wirkt es besonders grotesk, dass er Russland verdächtigte, hinter den politischen Ambitionen seiner Opponenten zu stehen. Als die Weissrussen nach der Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020 gegen das eindeutig falsche Wahlergebnis auf die Strasse gingen, bezichtigte er sie, vom Westen angestiftet zu sein. Sein letzter Rettungsanker wurde Wladimir Putin.
Labor der Repression
Weissrussland ist seither zum Labor für Repressionsinstrumente geworden, die Russland seit 2021, vor allem aber seit der Entscheidung zum Krieg gegen die Ukraine, mit Verzögerung für die eigene Bevölkerung anwendet. Lukaschenkos Gegner sind entweder im Exil oder im Straflager, von wo es seit anderthalb Jahren von ihnen kein einziges Lebenszeichen mehr gegeben hat. Jedes Aufbegehren, jedes kritische Wort, jede oppositionelle Geste auch aus der Vergangenheit kann die Freiheit kosten.
Der Bruch mit dem Westen ist vollkommen, erst recht seit der erzwungenen Landung des Ryanair-Fluges von Athen nach Vilnius mit dem Aktivisten Roman Protasewitsch an Bord im Mai 2021 und der Verwendung von Flüchtlingen als Druckmittel an der EU-Ostgrenze. Lukaschenko versucht trotzdem, auch nach Europa Zeichen der Offenheit auszusenden. Mitte Juli kündigte er die visumsfreie Einreise für Europäer an. Praktisch gleichzeitig wurde aber bekannt, dass ein Deutscher in Minsk unter dubiosen Vorwürfen zum Tod verurteilt worden war. Weissrussland steht so im Verdacht, als Gehilfe Putins Geiseln zu nehmen, um russische Spione und Verbrecher freizupressen.
An Putins kurzer Leine
Dabei ist Lukaschenko selbst zur Geisel Moskaus geworden. Sein Handlungsspielraum ist beschränkt. Immerhin scheint er Putin davon überzeugt zu haben, dass Weissrussland im Krieg gegen die Ukraine die besseren Dienste erweist, wenn es als «stiller Teilhaber» wirtschaftliche und rüstungstechnische Unterstützung bietet und Land und Luft zur Verfügung stellt, nicht aber selbst Soldaten schickt. Jüngste Personalrochaden, unter anderem im Aussenministerium und an der Spitze von Präsidialverwaltung und Propaganda, interpretieren Beobachter als Zeichen dafür, dass Lukaschenko sich auf die Wahlen 2025 vorbereitet. Gleichzeitig gab er kürzlich so offen wie nie zu, gesundheitlich angeschlagen zu sein und Erholung nötig zu haben.
Eine Alternative zu ihm gibt es derzeit nicht: Weder hat er einen möglichen Nachfolger herangezogen, noch sind im System andere echte Politiker übrig geblieben. Putin scheint sich vorläufig damit abgefunden zu haben. Er braucht sich Weissrussland nicht einzuverleiben, solange es auch so unter seiner Kontrolle steht. Aber diese Pläne können sich jederzeit ändern – genauso, wie das Schicksal des Überlebenskünstlers Lukaschenko gegen neue Wendungen nicht gefeit ist.







