Die katholische Kirche hat über den Stand der Massnahmen gegen den Missbrauch informiert. Ein Befreiungsschlag gelingt ihr nicht – die meisten Fragen bleiben offen.
Der 12. September 2023 markiert eine Zeitenwende für die katholische Kirche der Schweiz. An jenem Tag veröffentlichten Forschende der Universität Zürich eine Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch. Sie wiesen über 1000 Übergriffe seit dem Jahr 1950 nach – sowie die systematische Vertuschung durch die Verantwortlichen. Die Ergebnisse seien «nur die Spitze des Eisbergs», so der Historiker Lucas Federer bei der Pressekonferenz.
Am Tag der Veröffentlichung sicherten die katholischen Amtsträger weitreichende Reformen zu. Der Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain versprach, dass bis Ende 2024 unabhängige Meldestellen für Missbrauchsbetroffene existieren würden, zudem soll es psychologische Eignungstests für kirchliche Mitarbeitende geben, die Professionalisierung des HR-Bereichs soll umgesetzt werden und die Einrichtung eines nationalen kirchlichen Straf- und Disziplinargerichtshofs in greifbarer Nähe sein.
Mehr als acht Monate sind seit dem 12. September vergangen. Am Montag informierten Repräsentanten der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) sowie die Vertreter der staatskirchlichen Institutionen (RKZ) und der Ordensgemeinschaften (Kovos) über den Stand der beschlossenen Massnahmen.
Kooperation mit staatlicher Opferhilfe
Die greifbarsten Fortschritte gibt es bei der unabhängigen Meldestelle. Hier wird die katholische Kirche auf die Infrastruktur der staatlichen Opferhilfe zurückgreifen. In der Schweiz gewährt das Opferhilfegesetz seit 1993 jeder Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität beeinträchtigt worden ist, Anspruch auf Unterstützung.
Die Anlaufstellen stehen bereits heute Missbrauchsbetroffenen aus dem kirchlichen Umfeld zur Verfügung. Allerdings fehlt es dort an Fachkenntnissen zum kirchlichen Umfeld. Dieses will künftig die Kirche zur Verfügung stellen. Die Frage der Finanzierung soll in den nächsten Monaten gelöst werden.
Die anderen Massnahmen befinden sich auch acht Monate nach Ankündigung noch in der Konzeptionsphase. Künftige Kirchenangestellte sollen ein Assessment durchlaufen müssen. Unklar bleibt auch nach dem Mediengespräch, wer solche Assessments ausführen kann, ob die Ergebnisse aussagekräftig sind und was mit Personen geschieht, bei denen im Assessment Risiken erkannt werden.
Ähnlich sieht es bei der Führung der Personaldossiers aus. Eine Beraterfirma soll in den nächsten Monaten verbindliche Standards erarbeiten. Auch hier sind grundlegende Fragen ungeklärt. Zum Beispiel die, wie man Diözesen und staatskirchenrechtliche Körperschaften zu einheitlichen Standards verpflichten kann.
Kein Durchbruch beim Kirchengericht
Keine greifbaren Fortschritte gibt es bei der Errichtung eines nationalen kirchlichen Strafgerichts. Zwar unterstehen kirchliche Angestellte wie alle anderen Personen der staatlichen Gerichtsbarkeit. Darüber hinaus verfügt die katholische Kirche über ein eigenes Rechtssystem. Im Rahmen des Kirchenrechts können Kleriker und Ordensleute, die sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben, bestraft werden – zum Beispiel, indem man sie aus dem Kirchendienst entlässt.
Derzeit obliegt die Durchsetzung des Kirchenrechts den einzelnen Bistümern. Sowohl die Missbrauchsstudie als auch zahlreiche Skandale in den letzten Jahren haben gezeigt, dass das kirchliche Rechtssystem häufig versagt. Wie ein schweizerisches Kirchengericht aussehen wird, welche Kompetenzen es haben soll und ob der Vatikan seiner Errichtung zustimmen wird, ist weiterhin unklar.
Die Kirchenvertreter – es sind allesamt Männer – räumen ein, dass sie deutlich hinter dem eigenen Zeitplan zurückliegen. Als Begründung verweisen sie auf den Föderalismus und die knappen finanziellen Mittel auf nationaler Ebene. Allerdings sind beide Faktoren nicht erst seit dem 12. September bekannt, und entsprechend bleibt die Frage, warum man hier nicht besser vorgesorgt hat.
Krach zwischen Kirchenvertretern
Eine Erklärung für die vielen offenen Fragen dürften die internen Querelen zwischen den kirchlichen Dachorganisationen sein. Die ungewohnt scharfen Forderungen von staatskirchlicher Seite an die Bischöfe nach dem 12. September hatten zu Zerwürfnissen zwischen SBK und RKZ geführt. RKZ-Präsident Roland Loos wollte sich dazu nicht äussern. Es sei nicht zielführend, «immer wieder auf Spannungen und Probleme zurückzukommen».
Deutliche Worte in Richtung Bischöfe fand dafür die Betroffenenvertreterin Vreni Peterer. Sie sehe den guten Willen der Akteure, aber für die Opfer dränge die Zeit. Betroffene wendeten sich derzeit an die Forschenden der Universität Zürich und die Betroffenenorganisationen, weil sie sich von den Bischöfen oft nicht ernst genommen fühlten. «Die Bischöfe haben lange nicht erkannt, dass eine Not da ist», sagt Peterer. «Und ich bin mir nicht sicher, dass diese Erkenntnis jetzt bei allen da ist.»
Annalena Müller leitete zuletzt interimistisch die Redaktion von Kath.ch des Katholischen Medienzentrums in Zürich. Die Historikerin tritt Anfang Juli die Stelle als Chefredaktorin beim «Pfarrblatt» Bern an.