Das kommunistische Jugoslawien verklären viele auf dem Balkan zur kommoden Diktatur. Tito war die Inkarnation des Vielvölkerstaats. Für die Nationalisten hingegen bleibt er eine Hassfigur.
«Es ist verboten, Tito und sein Jugoslawien in guter Erinnerung zu behalten», sagt Robert Šplajt, Bürgermeister der Landgemeinde Kumrovec. Das Dorf Kumrovec, das weniger als 300 Einwohner hat, liegt eine gute Autostunde nordwestlich von der kroatischen Hauptstadt Zagreb. Bis zur Sutla, dem Grenzfluss zwischen Kroatien und Slowenien, sind es ein paar hundert Meter.
Einen grossen Teil von Kumrovec macht ein Freilichtmuseum aus. Den Besuchern führt es bäuerliche Lebensformen vergangener Zeiten vor Augen. 1892, zur Zeit der Habsburgermonarchie, kam in einem dieser Häuser ein Josip Broz zur Welt, das siebte von fünfzehn Kindern einer slowenischen Mutter und eines kroatischen Vaters. Um der Armut zu entgehen, verliess Josip Kumrovec mit fünfzehn. Er lernte Schlosser, wurde Wanderarbeiter und schliesslich Berufsrevolutionär.
Im Königreich Jugoslawien zwischen den Weltkriegen gelangte Josip Broz unter dem Decknamen Tito an die Spitze der illegalen Kommunistischen Partei. Als Marschall Tito triumphierte er im jugoslawischen Volksbefreiungskrieg über Hitlerdeutschland samt dessen Verbündeten und bot später auch seinem vorherigen Förderer Stalin die Stirn. Von nun an lenkte Tito die Geschicke Jugoslawiens, einer blockfreien Föderation gleichberechtigter Republiken, bis zu seinem Tod im Jahr 1980.
Eine Weltmarke
Von der Gaststätte «Kod Starog» («Beim Alten») schaut man auf Titos Geburtshaus und sein Denkmal. Im unabhängigen Kroatien flog das Denkmal schon einmal in die Luft, es wurde aber wieder aufgebaut. Eine Fotografie in der Gaststätte zeigt den Staatspräsidenten mit leutseliger Miene und Zigarre in der Linken, während er 1963 bei einer Stippvisite in Kumrovec mit zwei ehemaligen Nachbarn plaudert.
Einer ist Alojz Šplajt, der Grossvater des heutigen Bürgermeisters, ein Bauer, dem das karierte Hemd über die Hose fällt. «Tito hat ihn überrumpelt, als er gerade im Keller arbeitete», so rechtfertigt Šplajt dessen Outfit. Der Bürgermeister im tadellosen dunklen Anzug ist wie die meisten Dorfbewohner stolz auf Tito. Eine «Weltmarke», wie er es ausdrückt, mit der man in Kumrovec noch manches erreichen könne.
Ein paar verlassene Immobilien sollen mehr Besucher anlocken, etwa die Villa am Hang, in der Tito abzusteigen pflegte, oder das 14 000 Quadratmeter grosse Gebäude der ehemaligen politischen Schule des Bundes der Kommunisten, das kürzlich fast in die Hände eines chinesischen Unternehmens geriet. Ein Tito-Touristenzentrum wollten die Chinesen in der Parteischule aufziehen. Doch der Deal platzte, weil sich der chinesische Staat querstellte. Nun sucht man einen neuen Investor.
Ganz unzufrieden mit den Besucherzahlen ist der Bürgermeister aber auch so nicht. 2023 seien allein 30 000 Amerikaner angereist und über 100 000 Interessierte aus Ex-Jugoslawien, in erster Linie Slowenen, dazu Bosnier, Montenegriner und andere. Mit der Welt und mit dem Rest des ehemaligen Jugoslawien habe Kumrovec also kein Problem, so Šplajt, mit Kroatien hingegen schon. Denn die Kroaten, vor allem ihre national orientierte Regierungspartei, die HDZ (Kroatische Demokratische Gemeinschaft), brächten Tito vorzugsweise mit dem Kommunismus in Verbindung – und mit den Verbrechen, die seine Partisanen am Ende des Zweiten Weltkriegs an den faschistischen Ustascha verübt hätten.
Tito bremse heutzutage also auch die Entwicklung von Kumrovec, so Šplajt. Als Bürgermeister dürfe man ihn nicht zu oft erwähnen. Tito und sein Jugoslawien seien für die politische Klasse Kroatiens derart anrüchig, dass sogar Zoran Milanović, der derzeitige Staatspräsident aus den Reihen der postkommunistischen SDP (Sozialdemokratische Partei Kroatiens), Kumrovec meide, wenn Wahlen vor der Tür stünden, klagt der Bürgermeister. Hätte nur die Sutla einen etwas anderen Lauf genommen, so dass Kumrovec zu Slowenien gehörte, gäbe es für Titos Geburtsort ganz andere Entwicklungsmöglichkeiten.
Auch die Ethnologin Anita Paun-Gadža, die Leiterin des Freilichtmuseums Staro Selo (Altes Dorf), erlebt immer wieder, dass der weltberühmte Sohn des Ortes als Störfaktor angesehen wird. Viele kroatische Grundschulklassen besuchen Kumrovec, um sich über die bäuerlichen Traditionen ihres Landes zu informieren. Doch in Titos Geburtshaus, das Kernstück des Museums, lasse Paun-Gadža die Klassen nur mit ausdrücklichem Einverständnis ihrer Lehrer hinein. In der Vergangenheit hätten sich Eltern über den Rundgang durch das Tito-Haus beschwert, sie hätten politische Indoktrinierung gewittert.
Erinnerung an bessere Zeiten
Von derlei Tito-Verachtung ist im mittelbosnischen Jajce nichts zu spüren. In der malerischen Festungsstadt, in der im Mittelalter christliche bosnische Könige residierten, bis die Osmanen kamen, ist der Übervater des sozialistischen Jugoslawien ein ungebrochener Held. Wer will, kann im Traditionshotel «Stari Grad» vis-à-vis der Esma-Sultan-Moschee eine sogenannte Tito-Suite anmieten. In Jajce, zu jugoslawischen Zeiten auch ein Zentrum der Industrie, haben sich die im Bosnienkrieg der neunziger Jahre verfeindeten katholischen Kroaten und muslimischen Bosniaken halbwegs versöhnt. Die Älteren von ihnen sind sich auf jeden Fall in einer Frage einig: Unter Tito war es besser, mehr Sicherheit im Alltag, mehr Wohlstand – einfach Normalität.
«Ein idealer Staat war Titos Jugoslawien nicht», sagt Mirsad Duranović. Goli otok – eine Straflagerinsel für Titos Gegner nach dem Bruch Jugoslawiens mit Stalin und der Sowjetunion – lasse sich nicht rechtfertigen. Dennoch erinnert sich Duranović mit Wehmut an Jugoslawien. Er war zwölf, als Tito starb. Sofort hätten er und die anderen Jungs ihr Fussballspiel auf der Strasse abgebrochen und die Erwachsenen die Maschinen in den Fabriken gestoppt. Die Menschen hätten Tito respektiert, denn er habe ein erfolgreiches Modell des Zusammenlebens der Völker in Bosnien etabliert.
Duranović arbeitet heute als Kurator im Avnoj-Museum von Jajce. In dem Haus unter der Königsfestung an der Pliva legten 1943 die Delegierten des Avnoj, des Antifaschistischen Rats der nationalen Befreiung Jugoslawiens, die Grundlagen für ein Jugoslawien als Bund selbständiger Republiken – im Gegensatz zum Königreich Jugoslawien, das die serbische Machtelite von Belgrad aus dominiert hatte. Im grossen Saal des Museums hängt auch heute die Fahne Jugoslawiens hinter dem roten Bühnenvorhang. An den Wänden wird die Geschichte von Titos Partisanenbewegung erzählt, geordnet nach einzelnen Ländern und Regionen. Von einer Diktatur mit Führerkult wollen Duranović und die Besucher von nah und fern nichts hören.
Ein älteres Ehepaar in bosniakischer Volkstracht ist wie jedes Jahr nach Jajce gekommen, um das Avnoj-Museum zu besuchen und für dessen Erhalt zu spenden. «Ich bin ein ‹hadžija›, der nach Mekka gepilgert ist, ein Friedenstifter», erklärt der Ehemann. «Und ich hoffe, dass Allah, unser Gott, das ganze Volk schützt, egal welcher Religion. Denn das, womit wir es jetzt zu tun haben, ist ein Irrenhaus.»
Besonders bei den muslimischen Bewohnern Bosniens, die sich seit drei Jahrzehnten offiziell Bosniaken nennen, erfreut sich Tito bis heute grosser Beliebtheit. Das sozialistische Jugoslawien schikanierte zwar den Islam – wie alle Religionen. Doch den Muslimen billigte es in den sechziger Jahren den Status einer eigenen Nation zu und wertete sie damit enorm auf. Vorher waren Menschen aus muslimischen Familien gezwungen, sich national entweder als Serben oder als Kroaten zu bekennen.
Geborgen aus Mülltonnen
Eine halbe Autostunde südlich von Jajce liegt Bugojno. In den Kellern seines Wohnblocks hat Dragan Mučibabić rund 30 000 Exponate gestapelt: Schallplatten, Spielzeug, Geschirr, Teppiche, Gedenkmedaillen, Ansichtskarten, Radioapparate und anderes mehr. Viele Dinge dokumentieren Alltag und Politik im sozialistischen Jugoslawien.
Mučibabić hat schon etliche Ausstellungen veranstaltet. Im Münchner Jagd- und Fischereimuseum zeigte er vor einigen Jahren unter anderem den Bronzeabdruck der Tatzen eines von Josip Broz Tito in der Nähe von Bugojno erlegten Bären. Manches hat er aus den Mülltonnen einer kriegszerstörten Jagdresidenz von Tito im Wald bei Bugojno geborgen.
Eigentlich Maschinenbautechniker, hat er serbische und ungarische Vorfahren. Kindheit und Jugend verbrachte er vor allem in der Vojvodina. Zum Bosnier sei er durch seine Ehefrau aus Bugojno geworden. Unkritische Jugo-Nostalgie liegt ihm fern. Mit der Partei habe er nichts zu tun gehabt, habe aber das sozialistische Jugoslawien als junger Mann in den siebziger und achtziger Jahren einfach gemocht. Heute herrsche Gesetzlosigkeit, nutzten korrupte Nationalparteien der Kroaten, Serben und Bosniaken die desolate Lage ihres Staats für sich privat, während sie für die normalen Bürger ein Chaos hinterliessen.
Mučibabić ist es gelungen, einen kleinen Ausschnitt aus seiner Sammlung in die Öffentlichkeit zu bringen, nicht in Bugojno, sondern im herzegowinischen Mostar am Ufer der Neretva. Dort, unweit der berühmten Brücke aus dem 16. Jahrhundert, die 1993 von kroatischen Truppen zerstört und später mit internationaler Hilfe neu errichtet wurde, präsentiert das private Bosnaseum bosnische Geschichte für Besucher aus dem In- und Ausland. Urkunden, Kopfbedeckungen, Bücher und Fotos der Tito-Ära aus der Sammlung von Mučibabić füllen einen Raum. Mit den Gebühren für seine Leihgaben bessert der leidenschaftliche Sammler sein bescheidenes Einkommen auf.
Besonders für Touristengruppen aus dem Ausland ist Tito eine Attraktion. Unter den Einheimischen sind die Meinungen über ihn streng geteilt. Die Trennlinie verläuft zwischen dem grösstenteils bosniakischen Osten und dem überwiegend kroatischen Westen. Der Bosnienkrieg hat sie zementiert. Die Gebietshauptstadt der Herzegowina wird heute gemeinsam verwaltet. Mental scheint die Spaltung unüberwindbar.
«Schauen Sie, nach der Befreiung vom Faschismus 1945 waren 80 Prozent der Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina fast oder ganz und gar Analphabeten. Bereits 1949 hat man in Mostar das Nationaltheater gegründet. 1951 kam dann das Puppentheater, 1957 das Symphonieorchester», erzählt Sead Djulić, Bosniake und langjähriger Direktor des Theaters der Jugend von Mostar. Über die heutigen Politiker ist Djulić verbittert: «Das Theater wurde sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs errichtet. Bald dreissig Jahre nach dem letzten Krieg hat man es immer noch nicht geschafft, die Wände neu zu streichen.»
Im Westen Mostars führen Nationalkroaten das Wort, welche die Stadt und am liebsten die ganze Herzegowina der Republik Kroatien zusprächen. Ihnen ist das Erbe von Titos Jugoslawien gänzlich zuwider.
Geschändetes Mahnmal
Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als am Partisanenfriedhof. Einem Amphitheater gleich wurde dieses Grossdenkmal zu Beginn der sechziger Jahre an einem Hügel im Westen von Mostar vom weltbekannten Belgrader Architekten Bogdan Bogdanović entworfen. Die Nekropole für über 600 Partisanen aller Ethnien aus Mostar und Umgebung wird seit Jahren und Jahrzehnten immer wieder mutwillig beschädigt. Von den schmalen Grabplatten ist inzwischen nur noch ein Scherbenhaufen übrig. Die politische Verantwortung tragen die nationalkroatischen Politiker der Stadt, für die das Werk nur eine lästige Erinnerung an die Einheit und Brüderlichkeit der jugoslawischen Völker darstellt.
Der 2010 im Wiener Exil verstorbene Bogdanović war nicht nur Architekt und Denkmalbauer, sondern auch ein ziemlich liberaler jugoslawischer Kommunist. In den achtziger Jahren hat er als Bürgermeister von Belgrad amtiert, bis die reformorientierte Parteiführung der damaligen jugoslawischen Teilrepublik Serbien von den Nationalkommunisten um Slobodan Milošević in die Wüste geschickt wurde. Heute, unter der Präsidentschaft von Aleksandar Vučić, hat sich der faschistoide Nationalismus von Milošević in Serbien erneut verfestigt, während die marxistischen Lehren der Tito-Ära einem putinesken Mystizismus gewichen sind.
Für serbische Nationalisten verkörpert Titos Jugoslawien ein System, das ihnen die angestammten Rechte eines Staatsvolks raubte und ihnen sogar Kosovo abspenstig machte. Dennoch gibt es in Belgrad heute ein Museum, das ebenso unparteiisch wie umfassend über Tito und seinen Staat informiert: Das Museum Jugoslawiens zieht alljährlich über 100 000 Besucher nicht nur aus den jugoslawischen Nachfolgestaaten, sondern aus aller Welt in seinen Bann. Entstanden ist es durch die Zusammenlegung des sozialistischen Museums der Revolution mit dem Gedenkzentrum Josip Broz Tito, mit anderen Worten seiner Grabstätte.
Auch wenn die politisch Mächtigen alles andere als begeistert waren, duldeten sie den Zusammenschluss der beiden Häuser zum Museum Jugoslawiens, wie die langjährige Kuratorin Veselinka Kastratović Ristić erzählt. Im ehemaligen Museum der Revolution dokumentiert man heute den Volksbefreiungskrieg der jugoslawischen Völker im Zweiten Weltkrieg, die Konsumgüterproduktion unter sozialistischer Selbstverwaltung, aber auch die Geschlechterverhältnisse im Tito-Staat. Zu sehen sind zudem die vielen Geschenke, die Staatsmänner aus der ganzen Welt, aber auch «einfache» jugoslawische Bürger Tito einst überreichten.
Neue Zeit ohne Hass
Unter den Besuchern dominieren junge Menschen aus den Nachfolgestaaten. Sie wünschten sich, ist Kastratović Ristić überzeugt, kein Jugoslawien zurück, sondern einen Raum für kulturelle Zusammenarbeit und gesellschaftliches Miteinander ohne Rücksicht auf die engen Staatsgrenzen der Gegenwart. Ein neues Zeitalter ohne nationalistischen Hass, nur das sei es, was sie mitnehmen wollten – aus Titos Jugoslawien in die Zukunft.
Genau das ist einigen Politikern aus dem Freundeskreis des serbischen Staatspräsidenten Aleksandar Vučić allerdings ein Dorn im Auge. So kündigte der kommissarische Bürgermeister von Belgrad und ehemalige Wasserballnationalspieler Aleksandar Šapić unlängst an, er wolle Titos sterbliche Überreste aus dem Haus der Blumen entfernen lassen und an dessen Geburtsort Kumrovec überstellen. Titos Platz im Herzen Belgrads solle man serbischen Helden überlassen und das Museum Jugoslawiens in ein Museum der Geschichte Serbiens umwandeln. Nicht angebracht fand Šapić auch, dass man Slobodan Milošević, den Ex-Präsidenten Serbiens, nach seinem Tod 2006 in einer Zelle des Haager Kriegsverbrechertribunals «wie einen Kanarienvogel» im Garten seiner Familie verscharrt habe, statt ihm eine würdige letzte Ruhe zu bereiten.
Der Wunsch von Aleksandar Šapić nach einer Exhumierung Titos stiess auf vernehmbaren Widerspruch in Belgrad, während sich Politiker ausserhalb Serbiens entgegenkommend zeigten. Sarajevo sei stolz auf seine antifaschistische Vergangenheit, hiess es aus der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas, und eine Übernahme des toten Tito sei gern gesehen. In Kumrovec reagierte Bürgermeister Robert Šplajt beinahe enthusiastisch: Titos Grab in seinem Geburtsort könnte der kleinen kroatischen Gemeinde bis zu eine Million Besucher bescheren – Jahr für Jahr.