Wer die Vernunft hinter dem Morden im Nahen Osten verstehen will, muss in die Unmoral der Machtpolitik eintauchen.
In Nahost spiesst ein alter Witz die selbstmörderische Logik auf, welche diese fluchbeladene Region quält. Ein Skorpion bittet einen Frosch, ihn über den Jordan zu tragen. Der quakt: «Ich bin doch nicht verrückt, ich kenne euch. Du wirst mich auf dem Wasser zu Tode stechen.» – «Ach was, dann ersaufe ich doch mit dir.» – «Okay, spring auf.» In der Jordan-Mitte schlägt der Giftschwanz tatsächlich zu. Das Opfer gurgelt: «Jetzt stirbst du auch, du Idiot. Warum bloss?» Die lakonische Antwort: «Dies ist der Nahe Osten.»
Wieso mordete die Hamas 1200 Israeli, wenn sie wusste, dass die Vergeltung katastrophal ausfallen würde? Wieso schleuderte Iran 330 Bombenträger Richtung Israel, das Land mit der mächtigsten, atomar gerüsteten Armee?
Solche blutrünstigen Schachzüge können Europäer nicht verstehen. Nach Europas längster Friedenszeit passt das Dauergemetzel zwischen Levante und Golf nicht mehr ins Denkschema. Wir sind gezähmt und geläutert. Wir schachern, aber schiessen nicht. Deshalb können die Sinnstifter in Politik und Medien die bizarre Logik nicht knacken, die im Orient Gewalt und Gegengewalt antreibt.
Löse diesen Endloskonflikt, und Frieden wird sein. Tatsächlich hat kein arabischer Krieg gegen Israel mit palästinensischer Staatlichkeit zu tun. Den fünf arabischen Armeen, die pünktlich zu seiner Geburt in Israel einfielen, ging es nicht um Palästina, sondern um die Beute: Wer kriegt was und wie viel?
Ein ungeschriebenes Gesetz
Drei Kriege zwischen Ägypten und Israel (1956, 1967, 1973) waren klassische Duelle zwischen machtheischenden Staaten. Diverse Libanon-Kriege zwischen 1981 und 2006 wurden ebenfalls der Vorherrschaft wegen ausgefochten. Erst probierte es Syrien, jetzt tut es Iran mit seinem Stellvertreter Hizbullah. Israel attackierte regelmässig, um seinen Norden zu sichern. Der längste Krieg mit einer Million Opfer tobte von 1980 bis 1988 zwischen Muslimen: Irak und Iran. Der heimische Terror übertrifft den gegen Israel bei weitem.
Hamas und die iranischen Raketensalven gegen den jüdischen Staat brachen ein ungeschriebenes Gesetz: «Nie den anderen direkt auf seinem Territorium angreifen!» Denn das könnte den ganz grossen, nicht einhegbaren Krieg entfesseln.
Die Hamas-Mord-Orgie vom 7. Oktober mit 1200 israelischen Opfern ist so verrückt wie der Skorpion im Jordan, aber nicht blöd, auch wenn das Massaker die beste Nahostarmee entfesselte. Genau das wollten die Hamas und die iranische Regie. Das Kalkül? Die israelische Armee (IDF) würde in die tödliche Falle des Städtekrieges laufen. Im Tunneluntergrund würden ihr die Kassam-Brigaden auflauern, oben die Strassenminen und Raketen die Panzer knacken und ganz oben die Scharfschützen die Eindringlinge dezimieren.
Bald würde sich die IDF wie so oft wieder zurückziehen, die Hamas aus den Ruinen auferstehen und mit ausländischen Milliarden ihre Machtstruktur restaurieren. Israels Generalstab hätte Clausewitz lesen müssen: «Wer den ersten Schritt tut, muss den letzten bedenken.» Und den preussischen Generalfeldmarschall Moltke: «Kein Operationsplan reicht (. . .) über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus.»
Die Logik der Hamas
Dennoch hatte die Hamas den Gegner unterschätzt. Der kam diesmal gut vorbereitet. Zu Hause hatte die IDF in Gaza-ähnlichen Kulissen den Städtekampf geübt. Sie hatte den legendären Merkava-Panzer mit einem verlässlichen Schutzschild ausgerüstet. In den Tunneln spürten Roboter die Kämpfer im Hinterhalt auf; die Röhren wurden mit schnell gelierenden Chemikalien versiegelt. Israel kappte Strom und Internet; der Feind war nun blind und taub.
Ein taktischer Erfolg. Doch durchschauten selbst die Israeli die Logik von Hamas und Teheran nicht. So verlor die IDF die entscheidende politische Schlacht. Die Kassam-Brigaden hatten sich und ihre Waffenlager unter Wohnhäusern, Moscheen und Hospitälern versteckt, was diese laut der Genfer Konvention zu legitimen Zielen machte. Dass dabei Abertausende von Zivilisten umkamen, war Kern des Kalküls.
Auf den Bildschirmen waren die eigenen Leichen viel mehr wert als die der Israeli. Rasch verblassten die Bilder der 1200 massakrierten Geiseln. Rund um den Globus tobten Demonstrationen gegen den Judenstaat. Israel wurde von Südafrika vor den Internationalen Strafgerichtshof gezerrt. Rasch begann Joe Biden, einen Waffenstillstand zu fordern, der die Hamas retten würde.
Keinesfalls, so Washington, dürfe die IDF Rafah angreifen, die letzte Redoute der Hamas. Deren Führung musste sich in den Bunkern selber gratuliert haben: «Trotz unseren unzähligen Verlusten keine schlechte Bilanz. Bald wird Yahud (Jude) wie so oft wieder abziehen, dann fliessen die Aufbaumilliarden.»
Das kälteste Monster
Und der Blutzoll des eigenen Volkes? Wer diese Logik knacken will, muss in die amoralische Welt der Machtpolitik eintauchen. Keiner hat es besser formuliert als Nietzsche. In «Also sprach Zarathustra» schrieb er: «Der Staat ist das kälteste aller kalten Monster.» Welche Monster haben denn von der menschlichen Tragödie in Gaza profitiert?
Nicht Israel, das nach dem 7. Oktober nur kurz einen moralischen Vorteil geniessen durfte. Nicht Amerika, das hin und her pendelte, Israel mal munitionierte, mal züchtigte, ohne einen weltpolitischen Bonus herauszuschlagen. Die Gewinner waren die Hamas und Iran. Deren scheinbar wahnhafte Rechnung ging auf.
Mit Nietzsche zum nächsten Akt: Mullahkratie contra «Kleiner Satan» (der «Grosse» ist Amerika). Der Raketenhagel vom 13. April scheint die Skorpionsaga zu bestätigen. Die Iraner waren doch absolut verrückt, den Militärkoloss Israel herauszufordern. Alsbald meldeten die medialen Schnellschreiber das beschämende Versagen der Angreifer. Kaum ein Geschoss kam durch, und die wenigen richteten keinen Schaden an.
So weit, so richtig. Nur zeugt in Nahost jeder erste Akt zunächst verwirrende Bilder wie in einer klassischen Verwechslungskomödie. Was du siehst, ist nicht, was ist. Auf den ersten Blick geschah Wundersames, das kein Zuschauer erwartet hätte. Gegen den fürchterlichen Aggressor formierte sich eine scheinbar absonderliche Allianz.
Wenn Todfeinde zusammenspielen
Auf westlicher Seite fingen Amerikaner, Briten und Franzosen iranische Projektile ab. Doch absonderlich ging es auf der arabischen zu. Jordanien öffnete seinen Luftraum für deren Jets, gewiss auch für israelische. Ähnlich die Saudi und die Golfstaaten, die vor allem kritische Daten in Echtzeit lieferten. So konnte Centcom, die US-Befehlszentrale in Katar (Heimat der grössten US-Basis im Ausland), die hochkomplexe Abwehrchoreografie meistern.
Weitaus bizarrer war das Verhalten der Iraner. Die hatten den «Überraschungsangriff» angekündigt und alle Drohungen gegen die arabischen Mächte vermieden. Sodann das Absurde hoch zwei: Der «Grosse Satan» koordinierte sich mit Iran, der Deal lautete: keine Attacken gegen Zivilisten. Die arabischen Medien, die sogar über ein Zusammenspiel Israel-Iran spekulierten. Und alles in Echtzeit, was auf gezielte Informationen schliessen lässt. Jerusalem wusste ebenfalls Bescheid – bis hin zu den Uhrzeiten.
Eine Charade, wie so manche Verschwörungstheoretiker phantasierten, war die Aufführung nicht. Aber doch ein widersinniges Zusammenspiel von Todfeinden, um einen massiven Gegenschlag Israels zu unterdrücken. Die westlichen wie die arabischen und iranischen Akteure wussten, was passieren würde und was nicht. So möchte jeder Verteidiger in den Krieg gehen, gut gebrieft und gewappnet.
Schliesslich die Überraschung. Seit Jahren hatte Amerika ein integriertes Flugabwehrbündnis geschaffen, wie nun bekannt wurde. Der iranische Raketenangriff war nicht so idiotisch wie der zustechende Skorpion, sondern im Militärjargon kühles «strategic signaling». «Strategisches Signalisieren» auch aufseiten Israels: Vorerst nur eine Rakete Richtung Isfahan, aber die Botschaft war klar. Isfahan ist ein Zentrum der Atomrüstung, und wir können auch mehr und wissen, wo es weh tut.
Die Moral von der Geschichte? Erstens: Hinter Irans mörderischer Rhetorik steht ein rationaler Akteur, der Risiken und Kosten auslotet. Zweitens signalisierte Jerusalem mit einem deeskalatorischen Schritt: Wir können euer Land in ein paar Stunden platt machen, aber tun es nicht. Deshalb funktionieren Abwehr und Abschreckung auch gegenüber Skorpionen.
Vernunft, nicht Wohlwollen
Der alte Witz hat eine neue Pointe. Diese Variante erzählt man sich seit 1981, als Israels Premier Menachem Begin den irakischen Atomreaktor Osirak zerschlagen liess. Begins Gesicht ähnelte dem eines Frosches, und diesmal gab es ein Happy End. Auf der anderen Seite bedankte der Skorpion sich höflich. «Die Sache geht doch immer tödlich aus», wunderte sich der verblüffte Frosch. «Na ja, wir haben gelernt und wollen endlich Frieden.» Kurze Pause. «Ausserdem: Wer würde denn einen stechen, der aussieht wie Begin?»
Die aufgefrischte Pointe suggeriert: Abschreckung verhindert Apokalypse. Das ist das Beste, was man derzeit über Nahost sagen kann. Der Gegenschlag der Israeli dürfte bedacht und begrenzt sein – nicht weil Wohlwollen, sondern Rationalität regiert. Wird deshalb Frieden ausbrechen? Teheran wird weiter Stellvertreterkriege gegen den kleinen und grossen Satan führen, weil es beide vom Schachbrett kegeln will. Hamas bleibt eine leicht entzündbare Wunde. Weiser als bisher wird Israels Rechtsaussen-Koalition im Westjordanland nicht agieren, auch wenn sich das Land nun sicherer fühlen dürfte.
Also im Nahen Osten nichts Neues? Immerhin hat sich eine Status-quo-Allianz formiert, die nicht zu verachten ist. Wenn sie denn verlässlich bleibt in diesem strategischen Scharnier, das Europa, Asien und Afrika verbindet. Seit Jahrtausenden hat sich hier Eirene, die griechische Friedensgöttin, nur zeitweise gegen den Kriegsgott Ares durchgesetzt.
Josef Joffe ist Distinguished Fellow in Stanford und lehrt Internationale und Sicherheitspolitik.