Der Entscheid des Gerichts ist ein Rückschlag für den jüdischen Staat. Denn die Richter kommen zu dem Schluss, dass Israel mit seinem Vorgehen im Gaza-Krieg zumindest teilweise gegen die Genozidkonvention verstossen könnte.
Als die Richter des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag am Freitag um 13 Uhr ihre Plätze einnahmen, hatten sich vor dem Gerichtsgebäude bereits Hunderte von Menschen versammelt, die euphorisch Palästina-Flaggen schwenkten. Sie waren in der Hoffnung gekommen, dass das Gericht einen sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen anordnen würde, wie dies Südafrika in seiner Klage gefordert hatte. Darin wird Israel beschuldigt, in Gaza einen Genozid zu verüben. Israel hingegen hatte verlangt, die Klage zurückzuweisen.
Beiden Forderungen erteilte das Gericht eine Absage. Vielmehr haben sich die Richter für einen Mittelweg entschieden und mehrere vorläufige Massnahmen erlassen. Israel müsse alle in seiner Macht stehenden Massnahmen ergreifen, um Handlungen zu verhindern, die unter die Völkermordkonvention fallen könnten, verkündete die Gerichtspräsidentin Joan Donoghue.
Weiter müsse Israel die Versorgung der Bevölkerung in Gaza mit humanitärer Hilfe sicherstellen sowie die öffentliche Anstachelung zum Völkermord verhindern und bestrafen. Israel solle zudem innerhalb eines Monats einen Bericht über alle Massnahmen vorlegen, die als Reaktion auf diese Anordnung getroffen worden seien.
Netanyahu: «Ein Zeichen der Schande»
Der Entscheid vom Freitag hält in keiner Weise fest, dass Israel bei seinem Vorgehen einen Völkermord verübt – solche Verfahren nehmen in der Regel Jahre in Anspruch. Die Richter kamen jedoch zu dem Schluss, dass zumindest einige der von Südafrika im Rahmen der Völkermordkonvention geltend gemachten Argumente plausibel seien. Damit seien auch die Bedingungen erfüllt, um vorläufige Massnahmen zu verhängen. Das Gericht kann diese beschliessen, um bereits vor einem endgültigen Urteil eine Verschlimmerung der Situation zu vermeiden.
Obwohl die verhängten Massnahmen rechtlich bindend sind, hat das Gericht keine Mittel, sie durchzusetzen. Theoretisch könnte zwar der Uno-Sicherheitsrat im Zusammenhang mit dem Entscheid Sanktionen gegen Israel verhängen. Weil aber die USA in dem Gremium ein Vetorecht haben, gilt dies als ausgeschlossen. Dennoch ist der Entscheid ein Rückschlag für Israel. Er gibt den Genozidvorwürfen ein gewisses Gewicht, was eine politische Isolierung Israels oder Boykottmassnahmen nach sich ziehen könnte.
Dementsprechend sprach Südafrika von einem entscheidenden Sieg. Das palästinensische Aussenministerium nannte den Entscheid eine Mahnung, dass kein Staat über dem Recht stehe. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu begrüsste zwar, dass das Gericht die «unverschämte Forderung» nach einem Waffenstillstand zurückgewiesen habe. Er fügte aber hinzu: «Die Behauptung, dass Israel einen Völkermord an den Palästinensern begehe, ist nicht nur falsch, sondern ungeheuerlich, und die Bereitschaft des Gerichts, darüber überhaupt zu diskutieren, ist ein Zeichen der Schande.» Israel werde den Krieg bis zum «absoluten Sieg» fortsetzen.
Der Vorwurf ist schwer nachweisbar
Südafrikas Manöver, Israel politisch und juristisch unter Druck zu setzen, ist damit teilweise aufgegangen. Pretoria, das enge Beziehungen zu den Palästinensern pflegt, hat Israel mit seiner Klage den Verdacht angeheftet, das «Verbrechen aller Verbrechen» zu begehen. Der schwerwiegende Vorwurf ist allerdings rechtlich schwer nachzuweisen. Denn der Völkermord-Begriff umfasst nicht nur bestimmte Handlungen wie die Tötung von Zivilisten, sondern setzt auch voraus, dass sie in der Absicht begangen werden, «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten».
Genozid sei ein extrem heikler Straftatbestand, sagt Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich. Er sei grundsätzlich zugeschnitten auf den Fall einer Vernichtungsabsicht wie beim Holocaust – nicht auf Verbrechen in einem eskalierenden Territorialkonflikt. In Territorialkonflikten gehe es tendenziell um Kriegsverbrechen, allenfalls um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die drei Verbrechen stünden rein rechtlich auf der gleichen Stufe.
«Der Vorwurf des Genozids garantiert aber als einziger maximale Aufmerksamkeit, weil der Begriff eine solche Wirkungsmacht entwickelt hat», sagt Diggelmann. Und weil die Schwelle für die Gutheissung vorsorglicher Massnahmen tiefer sei als für eine Gutheissung der Klage, sei ein vorläufiger Erfolg auch möglich, wenn sie später abgewiesen werde. «Man muss nur plausibel machen, dass das Gericht zuständig sein könnte – und durch die Konvention geschützte Rechte allenfalls unwiederbringlich verletzt sein könnten. Die reale Möglichkeit genügt.»
Diggelmann beobachtet eine Tendenz zu mehr vorsorglichen Massnahmen, wie sie das Gericht am Freitag verhängt hat. «Sie sind nicht zuletzt deshalb populär geworden, weil es einfacher ist, rasch öffentlichkeitswirksame Teilerfolge zu erzielen», sagt Diggelmann.
Hamas-Strategie wird nicht erwähnt
Südafrika hatte seine Klage Ende Dezember in Den Haag eingereicht. Bereits am 11. und 12. Januar fand eine Anhörung statt, bei der Südafrika seine Klage präsentierte. Die Anwälte warfen Israel vor, wahllose Massaker an der Zivilbevölkerung zu begehen. Israel setze die Palästinenser bewusst Hunger und Krankheiten aus und enthalte ihnen medizinische Behandlung vor. Die Kläger versuchten ausserdem, eine genozidäre Absicht Israels nachzuweisen. Dazu präsentierten sie mehr als 50 Äusserungen von israelischen Politikern, Beamten und Armeeangehörigen. So hatte ein Parlamentarier von der «Auslöschung Gazas vom Antlitz der Erde» gesprochen.
Israel, das sich einen Tag später in Den Haag verteidigte, stellte die Äusserungen als wahllose Zitate dar, die nicht mit der Politik der Regierung konform seien. Um dies zu bekräftigen, hat Israel laut einem Bericht der «New York Times» dem Gericht mehr als 30 geheime Anordnungen zur Verfügung gestellt, welche die Bemühungen der israelischen Regierung und der Armee zeigen sollen, die Zahl der zivilen Todesopfer zu verringern. So habe Netanyahu in einem Treffen vom 18. November die «absolute Notwendigkeit» von humanitären Hilfslieferungen betont.
Die israelischen Anwälte argumentierten weiter, dass die hohe Zahl der zivilen Opfer nicht zuletzt auf die Strategie der Hamas zurückzuführen sei, Wohnhäuser, Moscheen, Schulen und Spitäler für ihren bewaffneten Kampf und die Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. All diese Umstände finden in der Klage Südafrikas keine Erwähnung. Im Gegensatz zur Hamas beachte Israel sehr wohl die Regeln des Völkerrechts, sagten die Verteidiger. Das israelische Aussenministerium äusserte zudem scharfe Kritik an Südafrika. Dieses agiere mit seiner Klage als «legaler Arm der Hamas».
Dennoch hat die Klage bereits Auswirkungen in Israel. Wenige Tage vor der Anhörung kündigte Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara an, dass sie Äusserungen hochrangiger israelischer Beamter aus den letzten Wochen prüfen werde, in denen diese dazu aufgerufen hatten, Zivilisten im Gazastreifen Leid zuzufügen. Insgesamt dürfte sich Israel nach dem Entscheid vom Freitag auf den Standpunkt stellen, dass es die Forderungen des Gerichts bereits erfülle. Ein Sprecher des Aussenministeriums hielt fest, Israel sei der Einhaltung des Völkerrechts weiterhin verpflichtet und dies habe nichts mit dem Gerichtsverfahren zu tun.