Mögliche kriegerische Entwicklungen in Taiwan und Korea rufen ein apokalyptisches Bild hervor. Das weckt nun Widerstand, der den schlimmsten Szenarien viel von ihrer Unausweichlichkeit nimmt.
Taiwan und Südkorea haben ein vergleichbares Problem: Die Insel Taiwan, die sich seit der Abspaltung von Maos China als «Republic of China» bezeichnet, sieht sich seit Jahren mit Festlandchinas Drohung konfrontiert, zwangsweise in die Volksrepublik integriert zu werden, in jüngster Zeit zunehmend unter Androhung von militärischer Gewalt.
Auf der koreanischen Halbinsel sieht sich Südkorea, völkerrechtlich anerkannt als «Republic of Korea, ROK», seit Jahrzehnten einer ständig wachsenden Aggressionsbedrohung durch Nordkorea ausgesetzt. Der Norden, völkerrechtlich als «Democratic People’s Republic of Korea, DPRK» anerkannt, hat sich unter Missachtung aller internationalen Normen ein beängstigendes Nukleararsenal angeschafft und entwickelt und testet nahezu ununterbrochen ballistische Trägersysteme.
Demokratische und rechtsstaatliche Staaten
Beide, Taiwan und Südkorea, leben in unmittelbarer Nachbarschaft eines gefährlichen Nachbarn, beide geniessen einen gewissen politischen und militärischen Schutz durch die USA. Und beide haben sich in beeindruckender Weise von ehemals autokratischen Regierungssystemen zu demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Staaten entwickelt, Taiwan ohne völkerrechtlich legitimierte Souveränität, aber mit einem hohen Mass an Autonomie, Südkorea als souveräner Staat und Mitglied der Vereinten Nationen und darüber hinaus als geachtetes und aktives Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft. Damit geniessen sie neben dem strategisch begründeten politischen und militärischen Schutz durch die USA auch über einen hohen moralischen Anspruch, als bedrohte Länder nicht ihrem Schicksal überlassen zu werden.
Sowohl Taiwan als auch Südkorea haben in wenigen Jahrzehnten eine beeindruckende wirtschaftliche Erfolgsgeschichte geschrieben, die sie heute zu führenden Wirtschaftsmittelmächten gemacht hat. Zunehmend auf der Basis von Hochtechnologieforschung haben beide Länder äusserst erfolgreiche Exportindustrien entwickelt. Taiwan ist weltweit führend in der Forschung, Entwicklung und Produktion von Halbleitern, dem Herzstück aller IT-Industrien. Beide Länder stehen jedoch aufgrund ihrer Geschichte und Nachbarschaft im Zentrum eines Konfliktpotenzials, das, wenn es ausbricht, die Weltordnung und die Welt verändern wird.
China vs. Taiwan
China droht mit der militärischen Einnahme Taiwans; der chinesische Parteichef Xi Jinping hat die Rückführung zu seinem persönlichen Ziel gemacht. Die Verwirklichung dieses strategischen Ziels stellt die grösste Bedrohung für den Weltfrieden dar. Ein Krieg um Taiwan könnte den Dritten Weltkrieg auslösen. Die militärische Eroberung der Insel wäre zwar eine sehr schwierige Operation, zu der das chinesische Militär nach weitgehend einhelliger Expertenmeinung heute noch nicht in der Lage wäre. Der massive Auf- und Ausbau der militärischen Mittel Chinas zielt jedoch darauf ab, die für eine Invasion notwendigen Mittel bereitzustellen.
Abgesehen von den mit jedem Krieg verbundenen Opfern und Zerstörungen auf allen Seiten und anderen Unwägbarkeiten würde China eine weltweit führende Position bei der Entwicklung von Halbleitern einnehmen. Bereits feindselige chinesische Handlungen wie Seeblockaden würden die Schifffahrt in der Strasse von Taiwan und damit zahlreiche Lieferketten im Welthandel beeinträchtigen.
Es ist auch zu erwarten, dass – ähnlich wie bei Wladimir Putins Krieg in der Ukraine – Chinas regionale Expansion nicht mit der Unterwerfung Taiwans endet, sondern sich auf Südostasien und Teile des Pazifiks ausdehnt. In einem weitreichenden Szenario wäre China damit langfristig in der Lage, die USA als Verfechter westlicher Werte zunehmend aus der Rolle des globalen Hegemons zu verdrängen und die regelbasierte Weltordnung durch ein System von Autokratien und das Herrschaftsprinzip von Macht- und Einflusszonen zu ersetzen.
Der freie Welthandel als Ausdruck liberaler Freiheit würde zunehmend eingeschränkt und internationale Ansprüche aus grenzüberschreitenden Investitionen hinfällig. Das Herrschaftsprinzip der Kommunistischen Partei Chinas wäre nicht mehr auf China beschränkt, sondern würde im Zuge der wirtschaftlichen und politischen Expansion Einfluss auf die Grundzüge der Weltordnung nehmen.
Das ist gewiss ein apokalyptisches Bild, das sich nur verwirklichen würde, solange die erkennbaren Strategien nicht auf Widerstand stossen.
Kim (und China) vs. Korea
Auch die Lage auf der koreanischen Halbinsel hat das Potenzial, einen katastrophalen überregionalen Krieg auszulösen, wenn nicht sogar zusammen mit einem Konflikt um Taiwan zu einem eigentlichen «Weltenbrand» zusammenzuwachsen. Wie Taiwan wird auch Südkorea von einem nuklear bewaffneten Gegner bedroht.
Nordkorea unter Diktator Kim Jong Un ist – vielleicht im Gegensatz zu China – völlig unberechenbar, auch weil das strategische Endziel seines Führers nicht sinnvoll erklärt werden kann. In Abkehr vom jahrzehntelangen Ziel seines Vaters und Grossvaters, die seit 1953 geteilte Nation der Koreaner unter der stalinistischen Führung des Nordens zu vereinigen, hat Kim Jong Un, der dritte in der stalinistischen Dynastie, Ende 2023 erklärt, dass die beiden Koreas nicht mehr verwandt und nicht mehr homogen, sondern Feinde seien.
Damit ist für Kim, zumindest in seiner Rhetorik, ein Krieg unausweichlich geworden. Da in diesem Konflikt mit einem noch früheren Einsatz von Nuklearwaffen zu rechnen wäre, müsste auch mit einem nuklearen Gegenschlag der USA gerechnet werden. Das kaum anders denkbare Ergebnis wäre die völlige Vernichtung beider Staaten auf der koreanischen Halbinsel und eine kaum vorstellbare Zerstörung der Grossregion und noch weniger vorstellbare Auswirkungen auf die Ordnung nicht nur im asiatisch-pazifischen Raum. Auch diese Entwicklung evoziert ein apokalyptisches Bild, solange der Widerstand gegen solche Szenarien nicht berücksichtigt wird.
Inwieweit sich die nordkoreanische Führung von der Gegenschlagskapazität der USA gegen ein nuklear angegriffenes Südkorea beeindrucken lässt, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass Kim Jong Uns Staat auch in Friedenszeiten nicht ohne die wirtschaftliche Unterstützung und politische Rückendeckung Chinas überleben kann. Die chinesische Führung sichert das Überleben Nordkoreas ausschliesslich zur Aufrechterhaltung eines sicherheitspolitisch motivierten Pufferstaates an seiner Nordostgrenze.
Ein Verzicht auf die Unterstützung des für Peking kostspieligen und teilweise auch unberechenbaren Regimes in Pjöngjang hiesse, im Falle eines Zusammenbruchs der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK) ein strategisches Vakuum zuzulassen, das in der Analyse chinesischer Strategen unweigerlich von den USA gefüllt würde. Und den Erzfeind Amerika an den eigenen territorialen Grenzen zu haben, ist das Letzte, was das chinesische Sicherheitsdenken zulässt.
Der Widerstand
Die massive Aufrüstung in China und Nordkorea, begleitet von einer Rhetorik, die strategische Absichten nicht mehr verbirgt, hat nun aber Gegenreaktionen ausgelöst, die den beschriebenen Szenarien viel von ihrer Unausweichlichkeit nehmen.
Die Zusagen der USA, Beistand zu leisten, unter anderem gegenüber Taiwan, Südkorea und auch Japan, sind in jüngster Zeit nicht nur bekräftigt, sondern deutlich verstärkt worden. Dies gilt nach einem Gipfeltreffen von US-Präsident Joe Biden mit dem philippinischen Präsidenten Ferdinand Marcos in Washington auch bilateral für die Philippinen, wo ja seit dem Zweiten Weltkrieg amerikanische Truppenverbände stationiert sind.
Darüber hinaus entwickeln sich aus ursprünglich bilateralen Engagements multilaterale Netzwerke und zunehmend auch Allianzen, die sich explizit gegen die chinesische Expansion im Grossraum Indopazifik richten. Ein strategischer Rahmen ist der seit einiger Zeit etablierte Quad («Quadrilateral Security Dialogue»), der Japan, die USA und Australien mit Indien verbindet.
Der Verteidigungspakt AUKUS der traditionellen angelsächsischen «Waffenbrüder» Australien, UK und USA denkt über eine Erweiterung um Japan nach. Darüber hinaus verstärken sich die Absprachen zur Abwehr chinesischer Machtansprüche in der Südchinesischen See mit zahlreichen potenziellen oder tatsächlichen Opfern chinesischer Herrschaftsansprüche. Dies geht einher mit einer massiven Erhöhung der Rüstungsanstrengungen und Verteidigungsbudgets in allen Ländern dieser sich ausweitenden Netzwerke.
Die Zukunft muss also nicht so kommen, wie es die düstersten Szenarien befürchten lassen. Sie bleibt gestaltbar. Für Schweizer Exportunternehmen und Investoren kann die Schlussfolgerung deshalb nicht lauten, in Zukunft auf wirtschaftliche Aktivitäten im asiatisch-pazifischen Raum zu verzichten. Aber angesichts der drohenden Konflikte wird die geopolitische «Due Diligence», die jeder kommerziellen «Due Diligence» vorausgehen muss, zur unverzichtbaren Daueraufgabe jeder Unternehmensführung.
Das ist der zweite Teil einer vierteiligen Serie, in der die beiden ehemaligen Botschafter der Schweiz Daniel Woker und Philippe Welti von Share-an-Ambassador aufzeigen, wie sich der geopolitische Horizont im Grossraum Asien-Pazifik verdunkelt und die wirtschaftlichen Risiken steigen. Den ersten Teil zu China unter Xi Jinping finden Sie hier.
Philippe Welti
Meere und Märkte: Geopolitik 2.0 als Schlüssel zur weltpolitischen Aktualität