Justizminister Jans droht ein Gesichtsverlust.
Die Rechtskommission des Ständerats hat am Dienstag ein bemerkenswertes Ausrufezeichen gesetzt. Mit 10 zu 3 Stimmen hat die Kommission ihrem Rat eine Erklärung beantragt, die in der anstehenden Sommersession im Plenum diskutiert wird. Darin wird der Bundesrat aufgefordert, dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht Folge zu leisten. Durch die «bisherigen und laufenden klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz» seien die im Urteil beanstandeten Anforderungen bereits erfüllt.
Der EGMR hat im April die Schweiz verurteilt, weil sie angeblich zu wenig gegen die Erderwärmung unternimmt. Darunter litten vor allem ältere Schweizerinnen. Das Urteil zugunsten des Vereins Klimaseniorinnen sorgte weltweit für Aufsehen. In der Schweiz wurden Stimmen bis weit in die bürgerliche Mitte laut, aus der Europäischen Menschenrechtskonvention auszutreten. So weit will die Rechtskommission des Ständerats indes nicht gehen – im Gegenteil. Man nehme den Gerichtshof ernst, nicht aber deren «gerichtlicher Aktivismus», hält die Kommission fest.
In der Erklärung wird vom Bundesrat nun verlangt, dem Ministerkomitee des Europarats gegenüber klare Kante zu zeigen. Die Schweizer Landesregierung soll dem Gremium, das die Einhaltung des Urteils überwacht, erklären, dass die Schweiz bereits genug mache in der Klimapolitik.
So habe die Stimmbevölkerung etwa das Netto-Null-Ziel bis 2050 und entsprechende Zwischenziele mit dem Ja zum Klimagesetz im letzten Jahr festgelegt. Erst im März habe das Parlament das CO2-Gesetz angenommen. Zudem habe die Schweiz ihre völkerrechtlich verbindlichen Klima-Verpflichtungen immer eingehalten – «insbesondere jene gemäss Kyoto-Protokoll».
Jositsch und die bürgerliche Mehrheit
Falls die Erklärung vom Ständerat angenommen wird, dürfte vor allem der Justizminister Beat Jans in die Bredouille geraten. Der SP-Bundesrat zeigte sich regelrecht entzückt über das Urteil aus Strassburg. Dieses sei im Interesse der Bürger, liess er damals verlauten. Die Juristen in der ständerätlichen Rechtskommission sehen das indes komplett anders. Allen voran deren Präsident Daniel Jositsch, der anstelle von Jans gerne Bundesrat geworden wäre. Die Kommission sei grossmehrheitlich der Meinung, dass der EGMR seinen Handlungsspielraum weit «überdehne», so Jositsch im Anschluss der Kommissionssitzung. Man verlange vom EGMR, dass er die «demokratischen Prozesse der Vertragsstaaten» achte. Mit Jositsch, den bürgerlichen Mitte-Ständeräten sowie denjenigen von FDP und SVP hat die Erklärung gute Chancen, auch im Plenum eine Mehrheit zu finden.
Jans droht ein Gesichtsverlust, wenn sich auch im Bundesrat die bürgerliche Mehrheit dazu entschliesst, eine allfällige Erklärung aus dem Ständerat zu Herzen zu nehmen. Erste Anzeichen dazu gibt es bereits. So liess Klimaminister Albert Rösti, der andere vom Urteil direkt betroffene Bundesrat, bereits durchblicken, dass er erst gar nicht daran denkt, mehr als gerade nötig auf die Forderungen des Urteils einzugehen. Erste Analysen zeigten, dass es «kaum Korrekturen» brauche, sagte Rösti in einem Interview mit der NZZ. Der Bundesrat müsse nun die Frage diskutieren, wie die direktdemokratischen Entscheide der Bevölkerung mit dem Urteil aus Strassburg zu vereinbaren seien.
So rügen die EGMR-Richter nicht nur die angeblich fehlenden Massnahmen, sondern indirekt auch das klimapolitische Vorgehen der Schweiz. «Angesichts der grossen Dringlichkeit des Klimawandels» habe das Gericht Mühe damit, der Schweiz zu glauben, dass sie denn auch genügend mache, obschon die Ziele, aber eben nicht die Massnahmen gesetzlich verankert seien. So steht es in einem Papier der Anwältin, die die Klimaseniorinnen gegen die Schweiz vertreten hat. Im Vorfeld der Sommersession hat sie eine vereinfachte Zusammenfassung des Urteils den Parlamentariern zukommen lassen. Die emotionale Debatte geht in eine weitere Runde.