Ein feuchtes Frühjahr, heftiger Gewitterregen und eine grosse Menge verfügbares Gestein machten den heftigen Erdrutsch möglich. Jetzt steht die Gefahrenkarte auf dem Prüfstand.
Massen von Schutt, mannshohe Steinbrocken und grauer Schlamm bedecken den Weiler Sorte bei Lostallo im bündnerischen Misox. Eine mächtige Gerölllawine ist am vergangenen Freitag in die Ortschaft vorgedrungen und hat mehrere Gebäude unter sich begraben. Mindestens eine Person ist ums Leben gekommen, zwei weitere werden noch vermisst.
Eine genaue wissenschaftliche Analyse des Murgangs von Sorte steht noch aus. Klar ist: Mit einer so extremen Gerölllawine hat niemand gerechnet.
Innerhalb von fünfzehn Minuten strömte das Geröll ins Tal hinunter
Der Murgang von Sorte ist im Val de la Molera auf der Westseite des Misoxtals entstanden. Starker Gewitterregen spülte grosse Mengen von Schutt und Geröll aus dem Bett des kleines Bergbaches Riale Molera hinunter ins Tal.
Der Murgangspezialist Christian Tognacca vom Ingenieurbüro für Flussbau und Naturgefahren «beffa tognacca» in Claro, Tessin, spricht von einer Kettenreaktion. Der viele Regen habe schon weit oben, kurz unterhalb der Bergkämme, erste Steine gelöst. Das Gemisch aus Wasser und mitgerissenen Steinen habe dann auf dem Weg ins Tal mehr und mehr Wucht bekommen und immer mehr Material mitgerissen. Innerhalb von fünfzehn Minuten kam die Gerölllawine in Sorte an.
Die Regenfälle der letzten Tage waren aussergewöhnlich stark. An der Messstation Grono registrierte Meteo Schweiz schon am Freitagvormittag 40 Liter Regen pro Quadratmeter, am Freitagnachmittag wurde es dann noch heftiger: In nur 60 Minuten wurden 64 Liter Regen pro Quadratmeter gemessen.
Laut Meteo Schweiz handelt es sich damit um ein Wetterereignis, das sich im Durchschnitt nur alle zwanzig bis dreissig Jahre wiederholt. Im höher gelegenen Val de la Molera können die Regenfälle sogar noch stärker gewesen sein, dann wäre das Ereignis noch seltener.
Man müsse ausserdem die Vorgeschichte bedenken, sagt Christian Tognacca. Das Frühjahr sei sehr feucht gewesen, die Böden bereits vor den Starkregenfällen mit Wasser gesättigt. Das Tal, über das sich das Einzugsgebiet des Baches erstreckt, ist recht gross. So konnte sich infolge der heftigen Gewitter schnell eine grosse Menge Wasser sammeln.
Das Geröll hatte sich über Jahrhunderte angesammelt
Laut dem Geologen Simon Löw, emeritierter Professor der ETH Zürich, standen die von der Gerölllawine begrabenen Häuser an einer Stelle, an der über Jahrtausende durch Murgänge immer wieder Schutt aus dem Seitental angehäuft worden war.
Der Bergbach verläuft normalerweise in einem kleinen Kanal nördlich um den Weiler Sorte herum. Dort gibt es sogar ein kleines Rückhaltebecken für Schutt. Doch am Freitag haben die Wasser- und Geröllmassen den Kanal verlassen und sich einen direkten Weg ins Tal und zum Fluss Moesa gebahnt und dabei Häuser beschädigt und Menschen mitgerissen. «Der Kanal war wahrscheinlich viel zu klein für das Ereignis», sagt Löw.
Dass so viel Gestein im Bachbett lag, das vom Wasser mitgerissen wurde, ist für die Region eigentlich ungewöhnlich. Denn die Böden bestehen grösstenteils aus Steinen, die nur langsam verwittern und bröckeln. Das Material, das sich durch den Murgang gelöst hat, hat sich nach Einschätzung von Löw wahrscheinlich über Jahrhunderte im Bachbett angesammelt.
Durch die heftigen Niederschläge wurde das gesamte Material auf einen Schlag ins Tal verfrachtet.
Die Gefahr eines Murgangs wurde unterschätzt
Um Tragödien wie die im Misox zu verhindern, werden sogenannte Gefahrenkarten erstellt. Sie sollen zeigen, wo das Risiko für Naturgefahren wie Murgänge, Überschwemmungen oder Erdrutsche besonders gross ist. Wo die Gefahr hoch ist, darf nicht gebaut werden. In Regionen mittlerer Gefahrenstufe müssen besondere Massnahmen zum Schutz von Gebäuden ergriffen werden.
Doch schaut man sich die Gefahrenkarte für das Dorf Sorte an, so sieht man: In einem Grossteil des von dem Desaster betroffenen Gebiets war nicht mit einem Murgang gerechnet worden. Lediglich ein geringe Gefährdung für Überschwemmungen ist verzeichnet.
In die Vorhersage von Murgängen fliessen viele Informationen ein: ob es bereits in der Vergangenheit Naturereignisse wie Murgänge oder Bergstürze in der Region gab, wie viel loses Material vorliegt, das mitgerissen werden könnte, wie steil das Gelände ist – das alles sind Faktoren.
Auf Basis dieser Informationen werden Szenarien entwickelt. Was würde beispielsweise passieren, wenn es hier einen Bergsturz gäbe? Wo könnte bei extremem Regen der Boden instabil werden, und wie viel Gestein könnte dann ins Tal rollen? Für diese Szenarien werden Wahrscheinlichkeiten errechnet. Erscheint ein gefährliches Szenario wahrscheinlich, wird eine Gefahrenstufe vergeben, und es werden Massnahmen ergriffen.
Christoph Graf, der sich an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft mit der Analyse und Simulation von Murgängen beschäftigt, bestätigt, dass der Unterschied zwischen der Gefahrenkarte und dem echten Ereignis auffallend gross ist. Ob das nun eingetretene Szenario bei der Gefahrenbeurteilung in Sorte berücksichtigt wurde und warum es als unwahrscheinlich eingestuft wurde, müsse man jetzt überprüfen, sagt Graf.
Letztlich bleiben auch bei der besten Einschätzung immer Unsicherheiten. Und gerade seltene, spontane Prozesse wie Murgänge sind extrem schwierig vorherzusagen. Laut Simon Löw kommt inzwischen ein weiteres Problem hinzu: Durch den Klimawandel ereignen sich häufiger sehr intensive lokale Regenfälle. Dadurch erhöht sich auch die Gefahr für Murgänge. Diese Ereignisse treten dann öfter auf, als sie es laut den statistischen Aufzeichnungen tun sollten.