Der Pharma-Verpackungsspezialist sei von Zöllen nicht nur nicht betroffen – laut CEO Dietmar Siemssen könnte er sogar profitieren und seine Preise erhöhen. Bringt das den Aktien die verlorengegangene Fantasie zurück?
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser
Nicht die erste, aber bereits die zweite Frage im Analystencall zu den Quartalszahlen von Gerresheimer war wenig überraschend eine zu den Zöllen von US-Präsident Donald Trump. Die Antwort von CEO Dietmar Siemssen war für mich umso überraschender.
Es sei eine interessante Frage – die Zölle kämen und gingen jeden Tag und jede Woche, so der Chef des MDax-Unternehmens. «Aber ich denke, wir sind insgesamt sehr gut aufgestellt, was die Zölle angeht», so Siemssen. Wie resistent das Geschäft sei, habe auch die Covid-Zeit gezeigt. Dann folgte das in meinen Augen Übliche: Man produziere in der Region für die Region und man beschaffe seine Vorprodukte vor Ort. Doch dann sagte Siemssen etwas, das nicht jeder Kunde von Gerresheimer – um die die Düsseldorfer stets ein grosses Geheimnis machen – gerne hören dürfte:
«Daher sind die Zölle, selbst wenn sie eingeführt würden, im Prinzip für uns völlig neutral und eröffnen sogar Möglichkeiten für Preisanpassungen in Bereichen, in denen wir nicht betroffen sind.» Ob dies den Aktien wieder auf die Sprünge hilft?
Fakt ist, die Valoren sind in der Vergangenheit stark unter die Räder gekommen. Da war zunächst die Gewinnwarnung Ende September, worauf die Titel schlagartig rund 15% an Wert verloren. Gut einen Monat später schien der Rauch verflogen und ich empfahl die Aktien für mutige Anleger mit einem langen Atem. Denn mittelfristig schien – und scheint – die Wachstumsstory intakt und sich das Problem des Lagerabbaus (Destocking) aufzulösen.
Kein Hype mehr um die Abnehmspritze
Dann – so muss man es rückblickend einordnen – beendete eine Meldung vom Gerresheimer-Kunden Novo Nordisk die Euphorie um die Abnehmspritze, die auch die Aktien des Herstellers solcher Spritzen stets beflügelt hatte. Der Hoffnungsträger CagriSema bewirkt weniger grosse Abnehmerfolge als erhofft, hiess es Mitte Dezember. Die Nachricht schickte die Aktien des Pharmakonzerns Novo Nordisk auf Talfahrt, die bis heute mehr oder weniger andauert.
Mit dem schwindenden Hype wurden die Fragen zu den Abnehmpräparaten zunehmend kritischer. Die Ausgaben für die Medikamente gegen Fettleibigkeit betrugen im Jahr 2024 gemäss Zahlen des US-Researchhauses IQVIA 30 Mrd. $, nach 24 Mrd. $ ein Jahr zuvor. 2030 soll das Marktvolumen bei mindestens 100 Mrd. liegen. Doch die Nebenwirkungen von Ozempic und Wegovy sind nicht zu unterschätzen und auch zeichnet sich eine gewisse Müdigkeit ab, die Medizin dauerhaft einzunehmen. Das zeigen erste Untersuchungen, wenngleich in den Studien nicht den Gründen für den Therapieabbruch nachgegangen wurde. Nach einem Jahr sei nur noch etwa die Hälfte der Patienten dabei, so der gemeinsame Tenor.
Tabletten statt Spritzen
Für Gerresheimer ist ein weiterer Punkt entscheidend: Es gibt nicht nur Abnehmspritzen, sondern auch Abnehmpillen wie Rybelsus – ebenfalls von Novo Nordisk –, das den gleichen Wirkstoff (Semaglutid) wie Ozempic und Wegovy enthält. Im Wettlauf um neue Schlankheitsmittel liegen die verschiedenen Verabreichungsformen mittlerweile fast gleich auf: Von derzeit 156 neuen Wirkstoffen im klinischen Stadium zielen 43% auf eine orale Einnahme ab, wie jüngste Daten zeigen.
Gerresheimer fertigt praktisch alle erdenklichen Verpackungen für Medikamente, ausser Blister für Tabletten. Deren Marge ist aber ohnehin gering. Die Düsseldorfer können also nur mit Spritzen am Hype mitverdienen. Die Analysten der DZ Bank rechnen künftig mit einer «Koexistenz von Abnehmspritze und Abnehmpille – je nach Patientenpräferenz». Für die einen sei eine einmalige Injektion pro Woche angenehmer, andere würden lieber einmal pro Tag eine entsprechende Tablette einnehmen.
Den zunehmenden Marktanteil der Tabletten schätzen die Analysten auf bis zu 25%. «Damit könnten die Wachstumsraten für die von Gerresheimer und Schott Pharma gelieferten Spritzen, Autoinjektoren und entsprechenden Komponenten bis zu einem Sechstel geringer ausfallen, als wenn es keine Abnehmpille gäbe», schrieben die Analysten in einer im Dezember vergangenen Jahres veröffentlichten Studie.
Das Kuchenstück für Gerrresheimer könnte demzufolge also kleiner ausfallen. Entsprechend sank der Aktienkurs weiter.
Übernahme fraglicher denn je
Anfang Februar kam erneut Fantasie in die Aktien. Denn Finanzinvestoren hätten Interesse an einer Übernahme, hiess es. Gerresheimer reagierte auf die Gerüchte mit einer knappen Ad-hoc-Nachricht; die Gespräche befänden sich noch in einem sehr frühen Stadium. «Es ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar, ob es tatsächlich zu einem öffentlichen Übernahmeangebot kommen wird.» Die Nachrichtenagentur Reuters meldete, Warburg Pincus und KKR hätten zusammen mit dem Staatsfonds Adia aus Abu Dhabi ein nicht-bindendes Angebot über fast 90 € je Aktie vorgelegt.
Vor wenigen Tagen meldete schliesslich Bloomberg, KKR habe sich zurückgezogen und die Beteiligungsgesellschaft Warburg Pincus versuche, die Übernahme des Düsseldorfer Unternehmens allein zu stemmen. Das spricht nicht nur für geringere Erfolgsaussichten, sondern auch für einen niedrigeren Preis, was den Aktienkurs erneut unter Druck setzte. Im heutigen Call wollten sich CEO Siemssen und CFO Bernd Metzner dazu nicht näher äussern.
Wenn ich an den Call zum Jahresabschluss Ende Februar zurückdenke, ist mir vor allem eines in Erinnerung geblieben. Unzählige Male fügte CFO Metzner im Fragenteil seinen Erklärungen die Worte «no doubt about it» – kein Zweifel daran – hinzu. Ich kann mich nicht erinnern, in einem Analystencall schon einmal so oft diese Worte gehört zu haben. Aber es zeigt, die Botschaft, dass wieder Vertrauen geschaffen werden muss, ist zumindest angekommen.
Im heutigen Call zum abgelaufenen ersten Quartal gab es noch Erfreuliches zu berichten – dank des 2024 akquirierten italienischen Glasherstellers Bormioli Pharma, den Gerresheimer nun konsolidiert. Der Umsatz ist von Dezember bis Februar um 11,6% auf 520,1 Mio. € gestiegen, der bereinigte Gewinn auf Stufe Ebitda um 13,1% auf 91,5 Mio. €. Ohne Bormioli Pharma sähe es jedoch schlechter aus: Organisch gingen Umsatz (-6,5%) und Ebitda (-9,3%) im ersten Quartal zurück. Der Grund sei «eine Verschiebung von Umsätzen im Spritzengeschäft sowie eine gedämpfte Nachfrage bei Moulded Glass, insbesondere im Bereich Kosmetik».
Geheimniskrämerei beim Auftragseingang
Dennoch hält das Management an der Prognose für das Geschäftsjahr 2025 fest: Gerresheimer stellt ein Umsatzplus von 3 bis 5%, eine Ebitda-Marge von rund 22% sowie ein EPS-Wachstum im hohen einstelligen Prozentbereich in Aussicht.
Gerresheimer zeigt sich aus drei Gründen zuversichtlich. Erstens: Das US-Werk in Morganton, das Ende September durch Hurrikan Helene überschwemmt wurde, soll in wenigen Wochen wieder mit voller Kapazität produzieren. Und auch am Standort Lohr rechnet Gerresheimer ab Mai wieder mit einer Produktionstüchtigkeit von 100%. Dort war eine Schmelzwanne erneuert worden. Zweitens: In Skopje (Nordmazedonien) und in Peachtree (nahe Atlanta) liefen neue Serien an. Drittens: Vor allem in Bünde (Nordrhein-Westfalen) produziere man «high value solutions», die zunehmend nachgefragt werden und eine deutlich höhere Marge abwerfen als einfachere Arzneibehälter oder Glasprodukte. Der Auftragseingang im ersten Quartal sei zudem gestiegen. Eine konkrete Angabe wollte das Management dazu nicht machen. Gute Kommunikation, um Vertrauen wieder herzustellen, sieht in meinen Augen anders aus.
Kurspotenzial gross
Doch die Aktien sind vergleichsweise günstig, kein anderes Unternehmen aus der Peergroup ist so billig zu haben. Das Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV) liegt bei nur 1,3. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis auf Basis der für die nächsten zwölf Monate geschätzten Gewinne notiert bei 10. Das ist auch der Grund, warum die meisten Analysten zum Kauf raten. Von den bei Bloomberg erfassten Analysten empfehlen 17 den Kauf, zwei stufen die Aktien mit «Hold» ein – und niemand rät zum Verkauf. Das Kursziel liegt im Mittel bei 99.20 €. Aktuell steht der Kurs bei rund 55 €.
CEO Siemssen kaufte für sein privates Depot lediglich einmal Mitte November vergangenen Jahres Gerresheimer-Aktien. Für eine vertrauensbildende Massnahme ist mir das zu wenig. Der Kurs lag damals bei 74.99 €. Dennoch, die Aktien sind eben ein Schnäppchen. Das haben zuletzt auch grosse Vermögensverwalter so gesehen. Blackrock hat seinen Anteil an Gerresheimer jüngst von 3,26% auf 4,64% ausgebaut und die UBS die 3%-Schwelle überschritten – während Amundi allerdings von 3,52% auf 2,45% reduziert hat.
Es spricht also einiges für die gebeutelten und nun noch preiswerteren Aktien. Man muss jetzt CEO Siemssen nur noch abnehmen, dass die US-Zölle was Gutes für Gerresheimer sein könnten. Schliesslich ist der US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. bekanntlich ja nicht nur ein Impfgegner, sondern steht auch Medikamenten zur Gewichtsreduktion sehr kritisch gegenüber.
Freundlich grüsst im Namen von Mr Market
Ulrich W. Hanke