Ben Oppenheim lebt und leidet in Zürich. Vor allem Letzteres kann er ganz gut. Doch dann droht der Welt ein Atomkrieg. Zumindest fürchtet Ben das – und tritt die Flucht nach Südamerika an.
Gegen Ende des zweiten Lebensjahres entdeckt ein Kind das «Ich» – und nimmt es als Fluchtpunkt der ganzen Welt wahr. Dann erfolgt der nächste Entwicklungsschritt, und der kleine Mensch entwächst seinem frühkindlichen Solipsismus.
Benjamin Jakov Oppenheim scheint diesen Entwicklungsschritt vollumfänglich übersprungen zu haben. Ben ist der Protagonist von Micha Lewinskys Debütroman «Sobald wir angekommen sind» – ein etwa 50-jähriger Zürcher, Drehbuchautor, Vater zweier Kinder, unzuverlässig, schmerzbereit und leidensfreudig. Er ist primär mit sich und seinen diversen Ängsten beschäftigt, die ihn manchmal zum Handeln, meistens aber eher zum Klagen bringen.
Jammern kann Ben. Was er nicht kann, ist Verantwortung für sein Handeln übernehmen oder anstehende Probleme umsichtig und für alle Beteiligten einigermassen fair lösen – derart unangenehme Situationen umgeht Ben lieber grossräumig.
Ein evolutionsbedingter Feigling
Für sein Vermeidungsverhalten hat Ben allerdings einen guten Grund: Sein Ururgrossvater starb in Theresienstadt. Der Grossvater kam als einziger Überlebender der jüdischen Familie Oppenheim nach Zürich. Lewinsky schreibt: «In der genetischen Auslese hatten diejenigen, die rasch flohen, meist die besseren Karten gehabt. Und so war Ben eben nicht nur ein singulärer Feigling. Er war Kind, Enkel und Urenkel von erfolgreich Geflüchteten.»
So viel zum jüdischen Fluchtreflex, jener Disziplin, in der Ben richtig gut ist. Im Übrigen ist Sand im Getriebe. Für Ben sind «Ideen wie Sternschnuppen, denen er entspannt beim Verglühen zusah». Wenn er dann doch eine Idee umzusetzen versucht – immerhin kann auch ein erfolgloser Drehbuchautor nicht von Luft leben –, merkt Ben, dass die Konkurrenz ihn abgehängt hat. Diverser, phantasievoller, ökologischer sind die neuen, jungen Drehbuchautor:innen.
Dabei geht Ben doch mit der Zeit. Versucht etwa zu verhindern, dass der Barkeeper, der einzige schwarze Mensch in der Bar, seinen verschütteten Drink wegräumt, und hat ein schlechtes Gewissen, weil er in seiner Phantasie eine fremde Frau ohne ihr Einverständnis sexualisiert und objektiviert hat. Am wenigsten aber kann Ben verstehen, «dass er als Enkel von Verfolgten und Vertriebenen plötzlich zu den Überprivilegierten gehören sollte».
Ein gefährlicher Kindergärtler
Normalerweise ist das Schuldbewusstsein der deutschsprachigen Welt nämlich Bens bestes Argument. So auch, als er sich mit einem Deutschen um «seinen» Platz an der Bar prügeln will. Als dessen Griff um Bens Hals nämlich immer enger wird, sagt Ben: «Stopp. Mein Grossvater war in Theresienstadt.» Der Griff um den Hals lockert sich sofort, und Ben fügt an: «Ich habe ein Transgenerationales Trauma.» Später will er den Kindern, die die Szene beobachtet haben, eine Lektion erteilen. Warum der Mann – ihrer Meinung nach – von ihm abgelassen habe, fragt Ben. Aber auch da muss er feststellen: Die neue Generation funktioniert anders: «‹Mitleid›, schlug Rosa vor. ‹Vielleicht hat er sich geschämt, einem Schwächeren weh zu tun›, erwog Moritz.»
Dass Bens Frau Marina die Nase voll hat, kommt wenig überraschend. Erstaunlich dagegen, dass er bald nach der Trennung bei der erfolgreichen, lebensfreudigen und durchweg positiven Julia landen kann. Sie ist einiges jünger als Ben und behandelt ihn, «als wäre er ein erwachsener, ernst zu nehmender Mann».
Zwei grosse Defizite bringt aber auch die schöne, lustvolle Julia mit: Anders als Marina, die baldige Ex-Frau, ist sie keine Jüdin. Ihr fehlt jegliches Verständnis für Angst und Sorgen, die Ben bereits mit der Muttermilch aufgesogen hat. Und wie Ben, ist auch Julia nicht kinderlos. «Prince, Julias Sohn, war zwar noch im Kindergarten, dennoch fühlte Ben sich von ihm bedroht.»
Die Bedrohung durch den Kindergärtler wird allerdings vergleichsweise klein, als Ben nach dem russischen Angriff auf die Ukraine einen Atomkrieg wittert. Noch bevor die ersten Bomben auf die Schweiz fallen, packen Ben und Marina Kinder und Koffer und fliehen nach Brasilien.
Hier war schon Bens Vorbild, Stefan Zweig, im Exil. Doch: «Während Zweig mit seiner Sekretärin hatte durchbrennen können, als die Welt in Flammen stand, schien Bens Angst vor dem Weltkrieg nur eine Marotte des jüdischen Neurotikers zu sein.» Julia, da ist Ben sich sicher, würde kein Verständnis haben. Darum informiert er sie erst einmal nicht über die Familienflucht nach Südamerika. «Ben wusste, dass er Julia zurückrufen sollte. Aber jetzt, da sie wach war, fürchtete er sich vor dem Gespräch. Was sollte er tun, wenn sie ihn zum Bleiben überreden wollte?»
Zwischen Eifersucht und Neubeginn
In Brasilien angekommen, kämpft Ben gleichzeitig gegen die Eifersucht gegenüber allen Männern, die sich daheim in Zürich in Julias Nähe aufhalten – und für das Wiederbeleben einer (sexuellen) Beziehung mit Marina. Vielleicht, so Bens Hoffnung, wird er den Eltern das eheliche Scheitern gar nie beichten müssen.
Man hatte sich für die Trennung zwar auf ein diplomatisches Wording geeinigt: «Wir haben gemeinsam beschlossen, dass es an der Zeit ist, ein neues Kapitel aufzuschlagen.» Dennoch «war es Ben wichtig, irgendwie zum Ausdruck zu bringen, dass nicht er den Karren in den Dreck gefahren hatte. Marina hatte den Stecker gezogen.» Bisher hatte sich gegenüber den Eltern allerdings noch keine Gelegenheit geboten, die Geschichte so zu erzählen.
Weil der Fluchtort allerdings nicht aufhört, sich wie eine Feriendestination anzufühlen, und auch die russischen Atombomben auf sich warten lassen, kommt Ben zusehends in Erklärungsnot.
Liebevoller Slapstick
Micha Lewinsky kennt man in der Schweiz bis anhin vor allem aus dem Fernseher. Er hat das Drehbuch für «Sternenberg» (2004) geschrieben und bei Komödien wie «Die Standesbeamtin» (2009) oder «Moskau einfach!» (2020) auch die Regie übernommen. Der Name Lewinsky ist allerdings auch in der Literatur keine Neuerscheinung: Lewinskys Vielschreiber-Vater Charles Lewinsky zeichnet für zahlreiche Romane, aber auch Drehbücher, Theaterstücke und Musicals verantwortlich. Den Vergleich mag der Sohn, ähnlich wie sein Protagonist im Roman, allerdings nicht so gern, wie er dem «Tages-Anzeiger» anvertraut hat.
Lewinsky hat mit «Sobald wir angekommen sind» zwar nicht auf feinen Sprachstil oder Subtilität gesetzt, dafür aber eine Geschichte geschrieben, der man gerne folgt. Trotz Slapstick-Momenten im Format von «Fascht e Familie» – einer der erfolgreichsten Schöpfungen von Lewinsky senior. Es gibt viel, allerdings zeitgeistbereinigte Situationskomik. Dazu einen mit den eigenen Schwächen zum allgemeinen Amusement gequälten Protagonisten. Dass man diesen Ben trotzdem mag, ein bisschen zumindest, spricht für die Qualitäten des Komödienschreibers Lewinsky junior.
Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind. Diogenes Verlag, Zürich 2024. 288 S., ca. Fr. 37.90.