Monika Rühl, Direktorin von Economiesuisse, verteidigt die Kampagne der Wirtschaftsverbände. Gleichzeitig liest sie Firmen die Leviten, die exzessive Millionengehälter zahlen. Im Abstimmungsresultat sieht sie zwar ein «überdeutliches Zeichen», aber noch keine Zeitenwende.
Frau Rühl, wie oft waren Sie in den letzten Wochen unterwegs, um persönlich zu erklären, weshalb eine 13. AHV-Rente keine gute Idee ist?
Wir haben zwar operativ die Kampagne der Nein-Allianz geführt, aber inhaltlich war für die Wirtschaftsverbände der Schweizerische Arbeitgeberverband verantwortlich.
Aber der Arbeitgeberverband schien kaum präsent.
Der Arbeitgeberverband hat sich engagiert. Ich habe aber keinen genauen Überblick, wie oft die Kolleginnen und Kollegen des Arbeitgeberverbandes aufgetreten sind. Wir von Economiesuisse haben das Thema der Altersvorsorge an unserer Jahresmedienkonferenz Anfang Februar zum Hauptthema gemacht und über unsere Kanäle bereits im vergangenen Jahr regelmässig über die Vorlagen informiert.
Die Wirtschaft hat schon die Kampagne bei der Konzernverantwortungsinitiative unterschätzt, nun auch bei der 13. AHV-Rente. Fühlt die Wirtschaft den Puls des Volkes nicht mehr?
Das sind zwei ganz unterschiedliche Themen. Bei der 13. AHV-Rente ging es nicht um ein Wirtschaftsthema, sondern es ist eine gesellschaftliche Frage. Aber ich gebe zu: Arbeitgeber und bürgerliche Parteien haben die Lage falsch eingeschätzt. Die Situation hat sich in den letzten Monaten verändert. Viele Bürgerinnen und Bürger stehen unter Druck. Sie stehen steigenden Mieten und Krankenkassenprämien gegenüber und sagten sich: Jetzt braucht es auch etwas für mich.
War der Brief der bürgerlichen Altbundesräte gegen die 13. AHV-Rente kontraproduktiv? Musste die Kampagne nicht damit rechnen, dass dieser Schuss nach hinten losgeht?
Nein, dieser Brief war nicht kontraproduktiv. Er hat viel zu reden gegeben. Es war ein Appell der Altbundesräte an ihre Altersgenossen, der AHV Sorge zu tragen und an die Jungen zu denken. Dass die Gegenkampagne den Appell angreifen würde, damit musste man rechnen.
Im Jahr 2016 hatte eine fast gleiche Gewerkschaftsinitiative (Rentenerhöhung um 10 Prozent) an der Urne nur 41 Prozent Ja-Stimmen erhalten. Jetzt sind es 58 Prozent. Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Dazwischen liegen zum Beispiel zwei Corona-Jahre, die bei den Menschen Spuren hinterlassen haben. Es floss viel Geld an notleidende Firmen. Dazu kommt der Niedergang der Credit Suisse. Das hat zum Eindruck beigetragen, dass Geld doch vorhanden ist. Allerdings sollte man da auch erwähnen, dass bei der Stützung der Grossbanken oder der Stromkonzerne der Steuerzahler keine Verluste erlitten hat, sondern der Bund netto noch Geld verdient hat.
Ist das Erfolgsmodell Schweiz, zu dem eine sparsame und wirtschaftsfreundliche Haltung gehört, mit diesem Abstimmungsresultat Geschichte?
Nein, dieses Erfolgsmodell ist nicht Geschichte. Es kippt nicht wegen einer Abstimmung. Aber wir müssen ihm Sorge tragen. In der zweiten Jahreshälfte etwa steht eine Reform der Pensionskasse an, für die wir noch viel Erklärungsarbeit leisten müssen. Mit dieser Reform können Menschen mit niedrigen Einkommen oder solche, die Teilzeit arbeiten, sich erstmals ein Polster über die zweite Säule ansparen. Davon profitieren besonders viele Frauen.
Kürzlich wurde bekannt, dass der Novartis-Chef 2023 gut 16 Millionen Franken verdiente. Tragen solche Millionengehälter zur Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas bei? Zeigt sich darin nicht ein mangelhaftes Verantwortungsgefühl einer kleinen Elite?
Zunächst: Das Vertrauen in die Wirtschaft ist intakt und immer noch grösser als dasjenige in die Politik, wie eine Umfrage von letztem Herbst ergab. Aber ich muss auch sagen: Geschichten über Millionengehälter sind für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht hilfreich. Mehr Zurückhaltung wäre sicherlich wünschenswert.
Mit dem Hinweis auf die Kosten und die Verschlechterung der Rahmenbedingungen bei einer Annahme konnten Wirtschaftsverbände in der Vergangenheit teure Initiativen bezwingen. Weshalb wirken solche Gegenargumente nicht mehr?
Die Mehrkosten von vier, später fünf Milliarden Franken pro Jahr waren unser Hauptargument gegen die 13. AHV-Rente. Und es kam laut Umfragen bei den Bürgerinnen und Bürgern durchaus an. Aber letztlich dominierte eine andere Haltung: Nach mir die Sintflut. Auch wenn das teuer sei, werde man das Geld schon irgendwie auftreiben können, sagte man sich. Das macht mir grosse Sorgen für die Solidarität zwischen den Generationen, aber auch für die Solidarität zwischen gut und weniger gut Verdienenden.
Zeigt diese Abstimmung, dass die Schweizer nur noch aufs eigene Portemonnaie schauen?
Es sieht jedenfalls danach aus. Gerade diejenigen, die älter als 55 sind und von der 13. AHV-Rente am meisten profitieren, gehen auch öfter an die Urne als die Jüngeren. In den Umfragen vor der Abstimmung haben die Jungen die Initiative hochkant abgelehnt, die Älteren ebenso deutlich angenommen. Das hat sich am Abstimmungssonntag bestätigt. Interessant wird sein, wie hoch die Stimmbeteiligung der verschiedenen Altersklassen war.
Am 9. Juni stehen bereits weitere Initiativen an, die den Staatseinfluss und die Umverteilung deutlich ausweiten würden, wie die Prämieninitiative der Linken. Wird diese Initiative nun auch so einfach vom Souverän durchgewinkt?
Das hoffe ich natürlich nicht. Die Prämieninitiative der Linken würde jedes Jahr viele Milliarden zusätzlich kosten, wiederum zulasten der Steuerzahlenden. Ich bin zuversichtlich, dass das Volk hier sagt: Zu viel geht dann doch nicht.
Nach dieser kapitalen Niederlage für die Wirtschaftsverbände: Ist das eine Zäsur für die Schweiz?
Das Abstimmungsresultat ist ein überdeutliches Signal an die bürgerlichen Kreise, aber noch keine Zeitenwende. Damit man von einer Zäsur sprechen kann, müsste die Linke weitere ähnliche Abstimmungen für sich entscheiden.