Bei der konstituierenden Sitzung des deutschen Parlaments hätte der Linken-Politiker als Alterspräsident eigentlich über den Parteien stehen sollen. Stattdessen blieb er ganz der Alte und sorgte damit schon ab der ersten Minute für Unmut. Julia Klöckner ist derweil zur Präsidentin des Bundestages gewählt worden.
Für mindestens einen Mann geht mit der ersten Sitzung des 21. Bundestags ein Traum in Erfüllung: Gregor Gysi darf als Alterspräsident die parlamentarische Premiere eröffnen. Als ihm Parteifreunde 1990 prophezeiten, dass er diesen Job eines Tages übernehmen würde, hielt er das für einen «netten Scherz», erinnert sich der 77-Jährige mit feinem Lächeln von der Rednerkanzel. «Sie sollten recht behalten.»
Anders als es die Bezeichnung vermuten lässt, hat der Linken-Politiker den Ehrenposten allerdings nicht seinem Alter zu verdanken, sondern einer Änderung der Geschäftsordnung aus dem Jahr 2017. Seither führt nicht mehr der Älteste im Saal, sondern der dienstälteste Abgeordnete die Volksvertretung, bis der reguläre Parlamentspräsident gewählt ist.
Protest von rechts aussen
Diese Änderung ist auch der Grund dafür, dass im deutschen Parlament am Dienstag bereits ab der ersten Minute gestritten wird. Die AfD-Fraktion wittert hinter der Regeländerung ein Manöver, um ihren 84-jährigen Abgeordneten Alexander Gauland, den nach Lebensjahren ältesten Parlamentarier, vom prestigeträchtigen Amt fernzuhalten.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, tritt ans Rednerpult und erhebt schwere Vorwürfe: «Mit Ihren Tricks werden Sie unseren Aufstieg nicht verhindern», erklärt er. Es folgt ein Frontalangriff auf Gysi, dessen Linkspartei er kurzerhand zur «Mauerschützen-Partei» deklariert.
Der Mann mit der SED-Vergangenheit
Tatsächlich ist die Personalie für viele Deutsche nicht ohne Beigeschmack: Gysi war der letzte Vorsitzende der DDR-Staatspartei SED und damit Aushängeschild eines brutalen, menschenverachtenden Systems. Hinzu kommt die nie ganz geklärte Verbindung zur Stasi. Er habe dem Geheimdienst des Regimes nahegestanden, werfen ihm manche vor – was Gysi bis heute beharrlich abstreitet.
Demonstrativ blättert deshalb der CDU-Abgeordnete Sepp Müller während der Gysi-Rede in einem Buch des Historikers Hubertus Knabe über das SED-Regime. Der bezeichnende Titel: «Die Täter sind unter uns».
Dennoch kann der wortgewandte Linke bei der Abstimmung auf die Stimmen auch der konservativen Unionsparteien zählen: Die AfD hat beantragt, die Geschäftsordnung erneut zu ändern. Der CDU-Mann Thorsten Frei verteidigt das Verfahren: «Das Lebensalter ist genauso wenig ein Verdienst wie die Jugend», doziert er. «Wer aber langjährig in den Bundestag gewählt wurde, hat sich diese Erfahrung erarbeitet.»
Gysi selbst verfolgt die Debatte über seine Person wie versteinert – ein ungewohntes Bild für den sonst so quirligen Polit-Profi. Der AfD-Antrag findet schliesslich nur bei den eigenen Leuten Anklang und wird abgeschmettert. Freie Bahn für den Alterspräsidenten Gysi.
Zwischen Bismarck und Marx
In seiner Eröffnungsrede bemüht sich Gysi zunächst um staatstragende Überparteilichkeit. Der frühere Reichskanzler Otto von Bismarck sei trotz aller Kritik «eine bedeutende historische Persönlichkeit», mahnt er Richtung Linke. Der Ökonom Karl Marx wiederum bleibe ein «grosser Sohn unseres Volkes», weshalb man ruhig eine Universität nach ihm benennen könne, stichelt er gen Konservative.
Doch Gysi kann nicht aus seiner Haut. Seine Rede kippt bald in bekannte linke Parolen. Er wettert gegen die Rüstungsindustrie – ein Dauerbrenner seiner Partei: «Wenn niemand mehr an Kriegen Geld verdiente, kämen wir dem Frieden einen grossen Schritt näher.»
Unvermittelt schwenkt er dann zur Israelkritik. Er fordert einen «souveränen, unabhängigen Staat» für die Palästinenser und garniert seine Solidaritätsbekundungen mit Halbwahrheiten. Es sei bedauerlich, dass die israelische Regierung und das Parlament einen solchen Weg ausschlössen – eine einseitige Darstellung, die den Terror palästinensischer Gruppen wie Hamas oder Islamischer Jihad ausblendet.
Zwischenrufe erntet er dafür nicht, doch der Applaus beschränkt sich grösstenteils auf seine eigene Fraktion.
Die Mär von der Demütigung
Zum Abschluss widmet sich der Alterspräsident Ostdeutschland und folgt auch hier ganz der linken Lesart der Geschichte: «Bei der Wiedervereinigung ist uns ein schwerer Fehler unterlaufen», erklärt er. Die DDR sei auf «Mauertote und SED» reduziert worden. Behalten habe man nur «Sandmännchen, Ampelmännchen und den grünen Abbiegepfeil». Dies habe die Leistungen der Ostdeutschen diskreditiert und zu einem «Gefühl der Demütigung» geführt. Der nächste Kanzler müsse sich dafür entschuldigen.
Am Ende bleibt eine Rede, die in den eigenen Reihen grossen Beifall findet, bei den anderen politischen Kräften aber auf zurückhaltende Zustimmung bis hin zu demonstrativem Desinteresse stösst. Im Plenum sieht man Abgeordnete, die betont uninteressiert miteinander plaudern, während Gysi spricht. Der CDU-Politiker Armin Laschet verlässt sogar vorzeitig den Saal.
Jubel links, Langeweile rechts
Wenn es Gysis Ziel gewesen sein sollte, als Alterspräsident Brücken zwischen den politischen Lagern zu bauen, ist es ihm an diesem Dienstag nicht gelungen.
Am Nachmittag wird die Leitung der Geschäfte auf die neue Präsidentin des Parlaments übergehen. Wie erwartet, ist die CDU-Politikerin Julia Klöckner gewählt worden. Die Christlichdemokraten stellen die stärkste Fraktion. Bei der konstituierenden Sitzung erhielt sie 382 von 622 abgegebenen Stimmen bei 204 Gegenstimmen und 31 Enthaltungen.