Er hat Auschwitz und Dachau überlebt. Dann wird der jüdische Politiker Opfer einer mörderischen antisemitischen Kampagne der Sowjets. Sein Sohn Ivan kämpft bis heute um Wiedergutmachung.
Der Mann hält sich am Pult fest, die Mikrofone vor ihm sind wie Pistolen und Schlangenköpfe auf sein Gesicht gerichtet. Ja, antwortet er auf die Fragen des Staatsanwalts, er habe versucht, einen Krieg anzuzetteln. Und ja, er sei ein Verschwörer. Die Sätze kommen stockend, manche Wörter wiederholt er. «Ich bin mir der schrecklichen Verbrechen bewusst, die ich begangen habe», sagt er in seinem Schlusswort. «Ich habe den angloamerikanischen Imperialisten gedient. Ich habe den Nachfolgern der Nazis gedient. Ich kann nur um die härteste Bestrafung bitten.»
Rudolf Margolius ist einer von vierzehn Männern, die in jenem November 1952 im Prager Justizpalast vor Gericht stehen. Sie sind angeklagt, unter der Führung des ehemaligen kommunistischen Generalsekretärs Rudolf Slansky eine Verschwörung geplant zu haben, für Israel und gegen den Sozialismus, das Volk, die Sowjetunion und den Weltfrieden. An diesem Tag muss Rudolf Margolius alles verraten, was ihm heilig ist – seine Eltern, die von den Nazis ermordet wurden, seine Ideale und seine eigene Geschichte. Er, der wenige Jahre zuvor in zerlumpten Häftlingskleidern vor der SS geflüchtet ist, soll seit dem Zweiten Weltkrieg ein Spion gewesen sein.
Ein Schauprozess, der weltweit für Entsetzen sorgt
Die Filmrollen, auf denen Rudolf Margolius vor Gericht zu sehen ist, sind 2018 zufällig von Arbeitern in einer verlassenen Lagerhalle in Prag entdeckt worden. Der sogenannte Slansky-Prozess sorgte 1952 in der westlichen Welt für Entsetzen. Angehörige der Angeklagten sind bis heute traumatisiert. «Ich wollte nicht sehen, wie mein Vater vor Gericht erniedrigt wird», sagt Ivan Margolius. «Das hätte mir die Erinnerungen an ihn verdorben.»
Ivan Margolius ist 1947 geboren worden und lebt in England. Seinen Vater hat er letztmals als Fünfjähriger gesehen, kurz bevor dieser von der Geheimpolizei verhaftet wurde. Zusammen mit seiner 2010 verstorbenen Mutter Heda hat er sein Leben lang für die Rehabilitierung seines Vaters gekämpft. Beide haben lesenswerte Bücher geschrieben, manche liegen in deutscher Übersetzung vor und beruhen auf amtlichen Dokumenten. Es gibt Filme über den Slansky-Prozess, darunter «Das Geständnis» von Costa-Gavras oder «Le procès» von Ruth Zylberman, der auf dem kürzlich entdeckten Filmmaterial basiert.
Hass auf Juden und auf Israel
Dennoch werden die seelischen und die politischen Verheerungen, die der Prager Schauprozess angerichtet hat, bis heute unterschätzt. Das Schicksal der Familie Margolius zeigt, wie Diktaturen Menschen zerstören und wie linksextreme Ideologen Prinzipien wie Frieden, Antifaschismus und den Kampf gegen Nazis missbraucht haben, um politische Verbrechen zu legitimieren. Es offenbart auch die Ursprünge jenes «antizionistischen» Hasses auf Juden und auf Israel, der sich derzeit an propalästinensischen Kundgebungen in Zürich, Berlin, New York und anderen Städten entlädt.
Rudolf Margolius wird am 31. August 1913 in eine bürgerliche tschechische Familie geboren. Seine Eltern sind jüdisch, der Vater ist Handelsvertreter einer Textilfabrik, im Ersten Weltkrieg dient er der österreichischen Armee. Als 1918 die Tschechoslowakei gegründet wird, entsteht einer der modernsten Industriestaaten Europas, eine Demokratie, die allerdings von ethnischen Spannungen belastet wird – namentlich durch eine starke deutsche Minderheit, die unter dem Einfluss von Konrad Henlein einen Anschluss an das «Dritte Reich» anstrebt.
Rudolf Margolius 1917 mit seinem Vater Vitezslav und 1933 als junger Mann im Zug nach Genf. (Bilder Margolius-Familienarchiv)
Zum Juristen ausgebildet, ist Rudolf Margolius in jungen Jahren ein eher unpolitischer Mensch, er musiziert gerne und reist viel, in die Schweiz, nach London, Spanien, in den Mittleren Osten, lernt mehrere Sprachen. Mit seiner Jugendliebe Heda besucht er Theater und Konzerte, das Paar steigt in schönen Hotels ab. Folter, Mord und Barbarei, so schreibt Heda Margolius später, habe man damals als überwundene Phänomene betrachtet, als dunkle Kapitel in Schulbüchern.
Der grosse Verrat
Das ändert sich abrupt, als die Westmächte Frankreich und Grossbritannien die Tschechoslowakei dem Machtstreben der Nazis preisgeben: Im Glauben, einen Krieg verhindern zu können, erlauben sie Adolf Hitler 1938 die Annexion des deutschsprachigen Sudetenlandes und einige Monate später die Besetzung Böhmens und Mährens.
«Mein Vater war erschüttert von diesem Verrat der westlichen Demokratien», sagt Ivan Margolius, «er leistete damals Militärdienst und sah, dass er sein Land nicht verteidigen konnte.» Gleich nach dem Einmarsch der Deutschen wird jüdischen Ärzten und Anwälten verboten, zu arbeiten. Rudolf und Heda Margolius heiraten am 3. April 1939 in einer Prager Synagoge, ihr bereits bewilligter Antrag zur Ausreise nach Palästina wird beschlagnahmt. Als Juden dürfen sie keine Cafés mehr besuchen, keine Spitäler, keine Restaurants.
Auf dem Todesmarsch gelingt ihnen die Flucht
Im Oktober 1941 pfercht die SS Tausende Prager Juden in Zugwaggons. Die Eltern von Rudolf Margolius werden nach Riga gefahren, in einem Wald erschossen und verscharrt. Er, seine Frau und seine Schwiegereltern kommen in das Ghetto von Lodz, wo sie hungern und Kleider von Toten und Deportierten sortieren müssen. 1944 folgt die Deportation nach Auschwitz. Nur Heda und Rudolf überleben. Sie werden im Lager getrennt, nach Gross-Rosen und Dachau abtransportiert, auf Todesmärschen gelingt es beiden, zu fliehen. Rudolf entkommt einem Erschiessungskommando der SS am Tegernsee, Heda schlägt sich monatelang im Untergrund der besetzten Stadt Prag durch, wo die SS vor ihrem Abzug die furchtbarsten Greueltaten verübt.
All diese Erfahrungen machen Rudolf und Heda Margolius empfänglich für die Propaganda der Sowjetunion und der moskautreuen Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC). «Unsere Konditionierung für die Revolution hatte bereits in den Konzentrationslagern begonnen», schreibt Heda Margolius 1986 in ihrem Bericht «Eine Jüdin in Prag». Man ist beeindruckt von der Disziplin, dem Idealismus und dem Mut der Kommunisten, die in den Lagern der Nazis eine Art Elite bilden. Hinzu kommt die Opferbereitschaft der Russen, die Hitlers Armeen unter Millionenverlusten zurück nach Mitteleuropa drängen und Anfang Mai 1945 Prag befreien.
«Nie wieder!», sagen sich die Überlebenden
Dass die Amerikaner ihre Panzer aus Rücksicht auf Josef Stalins Machtansprüche in Pilsen gestoppt haben und die russischen «Befreier» ihre eigenen Vorstellungen von Demokratie und Menschlichkeit haben, ahnt noch kaum jemand. Obwohl Stalin 1939 mit Hitler paktiert hat, um in Osteuropa einzufallen, und obwohl sein Regime Millionen Menschen versklavt und ermordet hat, inszenieren sich seine Anhänger nach dem Sieg über die Nazis als einzige Garanten für Frieden, Fortschritt und Demokratie. Die westlichen Alliierten dagegen stellen sie als Erben der Nazis dar, die ein zweites Auschwitz und einen dritten Weltkrieg wollen. Entsprechend ist in der kommunistischen Weltsicht jeder ein Faschist, der mit den «Yankees» sympathisiert oder die sowjetische Diktatur ablehnt.
Über den Terror und die Schauprozesse in der Sowjetunion, so erinnerte sich Heda Margolius, habe man zwar Bescheid gewusst. Aber man habe sich eingeredet, das sei eine vorübergehende Phase in den 1930er Jahren gewesen, wie der jakobinische Terror nach der Französischen Revolution. Freunde, die in der Sowjetunion gelebt haben, erzählen dem Ehepaar Margolius, wie brüderlich das Leben dort für alle Menschen sei, frei von Armut, Unterdrückung und Rassismus. So glauben die beiden, der Kommunismus sei das Gegenteil des Nationalsozialismus.
Wie viele Holocaustüberlebende haben sie ein schlechtes Gewissen. Dieses Gefühl beschreibt Heda Margolius so: «Warum war ich noch am Leben und nicht mein Vater, meine Mutter, mein Freund? Ich schuldete ihnen etwas. Sie waren an meiner Stelle gestorben. Um ihretwillen musste ich eine Welt aufbauen helfen, in der so etwas nie wieder geschehen konnte.» Im Dezember 1945 treten Heda und Rudolf Margolius in die KPC ein.
Politische Gegner erhalten mit Sprengstoff gefüllte Kapseln
Die Partei, der sich das Ehepaar verschreibt, strebt von Anfang an die totale Macht an in der wiederhergestellten Tschechoslowakei. «Es lebe unsere geliebte Partei», so heisst es in der Hymne der KPC, «es lebe Stalin, unser strahlendes Ideal, es lebe Klement Gottwald, unser Führer, darin liegt unsere Stärke, darin liegt euer Ruhm.» 1946 erhält die «geliebte» Partei 38 Prozent der Wählerstimmen. Danach nimmt ihre Popularität ab, aber ihre Vertreter besetzen die Schlüsselpositionen im Staat, das Innenministerium, die Sicherheitskräfte.
Mit Massendemonstrationen, Einschüchterungen und Drohungen bereiten die Kommunisten einen Staatsstreich vor. Politische Gegner erhalten unter anderem mit Sprengstoff gefüllte Kapseln, Stalin droht mit einem Militärschlag. Aus Angst vor einer sowjetischen Invasion gibt der demokratische Präsident Edvard Benes 1948 sein Amt an den Kommunistenführer Klement Gottwald ab. Aussenminister Jan Masaryk stirbt unter ungeklärten Umständen, bei einem Sturz aus dem Fenster. Kritikern aus dem Ausland entgegnet Gottwald, er verbitte sich Lektionen von Leuten, welche die Tschechoslowakei 1938 an Hitler verraten hätten. Zwei Tage nach der Machtübernahme der KPC verfügt der Bildungsminister, dass in jedem Schulzimmer ein Porträt von Josef Stalin hängen müsse.
«Man wird dich zum Sündenbock machen»
Rudolf und Heda Margolius profitieren zunächst von diesem Putsch. Der sprachgewandte Rudolf wird 1949 stellvertretender Aussenhandelsminister des Landes, er bekommt einen Dienstwagen und eine schöne Wohnung in der Veverkova, im Zentrum von Prag. Seine Aufgabe, das ist ihm bewusst, ist nicht ungefährlich. Da die sozialistische Planwirtschaft die Not nach dem Krieg mehr verschärft als lindert, soll er mit westlichen Staaten verhandeln, etwa mit Grossbritannien, das er schon als junger Mann besucht hat. Seine Frau warnt ihn: «Experten wie du werden auf die eigentlichen Entscheidungen keinen Einfluss haben. Aber man wird dich zum Sündenbock machen, wenn etwas schiefgeht.»
Die Sozialdemokraten kommen als Erste dran
Tatsächlich zeigt sich schon bald, dass die Kommunisten nicht daran denken, dem Volk «Freiheit und Demokratie» zu geben, wie die Propaganda behauptet. Kurz nach dem Putsch von 1948 lassen sie politische Gegner verhaften, 50 000 Menschen verschwinden in Lagern und Gefängnissen. Die sozialdemokratische Widerstandskämpferin Milada Horakova, die Gestapo-Keller und Zwangsarbeit im «Dritten Reich» überlebt hat, wird 1950 zusammen mit anderen «Verrätern» gehenkt. Überall, so verkünden kommunistische Funktionäre, lauerten faschistische Spione und Agenten, welche die geliebte Heimat an die Kapitalisten verraten wollten – auch in der eigenen Partei.
Die zwei mächtigsten Männer im Staat, Klement Gottwald und der KPC-Generalsekretär Rudolf Slansky, bitten Stalin um Hilfe, er solle Berater der Geheimpolizei schicken, um alle staatsfeindlichen Verschwörungen aufzudecken. Es herrscht ein Klima der Angst, des Misstrauens und des Opportunismus. Denunzianten schwärzen Bekannte an, bisher geachtete Beamte werden aus dem Staatsdienst entfernt, Ladenbesitzer gebärden sich als besonders eifrige Parteiaktivisten. Enteignet werden sie trotzdem, denn niemand ist sicher. Und auffällig viele Verhaftete sind Juden.
Die Frage, wie das Rudolf Margolius alles verdrängen konnte, haben sich Ivan und Heda später oft gestellt. Rudolf, so lautet ihre Erklärung, habe sich ganz seiner Sache verschrieben – und meist bis spät in die Nacht gearbeitet. Überzeugte Kommunisten wie er hätten gedacht, dass Opfer angesichts eines grossen Ziels gerechtfertigt seien. Den Fehler in der Ideologie selber zu erkennen – und nicht bei einzelnen Leuten –, hätte bedeutet, den Sinn des eigenen Lebens infrage zu stellen. Deshalb hätten sich viele Kommunisten lieber selber belogen, als ihre Ideale aufzugeben. Als sie ihn auf die vielen verhafteten Juden angesprochen habe, so schreibt Heda Margolius, habe ihr Mann geantwortet: «Sag bloss, du glaubst, alle Kommunisten seien Antisemiten! Hast du denn immer noch nichts verstanden?»
Kurz nach diesem Gespräch, am 23. November 1951, wird auch der Parteichef Rudolf Slansky verhaftet. Im Gegensatz zu Rudolf Margolius ist er tief in die Verbrechen des Regimes verstrickt. Er gehört zur Gründergeneration der KPC, den Zweiten Weltkrieg hat er im Exil in Moskau verbracht, im Gegensatz zu vielen anderen Genossen wird er von Stalin nicht vor ein Erschiessungskommando geschickt. Aber eines hat er mit Margolius gemeinsam: Auch er stammt aus einer jüdischen und bürgerlichen Kaufmannsfamilie. Als er abgeholt wird, glaubt er an einen Irrtum, protestiert in einem Brief an den Genossen Gottwald, er sei im Gegensatz zu allen anderen Verrätern wirklich unschuldig.
Die Juden sollen für den «Verrat» Israels büssen
Doch es ist kein Irrtum. Stalin hat bereits in den 1930er Jahren alte antisemitische Ressentiments benutzt, um jüdische Rivalen wie Leo Trotzki als angebliche Faschisten, Verräter und Gestapo-Agenten auszuschalten. Nun braucht er Juden und andere «Feinde», um wirtschaftliche Misserfolge in den sowjetisch kontrollierten «Volksdemokratien» Osteuropas auf angebliche Sabotageakte zurückzuführen. Sein Groll auf die Juden ist umso grösser, als sich der 1948 gegründete Staat Israel trotz militärischer Unterstützung durch die Sowjetunion nicht dem offiziell friedliebenden sozialistischen Lager anschliessen will. Für diesen Verrat sollen die «Zionisten» büssen – und so lanciert der Kreml Anfang der 1950er Jahre die grösste judenfeindliche Kampagne nach dem Zweiten Weltkrieg.
In der Sowjetunion sollen sich jüdische Ärzte gegen Stalin verschworen haben, es gibt Folterungen und Hinrichtungen. Der «Zionismus», so die kommunistische Botschaft, habe sich mit den neuen Faschisten, den amerikanischen Imperialisten und dem abtrünnigen jugoslawischen Diktator Tito, verbündet. Die «jüdische Bourgeoisie» ist Teil dieses Komplotts gegen den Sozialismus, und Israel ist ein Staat von raffgierigen Kriegstreibern. Der grosse Schauprozess, den Stalin 1952 in Prag plant, soll das aller Welt zeigen.
Vierzehn Angeklagte sollen es sein, Stalin will elf Todesurteile
Rudolf Margolius wird am 10. Januar 1952 verhaftet. Als er mit seiner dienstlichen Tatra-Limousine spätabends in die Veverkova einbiegt, wird die Strasse von Scheinwerfern grell erleuchtet. Alle im Quartier sollen sehen, was passiert. Schwarze Polizeiwagen stehen bereit, alle Fluchtwege sind versperrt, Geheimpolizisten fordern Margolius zum Aussteigen auf und nehmen ihm seine Aktenmappe ab. Wenige Tage zuvor haben Stasi-Agenten die Wohnung an der Veverkova verwanzt. Sie hören mit, wie die Familie Margolius mit Freunden Silvester feiert und der kleine Ivan das englische – und damit verdächtige – Wort «goodbye» sagt.
Spitzel im Quartier, unter ihnen eine Putzfrau und eine Concierge, haben die Partei zudem darüber informiert, dass sich die Familie sehr unproletarisch verhalte. Sie grüsse nicht, wie es sich gezieme, besitze ein Auto, erhalte viel Besuch von Ausländern und stamme von «jüdischen Kapitalisten» ab, die Arbeiter ausgebeutet hätten. Auf der Akte der Staatssicherheit, so wird Heda Margolius nach der Verhaftung ihres Mannes zugetragen, steht der Buchstabe S – S wie Slansky.
Das Drehbuch für den – wie er offiziell heisst – «Prozess gegen die Leitung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slansky an der Spitze» hat Stalin in seiner Datscha mit Klement Gottwald besprochen. Vierzehn Angeklagte sollen es sein, Gottwalds enger Freund Slansky muss die Hauptrolle spielen, und die Sowjets wollen elf Todesurteile.
Schlafentzug, Schläge und zwanzig Stunden Verhör
Die Verhafteten kennen sich zum Teil gar nicht, obwohl sie sich miteinander gegen das Volk, den Sozialismus und den Frieden verschworen haben sollen. Unter den Angeklagten: Arthur London, ein Spanienkämpfer, der das KZ Mauthausen überlebt hat; der Publizist Ludvik Frejka, ein alter Weggefährte Gottwalds; Otto Fischl, stellvertretender Finanzminister; Vladimir Clementis, Aussenminister; dazu kommen Sicherheitspolitiker und Beamte, die wegen ihrer internationalen Kontakte verdächtig sind.
Als Minister, der für den Handel mit dem westlichen Ausland zuständig ist, passt Rudolf Margolius perfekt in dieses Szenario. Mit den anderen Gefangenen wird er ins Ruzyne-Gefängnis im Westen von Prag eingeliefert. In den ungeheizten Zellen brennt Licht, die Gefangenen müssen im Kreis gehen, bis ihre Füsse wund sind, auch nachts werden sie alle zehn Minuten geweckt. Die Verhöre dauern bis zu zwanzig Stunden. Rudolf Margolius wird geschlagen, bis er aus Nase und Mund blutet. «Verräter», so beschimpfen ihn die Vernehmer, «Verbrecher», «Saboteur», «jüdische Sau» – und immer wieder: «Gestehe!» Man verabreicht ihm Spritzen, droht ihm, seine Frau zu verhaften, seinen Sohn zur Adoption freizugeben.
Slansky versucht, sich in der Zelle mit einem Kabel zu erhängen. Die Wärter legen ihm ein Halseisen an. Er halluziniert und wird von einem Zellenspitzel belauscht, wie er das Wort «smrt» murmelt, «Tod». Nach drei Monaten Folter gesteht er. Im Sommer 1952 hat die Geheimpolizei alle Unterschriften zusammen. Die Geständnisse sind zentral, denn Beweise gibt es keine.
«Im Namen des Friedens verlange ich die Todesstrafe»
Die Angehörigen der Angeklagten erfahren monatelang nichts. Sie wissen nicht, was ihnen vorgeworfen wird, wo sie sind und wie es ihnen geht. Heda Margolius bemerkt, wie sich die Leute im Quartier von ihr abwenden, die Genossin Concierge spuckt ihr vor die Füsse. Ihrem Sohn erzählt sie, der Vater sei auf Reisen. Was diesem droht, erfährt sie am 20. November 1952 aus der Parteizeitung «Rude Pravo» (rotes Recht). Vierzehn Angeklagte sind aufgelistet, hinter elf Namen steht: «jüdischer Herkunft».
Der Prozess beginnt am gleichen Tag. Präsident Gottwald verkündet, die Angeklagten hätten ihn vergiften wollen, ihr Ziel sei der Zionismus. Kaum ein antisemitisches Klischee wird ausgelassen, von der Geldgier über den Verrat bis zum Bild des schwächlichen Juden, verkörpert durch Slansky, der schon als junger Kommunist zu wenig standhaft gewesen sein soll, als er einmal verhaftet wurde. Mehrere Beschuldigte sollen im Krieg mit der Gestapo kollaboriert haben. Was vor Gericht gesagt wird, ist bis auf das letzte Wort vorbestimmt. Fünfzig Seiten muss Rudolf Margolius für seinen Auftritt auswendig lernen. Er erzählt, dass er schon 1945 ein Feind der Partei gewesen sei. Oder dass er Fleisch und Getreide ins Ausland verschoben habe, um das tschechoslowakische Volk hungern zu lassen. Alles Lügen, die live am Radio übertragen werden.
Falls jemand vom Text abweicht, hat die Partei vorgesorgt: Das Mikrofon würde abgestellt, der Text ab Band abgespielt. Weshalb die Angeklagten mitspielen, ist bis heute unklar. Sicher ist, dass sie ihre Familien vor Repressalien schützen wollen. Möglicherweise glauben sie auch, der Partei einen letzten Dienst erweisen zu müssen. Oder es wurde ihnen eine mildere Strafe versprochen, falls sie gestehen.
Als der Staatsanwalt Josef Urvalek mit schnarrendem Pathos seine Anträge stellt, ist jedoch klar, was die Beschuldigten erwartet. «Bürger Richter!», sagt er, «im Namen unseres Volkes, dessen Freiheit und Glückseligkeit durch diese Kriminellen gefährdet wurde, im Namen des Friedens, gegen den sie so schändlich konspiriert haben, verlange ich die Todesstrafe für alle Angeklagten. Möge unser Urteil gnadenlos sein, wie eine Faust aus Stahl.»
Im demokratischen Ausland löst der Prager Schauprozess Abscheu aus, besonders wegen dessen antisemitischer Untertöne. Doch die Verurteilung ist nicht einhellig. Wegen ihres Sieges über Hitler geniesst die Sowjetunion auch in Westeuropa grosse Sympathien. Stalintreue Parteien wie die französische KP erhalten fast 30 Prozent der Stimmen, und nicht wenige Intellektuelle teilen im Grundsatz die Ansicht, dass der Kommunismus etwas Gutes sei.
Sartre schweigt, deutsche «Antifaschisten» applaudieren
Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre etwa, der sonst alle möglichen Resolutionen und Proteste unterzeichnet, schweigt zum Slansky-Prozess. Religionen, so behauptet er zwei Jahre später, würden in der Sowjetunion nicht verfolgt, und wer das behaupte, werde von ihm «auf die Fresse» bekommen. Die kommunistische Presse Westeuropas lässt sich willfährig in die «antizionistische» Kampagne einspannen. «Die Prager Saboteure gestehen ihre Schandtaten», schreibt das Organ «Vorwärts» der Schweizer Partei der Arbeit am 25. November 1952. Die PdA hat bereits den Putsch von 1948 gefeiert, jetzt verhöhnt sie Rudolf Margolius als «Kapitalistensprössling» und Mitglied einer Bande von Verrätern.
Auch die von der DDR finanzierte Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in Westdeutschland, die sich bis heute an linken Demonstrationen gegen «rechts» beteiligt und sich für ihren angeblichen Einsatz für die Demokratie rühmt, begrüsst den Prozess gegen die «Staatsfeinde». Es gebe, so schreibt die antifaschistische Organisation 1952, «unwiderlegliche Dokumente», die ihre Schuld bewiesen. Dass es um Überlebende von Auschwitz, Mauthausen und Buchenwald geht, spielt keine Rolle.
Ein Sohn fordert die Todesstrafe für seinen Vater
In der Tschechoslowakei wird der Prozess von einer Welle des Judenhasses begleitet. Die Tochter von Arthur London wird von ihrem Lehrer als «dreckige Jüdin» beschimpft. Rund 8500 Resolutionen und Telegramme gehen während des Prozesses bei der Partei ein. Absender sind Parteimitglieder, Schriftsteller, Fabrikarbeiterinnen, Schulklassen, Gewerkschafter. Sie fordern Vergeltung und Tod für die zionistischen Verräter.
«Vipern» werden die Angeklagten in der Parteipresse genannt, «Judasgesichter», «ekelhafte Ausgeburten des Kapitalismus», «Hunde, die wie Hunde sterben sollen». Angehörige distanzieren sich öffentlich, der Sohn von Ludwig Frejka verlangt in einem offenen Brief die Todesstrafe für seinen Vater, «und es ist mein Wunsch, dass man ihm diesen Brief vorliest».
Ivan Margolius lebt zu jener Zeit bei Verwandten in Bratislava, denn in Prag ist er von den anderen Kindern geschnitten worden. Am 27. November 1952 verkündet Radio Prag die Urteile: dreimal lebenslange Haft, elfmal Tod durch den Strang.
Heda Margolius darf ihren Mann am 2. Dezember zum letzten Mal besuchen. Er ist ins Pankrac-Gefängnis verlegt worden, wo die Nazis wenige Jahre zuvor über tausend Menschen ermordet haben. Während des Gesprächs sitzt er hinter einem Gitter. Sie rauchen zusammen, er bittet sie, den Namen ihres Sohnes zu ändern, damit er nicht unter seiner Herkunft leide. In seiner Zelle sei ein Mann gewesen, der Musik genauso liebe wie er. Sie hätten es geschafft, das gesamte Cellokonzert von Dvorak zu pfeifen. Kurz bevor Heda gehen muss, sagt er ihr, dass er ein gutes Buch gelesen habe. Es trage den Titel «Männer mit reinem Gewissen».
Die Hand dürfen sie sich nicht reichen. Als sich die Tür hinter ihm schliesst, versagen Heda Margolius die Knie. Wenige Stunden später, am 3. Dezember um 4 Uhr 25, wird ihr Mann gehängt. Er stirbt, ohne ein letztes Wort.
Die meisten Verantwortlichen werden nie belangt
Der als Antizionismus verbrämte Antisemitismus, den die Sowjetunion Anfang der 1950er Jahre in die Welt setzt, lebt nach den Prager Justizmorden weiter. Er gedeiht in der arabischen Welt, die nach dem «Verrat» Israels zum neuen Ziel sowjetischer Einflussversuche wird, aber auch in der radikalen Linken Westeuropas. Er breitet sich an Universitäten aus und bringt heute wieder vermeintlich antifaschistische Demonstranten dazu, Parolen wie «Zionismus ist Faschismus» zu verbreiten.
Für die Familien der Hingerichteten geht der Albtraum jahrelang weiter. Heda Margolius wird nach der Verhaftung ihres Mannes geächtet. Als Frau eines «Verräters» will sie niemand anstellen, sie muss sich unter widrigsten Umständen durchschlagen und ihre späteren Arbeiten als Übersetzerin unter anderem Namen veröffentlichen. Ihr Sohn Ivan erfährt die Wahrheit über seinen Vater erst mit Vierzehn. In einer Schublade entdeckt er ein schriftliches Protokoll des Prozesses – und den Namen seines Vaters. «Ich hatte immer gedacht, dass etwas nicht stimmt», sagt er. «Aber ich habe meiner Mutter nichts gesagt und gewartet, bis sie bereit ist. Etwa zwei Jahre später hat sie mir alles erzählt.»
Die meisten Verantwortlichen für das Prager Justizverbrechen sind nie belangt worden. Stalin und Gottwald sterben wenige Monate nach dem Prozess. Drei Minister werden später entlassen, zwei Folterer kurz inhaftiert. Der Staatsanwalt Josef Urvalek bleibt unbehelligt, in einem Interview behauptet er wie viele Handlanger von Diktaturen, er habe nichts gewusst, von den Folterungen, den erpressten Geständnissen. Und natürlich versichert er, bloss auf Befehl von oben gehandelt zu haben.
Bis 1989 werden in der Tschechoslowakei 205 000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert und 245 exekutiert. 4500 sterben in der Haft, 327 bei Fluchtversuchen an der Grenze. 171 000 flüchten aus dem vermeintlichen Arbeiterparadies.
Der Abschiedsbrief des Vaters
Offiziell entschuldigt hat sich der tschechoslowakische Staat nie bei den Opfern des Slansky-Prozesses. Im Zuge des politischen Tauwetters, das nach Chruschtschows Abrechnung mit dem Stalinismus einsetzt, werden die Verurteilten 1963 juristisch rehabilitiert, aber nur geheim. Die Familien erhalten eine lachhafte Entschädigung. Im Zuge des Prager Frühlings von 1968 werden die Opfer auch politisch rehabilitiert und mit Orden ausgezeichnet, was jedoch bald nichts mehr zählt, weil sowjetische Panzer den «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» niederwalzen.
Seit dem Ende der kommunistischen Diktatur hat Ivan Margolius an sämtliche tschechische Präsidenten geschrieben, an Vaclav Havel und Vaclav Klaus. Bis anhin fühlt sich niemand dafür zuständig, all die Verleumdungen aus der Welt zu schaffen, die einst über die Hingerichteten verbreitet wurden. Von Russland ist noch weniger zu erwarten, zumal Wladimir Putin die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen gestoppt hat. Mit seiner Behauptung, er müsse in der Ukraine den Faschismus bekämpfen, offenbart er seine Affinität zu alten sowjetischen Propagandaverdrehungen.
«Mir geht es nicht um Bestrafung, sondern um die Wahrheit», sagt Ivan Margolius. Zum wenigen, was ihm von seinem Vater geblieben ist, gehört ein Abschiedsbrief vom 3. Dezember 1952. «Mein lieber Ivan», heisst es darin, «viele Jahre werden vergangen sein, bevor du diesen ersten und letzten Brief von mir bekommst. Jetzt wirst du erwachsen sein und das Leben und das Ende deines Vaters richtig verstehen. (. . .) du wirst dich nicht an mich erinnern, dein Geist wird alle Erinnerungen getilgt haben, wie wir zusammen gespielt haben, zu Hause und in der Natur, am Teich und im Schnee der Berge. Du erinnerst dich nicht, und das ist gut. Du kannst mein Leben beurteilen und nüchtern deine Schlüsse ziehen. Ich habe der Gesellschaft schwer geschadet und ich wurde dafür zu Recht verurteilt. (. . .) Die Welt ist schön, Ivan, und du hast die Chance, sie noch schöner zu machen, für dich und deine Mitmenschen.»
Heda Margolius Kovaly: Eine Jüdin in Prag. Unter dem Schatten von Hitler und Stalin. Berlin 1992. Ivan Margolius: Reflections of Prague. Journeys through the 20th century. Chichester 2006. Heda Margolius Kovaly und Helena Trestikova: Hitler, Stalin and I. An Oral History. Los Angeles 2018.