Weil sich die Sicherheitslage verbessert habe, seien Wegweisungen nach Afghanistan in bestimmten Fällen wieder zumutbar. Die Schweizer Flüchtlingshilfe sieht dies anders.
Aus keinem anderen Land kommen derzeit so viele Asylbewerber in die Schweiz wie aus Afghanistan. Im vergangenen Jahr stellten über 8600 Afghaninnen und Afghanen in der Schweiz laut Asylstatistik ein Gesuch. Das ist noch immer eine Folge der Machtübernahme durch die Taliban vor dreieinhalb Jahren. Rund die Hälfte der Gesuchsteller erhält Asyl. Aber auch von der übrigen Hälfte bleiben die meisten als vorläufig Aufgenommene im Land, weil eine Rückkehr nicht zumutbar ist.
Doch nun ändert das Staatssekretariat für Migration (SEM) diese Praxis überraschend. Alleinstehende Männer, deren Asylgesuch abgelehnt wurde, können ab Mitte April unter bestimmten Umständen wieder weggewiesen werden. Die Rückkehr nach Afghanistan sei nun in gewissen Fällen zumutbar, schreibt das SEM in einer Medienmitteilung vom Donnerstag.
Frauen, Kinder und Familien sind nicht betroffen
Gemeint sind damit nichtvulnerable Männer, die sich ohne Familie in der Schweiz aufhalten, volljährig und gesund sind. Zudem müssen die betroffenen Personen über ein stabiles und tragfähiges Beziehungsnetz in der Heimat verfügen. Frauen, Familien und minderjährige Asylsuchende seien von der Praxisänderung nicht betroffen: Sie würden weiterhin vorläufig aufgenommen.
Wie viele Personen nun mit einer Wegweisung rechnen müssen, kann das SEM nicht genau beziffern. Es sei aber mit einer verhältnismässig geringen Anzahl von afghanischen Männern zu rechnen, die in die definierte Kategorie fielen, erklärt eine Sprecherin auf Anfrage. Kontrollierten Wegweisungen stehe jedoch nichts im Wege: Der Flugverkehr nach Kabul habe sich stabilisiert, und der Flughafen sei normal in Betrieb. Aus Europa ist Kabul mit Zwischenstopps, beispielsweise in Doha oder Istanbul, erreichbar.
Personen, die weggewiesen würden, erhielten neben der Rückkehrberatung und der Organisation der Ausreise eine finanzielle Starthilfe, erklärt das SEM. Diese beträgt maximal 1000 Franken pro Person. Hinzu kommen bei Bedarf eine medizinische Unterstützung sowie eine materielle Projekthilfe. Diese beträgt höchstens 3000 Franken und dient der Realisierung eines – meist beruflich ausgerichteten – Wiedereingliederungsprojektes nach der Rückkehr.
Hintergrund für die Praxisänderung ist eine aktualisierte Lageanalyse. Neuere Berichte zeigten, dass sich die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan im Vergleich zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 «landesweit deutlich verbessert» habe, so das SEM. Auch die soziale und wirtschaftliche Situation verbessere sich leicht. Davon könnten arbeitsfähige und volljährige Männer mit intaktem Beziehungsnetz profitieren.
«Keineswegs verbessert – im Gegenteil»
Der Druck auf eine Praxisänderung ist in der Politik schon vor Monaten angestiegen. Ein Artikel in der NZZ hatte die Debatte im vorletzten Winter zusätzlich angeheizt. Weil das Land infolge der Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr umkämpft sei, sei die Gefahr für Leib und Leben kleiner geworden, hiess es in dem Artikel. Die Lebensbedingungen seien schlecht und eine Rückkehr deshalb noch nicht zumutbar, schrieb der Bundesrat jedoch vor gut einem Jahr aus Grundlage damaliger Analysen.
Für die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) ist die Praxisänderung auch heute noch nicht nachvollziehbar, erklärt sie auf Anfrage. Sie hält Rückführungen nach Afghanistan derzeit und in absehbarer Zukunft nicht für zumutbar. Laut SFH vorliegenden Länderinformationen zufolge hat sich die Lage im Land im Laufe der Zeit «keineswegs verbessert – im Gegenteil».
Es fehlten stabile staatliche Strukturen und die Regierungsführung sei willkürlich. Das Risiko von Misshandlungen oder anderen Menschenrechtsverletzungen könne deshalb im Falle einer Rückführung nicht ausgeschlossen werden. Zudem leide Afghanistan nach wie vor unter einer grossen humanitären und sozialen Krise, die die ganze Bevölkerung betreffe.
Debatte über sichere Herkunft auch in Deutschland
Bemerkenswert ist der Entscheid aus dem Departement von Justizminister Beat Jans auch deshalb, weil sich andere europäische Länder mit Wegweisungen nach Afghanistan bisher noch zurückhalten. In Deutschland soll die Asylpolitik nach der wahrscheinlichen Regierungsübernahme unter Führung von Friedrich Merz zwar verschärft werden. Unter anderem könnte die Liste der sicheren Herkunftsstaaten erweitert werden.
Derzeit erhalten aber grundsätzlich noch immer alle afghanischen Asylsuchende subsidiären Schutz, der mit der vorläufigen Aufnahme in der Schweiz vergleichbar ist. Kritik gibt es zur Zeit allerdings an Charterflügen aus Afghanistan, mit denen gefährdete afghanische Staatsangehörige nach Deutschland gebracht werden, die bis 2021 vor Ort für deutsche Institutionen tätig waren.
Auch Österreich hat seine Haltung gegenüber der Rückkehr afghanischer Asylbewerber in den letzten Monaten deutlich verändert, jedoch noch keinen Entscheid getroffen. Im Januar reiste eine Delegation des Innenministeriums nach Kabul, um mit dem Regime die Rücknahme von Flüchtlingen zu erörtern. Österreich erklärte damals, es strebe ein koordiniertes Vorgehen mit anderen EU-Ländern an.
Das SEM sagte auf Anfrage, aufgrund der unterschiedlichen Asylsysteme sei ein direkter Vergleich mit dem Ausland schwierig. Die Schweiz stehe aber mit der Fokussierung auf die definierte Personengruppe nicht alleine da. Auch Länder wie Österreich, Deutschland, die Niederlande, Dänemark oder Norwegen hätten junge, gesunde und arbeitsfähige Männer als Kategorie identifiziert, für die eine Wegweisung unter Umständen zumutbar sei.
Ein Schweizer Sonderflug nach Kabul
Die Praxisänderung des SEM bedeutet bereits einen zweiten Schritt auf dem langen Weg zu einer allfälligen Normalisierung. Im letzten Oktober schaffte sie rechtskräftig verurteilte Straftäter nach Kabul aus. Dem Unterfangen war eine monatelange Planung vorausgegangen. Weil die Schweiz in Kabul derzeit keine diplomatische Vertretung unterhält, erwies sich die Rückführung als überaus komplex. Auch bei dieser Operation lag die Schweiz vor vielen anderen europäischen Ländern. Zuvor hatte einzig Deutschland einen solchen Flug organisierte. Zu allenfalls weiteren geplanten Rückführungsaktionen wollte sich das SEM am Donnerstag nicht äussern.
Das SEM hatte den Vollzug von Wegweisungen nach Afghanistan am 11. August 2021 ausgesetzt, weil sich die Situation nach der Machtübernahme der Taliban verschlechtert hatte und eine Rückkehr als generell unzumutbar erachtet wurde. Davon ausgenommen waren einzig erheblich straffällige Personen oder solche, die eine Gefährdung für die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz darstellen.