Die Bedingungen in den veralteten englischen Gefängnissen sind prekär. Nun zwingen sie die neue Labour-Regierung zu unpopulären Sofortmassnahmen.
Der 44-jährige Dwaine Patterson hat mehr als die Hälfte seines Lebens hinter Gittern verbracht. Zuerst sass er als Minderjähriger längere Zeit im Jugendknast. Dann verbrachte er 22 Jahre am Stück in mehreren Anstalten in ganz England, 7 davon in Isolationshaft in einem Hochsicherheitstrakt. Gegen Ende seiner Gefängniskarriere genoss er innerhalb des Strafvollzugs etwas mehr Freiheiten, bis er vor gut einem Jahr entlassen wurde.
Beim Gespräch in London wirkt Patterson wie ein Mann, der innerlich gestärkt und geläutert aus der Haft hervorgegangen ist. Er sagt, er bereue die Gewaltverbrechen, die er als Jugendlicher und junger Mann begangen habe. Seine heutige Tätigkeit als Motivationscoach und Jugendarbeiter beruht auf seiner Gefängniserfahrung.
Und doch fällt sein Urteil über die Zustände im englischen Strafvollzug vernichtend aus. «Die meisten Gefängnisse sind archaisch», sagt er. Patterson erzählt von Ratten, Kakerlaken, fehlender Heizung, katastrophalen sanitären Zuständen, dem Ausbruch von Krankheiten wie Krätze oder Hepatitis. Wegen Platznot würden oft zwei Häftlinge in Einzelzellen gesteckt, die notdürftig mit einer zusätzlichen Pritsche versehen worden seien. «Zum Glück habe ich eine Familie, die mir immer wieder Essen ins Gefängnis schickte», sagt Patterson. «Denn seien wir ehrlich: Der Bevölkerung ist es egal, dass Häftlinge zu wenig und schlechte Nahrung bekommen.»
Labour-Regierung ergreift Sofortmassnahmen
Pattersons Schilderungen decken sich mit dem Befund des britischen Gefängnisinspektorats. In ihrem Jahresbericht von 2023 zeichnen die staatlichen Aufseher ein Bild von überbelegten Gefängnissen, schmutzigen Zellen, erbärmlichen sanitären Bedingungen, Personalmangel bei den Aufsehern und Gewalt unter den Insassen. In England und Wales sitzen rund 88 000 Personen in Haft. Das übersteigt die offizielle Kapazität der Gefängnisse um mehr als 10 Prozent. Anfang Juli teilte die Vereinigung der englischen Gefängnisleiter mit, in den Haftanstalten werde es innert kürzester Zeit schlicht keinen Platz mehr geben.
Die Gefängnis-Krise gehört zu den ersten Problemen, mit denen sich die frisch gewählte Labour-Regierung von Premierminister Keir Starmer herumschlagen muss. Wegen der Kapazitätsengpässe wurden bisher ohnehin die meisten Häftlinge entlassen, nachdem sie die Hälfte ihrer Strafe abgesessen hatten. Nun hat die Labour-Regierung angekündigt, dass Straftäter bereits nach Verbüssung von 40 Prozent ihrer Strafe aus den Gefängnissen entlassen werden sollen. Sexualstraftäter und schwere Gewaltverbrecher sollen von dieser Notmassnahme freilich ausgenommen werden.
Dennoch dürften in den kommenden Monaten rund 4000 Männer und 1000 Frauen frühzeitig entlassen werden. Justizministerin Shabana Mahmood schob die Schuld für den unpopulären Schritt der konservativen Vorgänger-Regierung in die Schuhe, welche die Krise habe eskalieren lassen. Gleichzeitig betonte sie, es führe kein Weg an den frühzeitigen Entlassungen vorbei. Denn könnten Verbrecher nicht mehr eingesperrt werden, drohe der totale Zusammenbruch von Recht und Ordnung.
Harte Strafen
Laut Theo Clay, Experte für Strafvollzug bei der britischen Stiftung New Philanthropy Capital, hat die missliche Lage mehrere Ursachen. Er nennt im Gespräch zuallererst den schlechten baulichen Zustand der staatlichen Gefängnisse, die zu einem beträchtlichen Teil noch aus der Viktorianischen Zeit stammen. «Heute stecken wir mehr Insassen in die kleinen Zellen, als die Viktorianer im 19. Jahrhundert vorgesehen hatten», erklärt Clay.
Um auf den steigenden Bedarf zu reagieren, vergab der britische Staat ab den neunziger Jahren Lizenzen für private Gefängnisse. Diese sind wesentlich moderner und nehmen inzwischen rund 15 Prozent aller Häftlinge auf. In den staatlichen Institutionen bleibt aber der Investitionsbedarf hoch. Zudem fällt es der Regierung schwer, genügend Wärter zu rekrutieren. «Die Gefängnisse haben die höchste Personalfluktuation im öffentlichen Dienst», sagt Clay. Die Arbeit gelte als gefährlich und unterbezahlt, weshalb es an erfahrenen Mitarbeitern mangele.
Schliesslich verweist Clay auf die hohe Zahl von Inhaftierungen, die zur Überbelegung führe. Die Pandemie habe zu einem enormen Rückstau an den Gerichten geführt, was die Zahl der Verurteilungen nachträglich in die Höhe habe schiessen lassen. Doch laut Clay sind die Hauptursachen kultureller und politischer Natur. Grossbritannien weist eine Quote von etwa 145 Insassen pro 100 000 Einwohner auf, was dem höchsten Wert in ganz Westeuropa entspricht.
«Das britische Justizsystem kennt vergleichsweise strenge Sanktionen», erklärt Clay. In vielen kontinentaleuropäischen Ländern wie der Schweiz sind die Gedanken der Erziehung und Wiedereingliederung leitend, weshalb mehr kürzere und bedingte Haftstrafen ausgesprochen werden. In Grossbritannien hingegen steht laut Clay die Bestrafung im Zentrum. So komme es auch bei Bagatelldelikten wie kleineren Ladendiebstählen oder Drogenvergehen zu unbedingten Gefängnisstrafen – oder wenn jemand im wiederholten Fall die Lizenzgebühren für den öffentlichrechtlichen Sender BBC nicht bezahle.
An diesem harten Kurs ist die Labour-Partei mitschuldig. Der markanteste Anstieg der Häftlinge fiel vielmehr in die Amtszeit von Tony Blair. Der Labour-Premierminister erhöhte das Strafmass für viele Delikte und buhlte mit seiner Law-and-Order-Politik um die Gunst der rechten Boulevardzeitungen. Die nach 2010 regierenden Konservativen setzten diese Politik fort. Die Folge: Von 2003 bis 2023 hat sich die durchschnittliche Dauer der von den Gerichten ausgesprochenen Haftstrafen von gut 12 Monaten auf fast 21 Monate nahezu verdoppelt.
Transformation im Gefängnis
Dwaine Pattersons Weg zum Kriminellen bahnte sich bereits in seiner Kindheit an. Er wuchs mit seiner alleinerziehenden Mutter in einer Sozialsiedlung im Süden Londons auf, dort lebten viele der Anwohner mit Wurzeln in Afrika oder der Karibik in ärmlichen Verhältnissen. Als Knirps schloss er sich im Quartier einer Gang an, im Alter von 13 Jahren schnitt er einem Mitglied einer rivalisierenden Bande einen Finger ab. In der Jugendstrafanstalt seien Schlägereien an der Tagesordnung gewesen. «Dort habe ich gelernt, alle Konflikte mit extremer Gewalt zu lösen», so erinnert sich Patterson.
Nach seiner Entlassung im Alter von 18 Jahren beteiligte er sich an Raubüberfällen und stieg zum Anführer einer Gang auf. Als er wenige Jahre später in einem Bandenkrieg mit einer Pistole auf zwei Passagiere eines fahrenden Autos schoss, wurde er wegen versuchten Mordes angeklagt. Angesichts seiner kriminellen Vorgeschichte und seiner Gewaltbereitschaft belegte ihn der Richter mit 22 Jahren Haft.
Im Rückblick sagt Patterson, er habe Mitglieder rivalisierender Gangs nicht als Menschen wahrgenommen, sondern als Hindernisse auf seinen kriminellen Missionen. Umso bemerkenswerter ist die Transformation, die er im Gefängnis vollzog. In der siebenjährigen Isolationshaft, als Patterson während 23 Stunden pro Tag keinerlei soziale Kontakte hatte, fand er im muslimischen Glauben Halt. Zudem orientierte er sich an einem älteren Mentor, der ihn Selbstkontrolle und Disziplin lehrte. Heute zitiert er Sätze wie: «Die Welt ist der Lehrer des Weisen und der Feind des Narren.»
Innerhalb des Strafvollzugs stellt Patterson mit seinem Wandel aber eher die Ausnahme als die Regel dar, wie er selber sagt. Im Gefängnisalltag seien die Repression durch Gangs, Gewalt und Drogensucht allgegenwärtig. Einmal musste er mit ansehen, wie ein Häftling einem anderen von hinten die Kehle durchschnitt. Ein anderes Mal wurde Patterson Zeuge, als ein Insasse einem Rivalen kochendes Öl über das Gesicht goss.
Engpässe ermöglichen spektakuläre Flucht
Besonders gravierend sind die Zustände im Gefängnis Wandsworth im Süden von London. Die 1851 erbaute Haftanstalt wirkt mit ihren imposanten Backsteinmauern und dem vergitterten Tor wie eine Ritterburg. Die grosse Turmuhr mit römischem Zifferblatt erinnert an eine altertümliche Schule. Der Stacheldraht lässt jedoch erahnen, dass es sich beim Gebäude um eines der grössten Gefängnisse in Westeuropa handelt.
Im Herbst gelang einem Terrorverdächtigen die Flucht aus Wandsworth. Er hatte sich an die Unterseite eines Lieferwagens geklammert, als dieser nach der Aushändigung von Esswaren die Strafanstalt verliess. Der filmreife Ausbruch machte deutlich, dass der Mangel an Aufsehern und die Überbelegung der Gefängnisse ein enormes Sicherheitsrisiko darstellen können.
Als der Chefinspektor Charlie Taylor das Gefängnis ein halbes Jahr später besuchte, traute er seinen Augen nicht. An der Überbelegung, der katastrophalen Hygiene und dem Personalmangel habe sich nichts geändert, befand Taylor im Mai. Die überforderten Wärter seien der Verzweiflung nah, jeden Tag sei etwa ein Drittel des Personals wegen Krankheit abwesend.
Keine Haft für Kleinkriminelle?
Die Probleme im Strafvollzug sind nicht neu – und schon lange bekannt. Unter Boris Johnson hatte die konservative Regierung versprochen, bis Mitte des laufenden Jahrzehnts 20 000 neue Gefängnisplätze zu schaffen. Wegen Verzögerungen steht aber erst knapp ein Drittel davon bereit. Die Zahl der Gefängnisinsassen wird derweil laut Prognosen bis 2028 von 88 000 auf 115 000 weiter ansteigen, womit der Mangel an Haftplätzen nicht geringer werden wird.
Unter Premierminister Rishi Sunak hatte die konservative Regierung in den Monaten bis zur Unterhauswahl zunehmend verzweifelte Sofortmassnahmen ergriffen. Ausländische Kriminelle liess man teilweise bereits nach kurzer Haft wieder frei – wenn sie wie der ehemalige Tennisstar Boris Becker versprechen, sogleich in ihre Heimat auszureisen. Die Regierung wälzte Pläne, im Ausland Gefängnisplätze mieten, um die Überbelegung im Inland zu mildern. Im Frühling wurden die Polizeichefs sogar angewiesen, vorübergehend weniger Verhaftungen vorzunehmen.
Laut dem Strafrechtsexperten Theo Clay stecken die britischen Politiker im Dilemma. Entweder weite der Staat die Pläne zum Bau neuer Gefängnisse und zur Renovation veralteter Haftanstalten massiv aus, wozu freilich das Geld fehle. Oder Grossbritannien wage sich an eine Liberalisierung des Strafrechts heran und setzte vermehrt auf Alternativen zum Gefängnis wie elektronische Fussfesseln, Sozialarbeit oder Rehabilitationskliniken für Drogenkriminelle.
Die Stossrichtung der Tory-Regierung in der Strafgesetzgebung mutete in den letzten Jahren widersprüchlich an. Einerseits beschloss die Regierung, Ladendiebe und Vandalen härter zu bestrafen. Andererseits brachte die Regierung eine Gesetzesrevision ins Parlament, die es den Richtern ermöglichen sollte, Gefängnisstrafen mit einer Dauer von weniger als einem Jahr in Sozialdienst umzuwandeln. Doch die Vorlage stiess auf den erbitterten Widerstand des rechten Parteiflügels.
Die neue Labour-Regierung droht sich nun auch in Widersprüchen zu verheddern. Aus Angst, gesellschaftspolitisch konservative Wähler zu verprellen, geben sich Starmer und seine Kabinettsmitglieder gerne als Law-and-Order-Politiker. Im Wahlkampf hatte der neue Premierminister immer wieder auf seine Erfahrung als ehemaliger Leiter der Staatsanwaltschaft verwiesen, der unzähligen Kriminellen das Handwerk gelegt habe.
Als Zeichen für eine mögliche Liberalisierung gilt aber die Ernennung von James Timpson zum Junior-Minister für Gefängnisse. Der CEO einer Firma, die Schlüssel herstellt und Schuhe repariert, ist kein gewählter Parlamentarier, sondern ein Verfechter einer Strafrechtsreform. Timpson stellt immer wieder ehemalige Gefängnisinsassen an, denen er die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtert. Und er hatte vor seiner Ernennung zu Minister die Ansicht geäussert, dass nur ein Drittel der britischen Häftlinge wirklich hinter Gitter gehörten.
Auch Experte Theo Clay hält namentlich kurze Gefängnisstrafen nicht für das beste Mittel zur Kriminalitätsbekämpfung, wie er sagt. Kleinkriminelle knüpften hinter Gittern rasch Beziehungen zu Schwerverbrechern, was gemäss Studien zu einer hohen Rückfallquote beitrage. Dwaine Patterson glaubt ebenfalls, dass das Gefängnis ein Sprungbrett für eine lange kriminelle Laufbahn sein kann. «80 Prozent der Insassen sitzen aus gutem Grund hinter Gittern», sagt er. «Das ist keine Gesellschaft, in der man lernt, Probleme auf zivilisierte Art zu lösen.»