Einer der mächtigsten Akteure der Schweizer Politik steht vor einem Neustart – nicht nur personell. Der Gewerbeverband hat keine grundsätzlichen Bedenken mehr gegen das EU-Paket.
Alles neu macht der Mai. Am Mittwoch hat der neue Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV) seinen ersten offiziellen Arbeitstag: Urs Furrer, freisinniger Rechtsanwalt aus dem Aargau. Bis anhin hat er die Interessen der Schokoladefabrikanten vertreten. Nun übernimmt er einen der einflussreichsten Posten, der in der Schweizer Politik zu finden ist. Am Dienstag hatte Furrer am Gewerbekongress in Bern seinen ersten öffentlichen Auftritt. Wie wird er die Möglichkeiten nutzen, die sich ihm eröffnen?
Welche Wirkung der «oberste Gewerbler» entfalten kann, hat Furrers Vorgänger eindrücklich bewiesen: Hans-Ulrich Bigler hat den Verband während 15 Jahren nicht nur geführt, sondern gründlich verändert. Er hat es verstanden, die Wahrnehmung und die Schlagkraft des SGV markant zu steigern.
Bigler war so präsent wie umstritten, mehrmals eckte er auch intern an, etwa mit seinen Feldzügen gegen die SRG. Gelegentlich legte er sich auch mit Economiesuisse an, beschwor einen Gegensatz zwischen lieben Gewerblern und bösen Konzernen. Dass Bigler 2022 von der FDP zur SVP wechselte, hat kaum jemanden überrascht. Nach einigen Misstönen bei seinem Abgang Mitte letzten Jahres hat er sich nun am Dienstag störungsfrei verabschiedet.
Selbstkritik nach der AHV-Abstimmung
Die Erwartungen des Verbands an seinen Nachfolger lassen sich relativ einfach umschreiben: Urs Furrer soll weiterhin klare Positionen vertreten, den Ton aber mässigen. Der SGV will weniger laut politisieren und die Zusammenarbeit mit den anderen Wirtschaftsverbänden verbessern. Furrer selbst sprach sich bei seinem Auftritt dafür aus, diese Kooperation zu vertiefen, aber nicht um jeden Preis.
Meinungsverschiedenheiten seien weiterhin möglich. Wenn andere Verbände Sonderinteressen vertreten oder sich dem Zeitgeist beugen sollten, wird der SGV laut Furrer auf seinen Positionen beharren. Mit Blick auf die jüngsten Abstimmungsniederlagen der Wirtschaft sagte er, das Ziel müsse sein, dass die Bevölkerung weniger an Konzerne und Manager denke, wenn sie das Wort Wirtschaft höre, sondern an das Gewerbe. In der Sache äusserte sich Furrer vor allem zur Energiepolitik klar: Er will sich für einen umfassenden Ausbau einsetzen, bei dem auch die Atomkraft eine Option sein müsse.
Furrers Chef, der Verbandspräsident Fabio Regazzi, der am Dienstag diskussionslos wiedergewählt worden ist, zeigte sich selbstkritisch. Der Tessiner Unternehmer und Mitte-Ständerat sagte, die Niederlage in der Abstimmung über die 13. AHV-Rente habe gezeigt, dass die Wirtschaft immer noch zu langsam sei. Künftig müssten die Verbände und die bürgerlichen Parteien früher mobilisieren, zudem benötigten sie mehr Exponenten, die sich persönlich engagieren und Aufmerksamkeit schaffen.
Präsident verkündet Richtungswechsel
Mit dem neuen Direktor dürfte sich nicht nur der Stil des SGV ändern. Auch inhaltlich sind im einen oder anderen Dossier neue Töne denkbar. Den ersten Akzent setzte jedoch – und auch dies ist ungewohnt – nicht der Direktor, sondern der Präsident. Offenkundig will Regazzi fortan auch öffentlich eine stärkere Rolle spielen, als dies mit Bigler möglich war.
Für die erste Duftnote hat er sich ein ebenso wichtiges wie schwieriges Dossier ausgesucht: die Verhandlungen mit der EU. Der Gewerbeverband biglerscher Prägung war bei diesem Thema stets sehr kritisch. Als der Bundesrat 2021 den ersten Anlauf in dieser Sache abbrach, reagierten die meisten Wirtschaftsverbände konsterniert – der SGV hingegen applaudierte und sprach von einem «Akt der Vernunft».
Heute klingt es anders. «Wir werden künftig stärker gewichten, dass neue Verträge mit der EU für viele KMU sehr wichtig sind», sagt Fabio Regazzi in einem Interview mit der «Sonntags-Zeitung». Er versucht gar nicht erst, den Richtungswechsel zu verheimlichen. Zwar gebe es weiterhin kritische Punkte, etwa die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bei der Streitschlichtung sowie die Bedenken gegenüber einer Zuwanderung in die Sozialwerke.
Aber Regazzi zeigt sich einerseits kompromissbereit beim EuGH und andererseits zuversichtlich, dass die vorgesehenen Absicherungen bei der Einwanderung ausreichen werden. Fazit: «Wir haben hier keine grundsätzlichen Einwände mehr.»
Auch Regazzi hat sich bewegt
Das Plädoyer für eine Einigung mit der EU ist umso überraschender, als sich viele Befürworter bis jetzt eher zurückhalten, während die Gegner um die SVP bereits kräftig mobilisieren. Dass sich der SGV nun so klar positioniert, wird man im Bundesrat – namentlich im Departement von Aussenminister Ignazio Cassis – mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen. Das Gewerbe könnte innenpolitisch eine wichtige Rolle spielen. Insbesondere kann der SGV glaubwürdiger gegen die Gewerkschaften antreten als andere Wirtschaftsverbände, weil für ihn der Lohnschutz ebenfalls entscheidend ist.
Regazzi serviert auch gleich potenzielle Pro-Argumente. Nicht nur grosse Konzerne, sondern auch 40 Prozent der KMU seien exportorientiert. Viele von ihnen würde ein Scheitern des Pakets «hart treffen», sagt er. Lasse man die Verträge erodieren, würden Ausfuhren in den EU-Raum zunehmend komplizierter. «Immer mehr Normen und Vorschriften wären nicht mehr kompatibel, was den Export erschweren oder gar unwirtschaftlich machen würde.» Es sei damit zu rechnen, dass Firmen abwandern würden.
Man darf gespannt sein, welche Rolle das Gewerbe und Regazzi in den anstehenden Diskussionen spielen werden. Nicht nur der SGV, sondern auch der Präsident persönlich hat europapolitisch einen gewissen Weg hinter sich. Als kritische Unternehmer 2020 den Verein Autonomiesuisse gründeten, um den damaligen Rahmenvertrag zu bekämpfen, war auch Regazzi dabei. Mittlerweile hat er die Gruppe verlassen.