Seit den letzten Wahlen halten sich zwei Lager exakt die Waage, die Klima-Allianz und der bürgerliche Block. Was sind die Folgen?
An einem Montagmorgen im Juni 2024 entscheidet ein einziger Mann per Knopfdruck über die Arbeitsbedingungen von vielen tausend Personen. Der Mann heisst Jürg Sulser, er ist Mitglied der SVP und im Alltag Logistikunternehmer in Otelfingen. Aber montags steht er jeweils als Präsident dem Zürcher Kantonsparlament vor – und wenn immer dieses in zwei gleich grosse Hälften geteilt ist, fällt Sulser den Stichentscheid.
An diesem Morgen im Juni tut er das gleich zweimal. Zuerst entscheidet er sich dagegen, dass alle Klassenlehrerinnen und -lehrer an der Zürcher Volksschule entlastet werden, wie es die Gewerkschaften fordern. Dann entscheidet er, jenen Lehrerinnen und Lehrern mit Pensen von 80 Prozent und mehr zu helfen. «Heute ist ein spannender Tag für mich», sagt er dazu.
Als die Zürcher Stimmberechtigten vor bald zwei Jahren das Parlament neu bestellt hatten, gingen viele davon aus, dass sich solche Tage häufen würden. Dass Zufallsmehrheiten und Stichentscheide zur Norm würden.
Denn seit dem kontroversen Übertritt der früheren GLP-Politikerin Isabel Garcia zur FDP halten sich im Kantonsrat zwei Lager exakt die Waage. Auf der einen Seite die sogenannte Klima-Allianz der Linksparteien mit den Grünliberalen und der EVP, auf der anderen der bürgerliche Block von SVP, FDP und Mitte. 90 zu 90 Stimmen.
Inzwischen, mit etwas zeitlichem Abstand, zeigt eine Zwischenbilanz zu relevanten Geschäften, über die die NZZ berichtet hat, wie das zweigeteilte Parlament funktioniert.
Die Klima-Allianz setzt sich mehrheitlich durch
Sulsers Stichentscheid vom Juni zugunsten des bürgerlichen Lagers war eine Ausnahme von der Regel. Diese lautet: Wenn es hart auf hart geht, setzt sich meist die Klima-Allianz durch.
Dies liegt nur bedingt daran, dass die Bürgerlichen auf Zusehen das Ratspräsidium besetzen, das zwar zum Stichentscheid berechtigt, aber das eigene Lager in jeder Abstimmung eine Stimme kostet. Es liegt vor allem daran, dass die linken Parteien weniger Absenzen verzeichnen.
Zudem herrscht strengere Fraktionsdisziplin als auf bürgerlicher Seite, wo es ab und zu Abweichler oder Enthaltungen gibt. Dass eine grüne Parlamentarierin ein Tramprojekt torpediert, wie es Gabi Petri kürzlich in der Budgetdebatte tat, ist ein Ereignis mit Seltenheitswert.
Dank dieser Disziplin gelang es der Klima-Allianz etwa, mit nur einer Stimme Differenz die Energiestrategie des grünen Baudirektors Martin Neukom durchzubringen. Andere knappe Erfolge erzielte die Allianz vor allem ausserhalb ihres Kernthemas, etwa für einen Massnahmeplan gegen Rassismus.
Wenn es um Klima und Energie ging, liess sie es hingegen meist nicht darauf ankommen, sondern unterstützte Kompromisse, die auch für die Mitte oder die FDP akzeptabel waren. So gab es klare Mehrheiten für die Windenergie, das Netto-Null-Ziel oder die klimaangepasste Siedlungsentwicklung.
Der bürgerliche Block: Mühe im Rat, Erfolg an der Urne
Ohne Unterstützung mindestens einer weiteren Partei verliert der bürgerliche Block von SVP, FDP und Mitte im Kantonsrat in der Regel. Zu den raren Ausnahmen gehörten der erwähnte Stichentscheid von Jürg Sulser zur Entlastung von Lehrpersonen und die knappe Ablehnung eines Förderprogramms für Schüler mit Migrationshintergrund.
Ein ganz anderes Bild zeigte sich in den kantonalen Volksabstimmungen, die während der Legislatur stattfanden. Egal ob Pistenverlängerung, Seeuferweg, Anti-Chaoten-Initiative oder Stipendien für vorläufig Aufgenommene: Stets setzten sich die bürgerlichen Parolen klar durch. Auch bei Themen, die im Rat auf Widerstand stiessen. Und selbst dann, wenn die Mitte ausscherte.
Mitte und GLP sind am erfolgreichsten – aber nicht überall
Dass mit der GLP und der Mitte die Parteien links und rechts des Zentrums am meisten Erfolge verzeichnen, ist in einem geteilten Parlament erwartbar. Sie sind die Mehrheitsmacher und entscheiden vier von fünf wichtigen Abstimmungen für sich. Die Grünliberalen stimmten etwa in finanzpolitischen Fragen verlässlich mit den Bürgerlichen und haben die Steuerreduktionen für Unternehmen und natürliche Personen mitgetragen.
Bemerkenswert ist aber auch, wo die Grünliberalen ihre seltenen Niederlagen eingefahren haben: Gleich zweimal war dies in wirtschaftspolitischen Abstimmungen der Fall, wo sie mit den Linken stimmten. Das eine Mal sträubten sie sich gegen den Pistenausbau am Flughafen, das andere Mal wollten sie KMU dazu verpflichten, regelmässig die Lohnungleichheit in ihren Betrieben zu analysieren. Hier wie dort schlug sich auffälligerweise die kleine EVP, die sonst meist mit der Linken stimmt, ins Lager der Bürgerlichen.
Die Mitte wiederum gewinnt überdurchschnittlich viele Abstimmungen, weil sie insbesondere bei sozialen und sozialpolitischen Anliegen gerne aus dem bürgerlichen Lager ausschert. So unterstützte sie etwa bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege, Stipendien für vorläufig Aufgenommene oder ein Verbot sogenannter «Konversionstherapien» für Homosexuelle.
Eine respektable Bilanz für die FDP
Die Erfolgsbilanz der FDP fällt im Vergleich mit jener der Parteien im Zentrum nur wenig ab. Das liegt vor allem daran, dass sie im Gegensatz zur SVP wiederholt energie- und klimapolitische Kompromisslösungen mitgetragen hat. Und dass sie manchmal auch erfolgreich eigene Ideen einbrachte, wie einen Vorstoss für Solarpanels entlang der Autobahnen.
Die beiden grössten Fraktionen verlieren oft
Die gemeinsame Fraktion von SVP und EDU prägt das Parlament zwar zahlenmässig, mit 49 von 180 Sitzen. In zählbare Erfolge kann sie dies aber nur in etwa jeder zweiten Abstimmung ummünzen – genau wie die Linksparteien auf der anderen Ratsseite.
Speziell mit ihrem Widerstand in Klima- und Energiefragen steht die SVP-Fraktion oft auf verlorenem Posten, wenn sie zum Beispiel für strenge Mindestabstandsvorschriften für Windräder eintritt. Regelmässige Erfolge feiert sie dafür mit wirtschafts- und finanzpolitischen Vorstössen, wo sie in der Regel auf Verbündete bis hin zur GLP und zur EVP zählen kann.
Ein Spiegelbild davon ist die ebenfalls überschaubare Erfolgsbilanz der zweitgrössten Fraktion im Rat, der SP. Sie verliert Finanzdebatten meist, punktet aber dank Unterstützung aus der Mitte bei Klima und Energie sowie bei sozialen Themen.
Fazit: Zufallsmehrheiten und Stichentscheide halten sich in Grenzen, der Kantonsrat ist auch in neuer Zusammensetzung ähnlich berechenbar wie in den Jahren davor. Zumindest bis zu den Wahlen 2027.