Der Mailänder Architekt und Designer Giampiero Tagliaferri lebt und arbeitet seit zehn Jahren in Los Angeles. Zwei Welten, die er in seiner Arbeit verbindet.
«Eine Lektion in Architektur», nennt Giampiero Tagliaferri seinen Arbeitsweg. Wenn er morgens von seinem Zuhause in Silver Lake, Los Angeles, in sein Studio läuft, kommt er vorbei an den Werken von Richard Neutra, Rudolph Michael Schindler oder John Lautner. Es sind die berühmten Architekten aus der kalifornischen Moderne, die er am meisten bewundert. Ihre Häuser inspirieren ihn für seine eigene Arbeit – und noch mehr spornen sie ihn an: «Die Messlatte ist hoch», sagt er, «ich sehe sie jeden Tag direkt vor mir.»
Tagliaferri ist selbst Architekt und Designer. Der Italiener war während zehn Jahren Kreativdirektor einer Luxusbrillenmarke, ist dafür nach Los Angeles gezogen und hat hier 2022 sein eigenes Studio gegründet. Diesen April sorgte er in Mailand mit seiner zweiten, diesmal sehr umfangreichen Kollektion für die italienische Möbelmarke Minotti für Gesprächsstoff. Dabei hat er ursprünglich eigentlich Wirtschaft studiert an der Universität Luigi Bocconi in Mailand.
Tagliaferri ging nicht den klassischen Weg eines Kreativen. Doch: «Ich komme zwar aus der Finanzwelt, aber ich hatte immer auch ein Auge für Ästhetik und ein Verständnis für die kreative Industrie», sagt er, der sich ein Vorbild nimmt an Architektinnen und Architekten, die multidisziplinär tätig waren, so etwa Gae Aulenti, die auch Theaterszenografien schuf, Gio Ponti, der ein Magazin gründete, oder Carlo Scarpa, der auch für seine Glasarbeiten bekannt war.
In Tagliaferris Arbeit erkennt man so manch eine Referenz zu den siebziger Jahren. «Es war eine Zeit, in der die Gestalter keine Angst hatten, etwas zu wagen», erklärt er seine Faszination für dieses Jahrzehnt. Architektinnen und Designer verwendeten neue Materialien wie Plastik oder Fiberglas, sie experimentierten mit gewagten Formen und stellten Farben neu zusammen.
Was Tagliaferri schafft, ist eine Art erwachsene Version der siebziger Jahre: Seine Entwürfe sind etwas gedeckter, elegant unifarben und mit glänzenden Oberflächen. Was er unbedingt beibehalten wolle aus der früheren Zeit, sei die Sinnlichkeit: «Es gab damals diese Wärme und Gemütlichkeit in den Innenräumen, während später die achtziger Jahre kantiger und die neunziger Jahre wiederum sehr minimalistisch waren.»
Giampiero Tagliaferri spricht verschiedene Designsprachen
Er gestaltet Showrooms wie Apartments und verwendet Materialien, die nicht nur glatt sind. «Wildleder zum Beispiel hat etwas Poetisches an sich, sobald man es berührt, hinterlässt man einen Abdruck auf dem Sofa», sagt er. Wenn er über seine Arbeit spricht, gerät Giampiero Tagliaferri ins Schwärmen, er ist ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler. Einzig über sein Alter will der Italiener nicht sprechen.
Sein Gespür dafür, Räume wohnlich zu gestalten, sei es einen Showroom oder einen Messestand, blieb auch der Familie Minotti nicht verborgen, die ihr Unternehmen in zweiter und dritter Generation leitet. «Die Zusammenarbeit begann bei einem Frühstück, das erst am Abend endete», erzählt Tagliaferri. Erstreckte sich das Kennenlernen noch über einen ganzen Tag, ging danach alles sehr schnell: Eine Woche später präsentierte er der Familie Minotti seinen ersten Entwurf, der vier Monate später lanciert wurde: «Supermoon», ein Sofasystem im Seventies-Stil mit geometrischem Unterbau und voluminösen Sitzkissen. Es zeigt die verschiedenen Designsprachen, die Giampiero Tagliaferri spricht.
Die Muttersprache ist Italienisch. Mailand sei in seiner DNA verwurzelt, sagt er. Hier ist Giampiero Tagliaferri aufgewachsen, umgeben von der Architektur aus der Nachkriegszeit, die sich stark von der kalifornischen Moderne unterscheidet. «Mailand ist nüchterner, auch etwas zugeknöpft und introvertiert.» Die Schönheit liege häufig versteckt in den Innenhöfen der Palazzi oder im Innern der Gebäude. Kalifornien hingegen beschreibt er als offener und entspannter, als eine Einladung zum Leben, das man auf dem Daybed geniesse, umgeben von diesem warmen Licht, das für Kalifornien so typisch sei. Er habe diesen (Lebens-)Stil in den zehn Jahren, die er hier lebe, aufgesaugt und verinnerlicht, sagt er – was in seinen Möbelentwürfen für Minotti sichtbar wird.
Gefragter Stil
In all seinen Designs steckt dieser Mid-Century-Vintage-Charakter. Manchmal klar und deutlich, etwa in der Serie «Libra», die über die typischen Stahlrohrfüsse verfügt, die sich über Sessel, Stühle und Sideboard bis zum Tisch und zum Coffee-Table durchziehen. Manchmal ist es auch nur ein Detail wie beim Sofasystem «Coupé», dessen Sitzfläche leicht nach hinten abfällt. Ein Winkel, den man bei neuen Sofas heute kaum noch sieht.
Sein Stil scheint derzeit gefragt zu sein. Mit seinem Studio realisiert Giampiero Tagliaferri momentan Projekte in Dubai, Südkorea oder Paris, wo er gerade an seinem ersten Hotelprojekt arbeitet. Zu seinen Kunden gehören Brunello Cucinellis Tochter Carolina, die Schmuckdesignerin Ania Ko wie auch die angesagte Restaurantkette Sant Ambroeus. Sein Team umfasst zwölf Leute, die entweder im Studio in Los Angeles oder in Mailand arbeiten.
Möbel hat Tagliaferri zwar auch schon vorher entworfen, aber erst zusammen mit Minotti entstanden daraus Kollektionen. Nebst der Erweiterung von «Supermoon», der Möbelserie «Libra» und dem Sofa «Coupé» stellte er dieses Jahr für Minotti noch drei weitere Stücke vor, den Beistelltisch «Nastro», das Sideboard «Diagramma» und Sessel und Stuhl «Laurel», benannt nach der einstigen Künstlerenklave Laurel Canyon. Für viele Musiker und Künstler war Laurel Canyon in den sechziger und siebziger Jahren das, was Silver Lake heute für Giampiero Tagliaferri ist: ein Zuhause – und ein Ort der Inspiration, wo neue Ideen entstehen.