Für die einen ist der erst 25-jährige Italiener ein Halbgott zwischen den Pfosten, für die anderen höchstens mittelprächtig. Kein Goalie der Spitzenklasse spaltet die Lager so sehr – auch weil er sehr früh schon Heldenverehrung erfuhr.
Die Reflexe sind noch intakt. Am 5. Spieltag der Nations League tauchte Gianluigi Donnarumma blitzschnell in die von ihm aus gesehen linke Ecke ab, um eine Direktabnahme des Belgiers Leandro Trossard zu entschärfen. Die Parade ebnete den Azzurri den Weg in den Viertelfinal. Dort treffen sie im März auf Deutschland.
Schon am Dienstag könnte sich Donnarumma in München in der Champions League mit einigen deutschen Nationalspielern messen. Der Konjunktiv jedoch ist angeraten, weil der Stammplatz des Italieners im Tor von Paris Saint-Germain zur Disposition steht. In Italien ist er weiterhin hochgeschätzt als Captain der Squadra Azzurra mit mittlerweile 70 Einsätzen – und das im Alter von nur 25 Jahren. Gleichzeitig muss er sich in Paris mit wachsender Unzufriedenheit auseinandersetzen.
Die beiden Niederlagen in der Champions League gegen Arsenal (0:2) und Atlético Madrid (1:2) schreiben Fans und Medien vor allem dem Goalie zu. «Mit ihm haben wir stets ein Handicap», zürnte etwa ein PSG-Anhänger in den sozialen Netzwerken. «Ein Goalie ohne Verbesserung, kein Jahr ohne Fehler», meinte ein anderer. Und auch das Zentralorgan des Sports in Frankreich, «L’Équipe», sah beim entscheidenden Schuss von Ángel Correa zum 2:1-Auswärtssieg von Atlético in Donnarumma den entscheidenden Schwachpunkt. «Rein technisch gesehen, ist kein Fehler zu erkennen. Aber der Goalie eines der besten acht Klubs Europas muss so etwas abwehren», so lautete das Verdikt. Und das Sportblatt initiierte eine Dynamik, die keinen Torhüter erfreut: «Die Hierarchien bei PSG ändern sich.»
Donnarumma hat einen russischen Neuzugang als Konkurrenten
Prompt stand am Wochenende der russische Neuzugang Matwei Safonow zwischen den Pfosten – und sicherte Paris Saint-Germain ein 3:0 gegen Toulouse. Bereits beim 1:0 Anfang November gegen Lens hatte er eine weisse Weste behalten, und er bescherte PSG zudem das bisher einzige Drei-Punkte-Erlebnis in der Champions League, beim 1:0 gegen Girona. Jetzt ist er auf dem besten Weg zur neuen Nummer 1 in Paris.
Paradox ist allerdings, dass Safonow als junger Goalie und grosses Talent gefeiert wird, während Donnarumma als kaum noch verbesserungsfähig gilt. Beide sind kurioserweise am gleichen Tag geboren, dem 25. Februar 1999. Dem Italiener hängt an, dass er schon sehr lange im Geschäft ist und bereits in jungem Alter als Jahrhunderttalent gepriesen wurde. «Ihm wird einfach nicht verziehen, dass er solch ein Wunderknabe ist, der einige Stufen übersprungen hat», konstatierte der Nationaltrainer Luciano Spalletti im letzten Jahr, als auch in Italien die Kritik an Donnarumma lauter wurde.
Vorwerfen kann man ihm bestenfalls, dass er jetzt als Erwachsener nicht Tag für Tag die Wundertaten vollbringt, die den extrem hohen Erwartungen an ihn entsprechen.
Als er erst 14 Jahre zählte, machte die AC Milan schon 250 000 Euro locker, um ihn vom Umzug vom Golf von Neapel nach Mailand zu überzeugen. Als er als 16-Jähriger als nominell dritter Goalie sein Serie-A-Debüt feiern durfte, beruhigte die damalige Nummer 2, Christian Abbiati, die konsternierten Fans der Rossoneri mit dem Spruch: «Keine Bange, Gigio ist von Gott zum Torhüter berufen.»
Seitdem ist er das Wunderkind mit den grossen Handschuhen. Mit seinen Paraden rettete er die AC Milan in den Jahren 2015 bis 2021 vor dem Absturz in die absolute Mittelmässigkeit. Mit Italien wurde er 2021 Europameister. Und beim verunglückten Auftritt des Titelverteidigers an der EM in diesem Jahr waren zumindest einige seiner Abwehrtaten so spektakulär, dass ihm laut italienischen Medienberichten begeisterte Fans einen Altar widmen wollten.
Auch viele seiner Leistungsdaten überzeugen. Bei einer Auswertung der Statistiken von gehaltenen Schüssen in den grossen fünf europäischen Ligen durch die Datenplattform Statsbomb war Donnarumma in der Vorsaison der Allerbeste. Knapp 13 klare Chancen soll er vereitelt haben. Im Abgleich von erwarteten Paraden und tatsächlich realisierten Rettungstaten lag der PSG-Keeper mit 14 Prozent über dem Soll. Bayerns Manuel Neuer hingegen lag um 5 Prozent unter der erwartbaren Quote, der Inter-Torhüter und frühere Schweizer Nationalgoalie Yann Sommer um 7 Prozent darüber.
Donnarumma zögert oft beim Hinauslaufen
Bei der Schussabwehr kommt dem 1,96 Meter grossen Athleten seine Spannweite entgegen. Er ist aber auch extrem flexibel und kann seine 90 Kilogramm schnell nach unten bringen. Defizite hat er allerdings bei der Strafraumbeherrschung. Das von Kai Havertz per Kopf erzielte 1:0 für Arsenal in der Champions League entsprang einem Zögern von Donnarumma beim Hinauslaufen. «Er ist zu oft gefangen in der Überlegung: ‹Gehe ich, gehe ich nicht?›», konstatierte der französische TV-Kommentator und Ex-Keeper Jérôme Alonzo. Der wohl gravierendste Fehler beim Herauslaufen ereignete sich im letzten Jahr beim Auswärtsmatch in Le Havre. Donnarumma kam zu spät und traf den gegnerischen Angreifer mit dem Fuss am Hals.
Auch in der Spieleröffnung mit dem Fuss hat Donnarumma Luft nach oben. Mit diesen Schwächen scheint er als Keeper in eine falsche Zeit geboren worden zu sein. Er ist nicht der Libero mit Handschuhen, der das Spiel gestaltet und den Raum beherrscht – so, wie es viele Trainer mittlerweile bevorzugen. Anpassungsfähige Coachs könnten die Defensivarbeit einer Equipe allerdings auch nach den Stärken des letzten Mannes ausrichten. Im Falle des einst von «Gott Berufenen» würde dies bedeuten, hohe Flanken des Gegners zu verhindern und tief zu stehen, um die Räume dicht zu machen. So müsste der Zauderer auf der Linie nicht ständig entscheiden, ob er nun herauslaufen soll oder nicht.