Die italienische Sängerin gibt beim Festival «Moon & Stars» in Locarno eine Kostprobe ihrer erstaunlichen Spätform.
Fast verloren steht sie am Schluss auf der gigantischen Bühne, die Königin des Italo-Rock, bevor sie im Dunkel verschwindet. Gerade hat Gianna Nannini umjubelt ihr Konzert am Festival «Moon & Stars» in Locarno mit «Un’estate italiana» beendet – genau: «notte magica . . .», Gänsehautfaktor 10. Nun scheinen ihre eigenen Augen feucht zu sein.
Sieht die 71-jährige Musikerin das Ende ihrer Karriere nahen? Oder ist sie an dieser Donnerstagnacht einfach überwältigt von der Kulisse der Piazza Grande, die beim Filmfest an gleicher Stätte so manche Kinostars sprachlos macht? Fest steht: Die Italienerin hat soeben anderthalb Stunden lang ihre erstaunliche Spätform bewiesen und mit ihrer fünfköpfigen Band plus zwei Backgroundsängerinnen in einem Steigerungslauf die Piazza erobert.
Ein Echo der enttäuschten Lieben
Beim Repertoire zwischen Schmachtfetzen und Rock zeigt sich: Kaum an Kraft eingebüsst hat auch diese kratzige Stimme, die auch zu warmem Schmelz übergehen kann. Nannini spart sie sich fürs Singen, sie redet wenig zum Publikum, lieber umarmt sie es imaginär, lächelt, nickt wieder und wieder. Bei «Fotoromanza», dem Sommerhit von 1984, streckt sie das Mikrofon samt Ständer der schunkelnden Menge entgegen, die artig den Refrain anstimmt: «anche tu!» – ein tausendfaches Echo der enttäuschten Lieben.
Dieser Widerhall ist geprägt vom (schweizer)deutschen Akzent, den schon der Speaker bei der Begrüssung auf Italienisch vorgegeben hat: Nicht umsonst gilt «Moon & Stars» im Tessin als etwas aufgeblasener Deutschschweizer Anlass für Deutschschweizer. Der Grossteil der gegen zehntausend Gäste an diesem Abend dürfte aus dem Norden angereist sein, auf der Suche nach einem Funken Italianità.
Der Frauenanteil im Publikum ist hoch, viele sind nahe beim Alter der Sängerin. Doch was heisst das schon. «Der Tod ist obligatorisch, das Alter jedoch optional», singt Nannini im rockigen «1983» aus ihrem letztjährigen Album. Das Lied ist dem Jahr gewidmet, das sie aus einer tiefen seelischen Krise führte und ihr seither als Geburtsjahr gilt. 42 ist sie also in Wirklichkeit, Falten hin oder her, wie sie in einem NZZ-Interview verriet. Das erklärt einiges.
Die Zuckerbäckertochter aus Siena gibt dem Publikum nicht die Peitsche. Sie füttert es mit Ironie, Melancholie und dieser Energie, die sie durch ihre ausgedehnte Europatour trägt. Auf der Bühne gönnt sie sich kaum eine Pause, sie wippt, tigert, verbeugt sich. Doch rastlos wirkt sie nicht. Sie scheint in sich zu ruhen, die Rebellin, die mit ihrer Form von Feminismus in der Heimat einst polarisierte wie kaum eine andere. Sie zog ihr Ding durch, liebte Frauen wie Männer, brachte mit 54 Jahren ihr Kind zur Welt und heiratete im gleichen Jahr ihre langjährige Partnerin.
Ein Pünktchen auf der Bühne
Viele der gebotenen Songs stammen aus den achtziger und neunziger Jahren, von «America», einer Ode an die Kraft der weiblichen Masturbation, bis zu «Scandalo». Links und rechts der Bühne zeigen hochformatige Screens den Star überlebensgross. Doch wer ganz hinten auf der gegen 200 Meter langen Piazza steht, sieht bei Eintrittspreisen von über hundert Franken kaum mehr als ein Pünktchen von der realen Gianna Nannini in Lederjacke mit Nieten.
Als sie für die Zugaben im übergrossen roten Anzug wiederkommt, wird aus der Rockröhre eine Grande Dame oder eine Zirkusdirektorin in der Manege, und sie zaubert ihren grössten Hit hervor: «Bello e impossibile», die Ode an einen unerreichbaren Schwarm, nährt auf der Piazza die Illusion, zurück in den unerreichbaren Achtzigern zu sein.