Europas Fussball-Aristokraten müssten sich daran gewöhnen, dass sie nicht mehr allein über den Fussball verfügten. Eilenberger erklärt auch, warum er fast nur noch die spanische Liga schaut und worin eine grosse Chance für den Frauenfussball besteht.
Herr Eilenberger, wie blicken Sie auf das zurückliegende Fussballjahr: Haben Sie sich gut unterhalten gefühlt oder sich gelangweilt?
Ich langweile mich selten beim Fussball. Weil ich bei aller Monotonie immer wieder Dinge entdecke, die mich genügend interessieren, um dranzubleiben. Aber 2024 war trotz vielen Ereignissen wie der EM ein seltsam konturloses Jahr, das sich nicht einfach auf einen Nenner bringen lässt – wie ein neuer James-Bond-Film, den man zwei Stunden lang gesehen hat und bei dem man nach drei Monaten gar nicht mehr weiss, was passiert ist. Ich hatte eben Probleme, mich an den Champions-League-Sieger zu erinnern.
Schlägt sich das in Ihrem Konsum nieder?
Ja. Die Champions-League-Reform war bei mir insoweit wirkungsvoll, als mich die Vorrunde gar nicht mehr interessiert hat. Es ist ein wirklich läppisches Vorspiel, das ich mir als Zuschauer spare. Ich habe inzwischen auch nahezu jedes Interesse an der deutschen Bundesliga verloren. Ich bin jetzt so alt, dass ich mir eigentlich nur noch guten Fussball anschauen will, was dazu geführt hat, dass ich fast nur noch die spanische Liga anschaue.
Das tönt deprimierend.
Es ist die Folge einer Entwicklung, die mich selber erstaunt. In Deutschland langweilte die Dominanz des FC Bayern, der über ein Jahrzehnt jeden Titel gewonnen hat. Aber es war die Meisterschaft von 2023 unter Trainer Thomas Tuchel, an der ich festmache, dass da irgendetwas endgültig gestorben ist. Was da am letzten Spieltag auf dem Platz passiert ist, das war schlimm: wie die Mannschaft diese überraschende Meisterschaft gefeiert hat und die Freude daran dann zerstört wurde. Das ist anderthalb Jahre her. Ich habe mich bis jetzt nicht davon erholt.
Moment: Sie sprechen von dem Tag, an dem Dortmund den Titel verspielt hat, mit einem 2:2 gegen Mainz – und die Bayern durch ein wunderbares Tor von Jamal Musiala vorbeizogen sind. Das war hochdramatisch.
Eben nicht! Weil nichts davon geblieben ist. Minuten danach kursierte, dass die Bayern sich von ihrem Sportdirektor Hasan Salihamidzic und dem Vorstandschef Oliver Kahn trennen werden. Der Titel war gar kein Thema mehr. Dadurch wurde eine Stufe erreicht, die viele Fans den Bayern sehr übel nehmen. Und wenn ich daran denke, wie sich damals die Verlierer präsentiert haben, wie sie vor ihre Fans getreten sind und dafür gefeiert wurden: Das war der Augenblick, in dem ich Dortmund für dauerhaft unfähig erkannt habe, die Meisterschaft zu gewinnen. Das hätte niemals passieren dürfen bei einem Verein, der einen so hohen Anspruch an sich selber stellt.
Nun sind das zwei unterschiedliche Dinge: die Haltung der Dortmunder und das Auftreten der Bayern, die sich für ihren Titel gar nicht zu interessieren schienen.
Bei den Bayern waren das sehr dunkle Momente der Vereinsgeschichte. In diesen Augenblicken übertrumpfte die Logik des Funktionärstums die Logik des Sports. Die Logik der Aussendarstellung übertraf die Logik der Leistung auf dem Platz. Die Emotionalisierung, die durch den Gewinn der Meisterschaft stattfand, wurde gelöscht durch den Zynismus des Geschäfts. Das alles konzentriert in einem entscheidenden, an sich glückvollen Moment: Sofern die Faszination für den Fussball zerstörbar ist, kam man hier dem Endpunkt nahe. Und natürlich hat der FC Bayern – wie derzeit die deutsche FDP – alle Vorurteile bestätigt, die man mit diesem Verein verbindet.
Die Meisterschaft von Leverkusen im letzten Jahr, erspielt ohne eine einzige Niederlage, konnte Sie nicht beeindrucken?
Eine Saison, in der Leverkusen Meister wird, kann wesensgemäss keine grosse sein. Und daran kann auch dieser wunderbare Fussball nichts ändern. Es war natürlich erstaunlich zu bezeugen, wie Trainer Xabi Alonso innerhalb von nur drei Monaten eine Mannschaft vollkommen neu konturiert hat um den zentralen Spieler Granit Xhaka. Das hatte etwas Begeisterndes und wohl auch bis heute taktisch Überforderndes – Alonsos Vision des Spiels scheint mir bis heute nicht vollständig entschlüsselt. Bei seinen Karriereperspektiven als Trainer wird Leverkusen bestenfalls als Episode in Erinnerung bleiben.
Was braucht es denn, um Sie noch zu beeindrucken?
Der einzige Verein, von dem ich fast jedes Spiel anschaue, ist Real Madrid. Und das liegt daran, dass ich inzwischen nur noch Fussball sehen will von Menschen, die Aussergewöhnliches leisten und bei deren Spielen ich den Eindruck habe, dass sie mehr sind als regionale Ereignisse. Das finde ich nur bei Real Madrid. Es gibt dort einen besonders vollendeten Exzellenz-Zynismus: Schauen Sie den Champions-League-Final an. Da gibt Real Madrid den Dortmundern 60 Minuten lang das Gefühl, dass sie dieses Spiel gewinnen können. Aber es passiert nicht, am Ende gewinnt Real 2:0. Die Spiele werden in einer sehr kalten Weise gewonnen, und das ist etwas, was ich sehr schätzen kann.
Wenn es um die Perfektion geht, dann hätte Ihnen Manchester City während vieler Jahre Freude bereiten müssen, erst recht mit einem Spieler wie Rodri, dem Gewinner des Ballon d’Or.
Nein, ganz im Gegenteil, diese Klubs sind grundverschieden. Und was Rodri anbelangt: Ich bin der Ansicht, dass Vinícius Júnior diese Trophäe unbedingt hätte gewinnen müssen, die bedeutender ist als die Fifa-Trophäe, die er nun erhalten hat. Von seiner Dominanz auf dem Fussballplatz her wäre es gerechtfertigt. Kein anderer Spieler kann auf diese Weise eine Partie allein entscheiden. Es gibt keinen, der ihn stoppen kann, wenn er unterwegs ist. Das ist etwas ganz Phantastisches. Vinícius Júnior steht auch für das Urwüchsige, das Unbeherrschbare, das absolut Physische im Fussball. Ich habe nichts gegen Rodri. Aber die Phantasie der Welt kann er nicht anregen.
The first words of our 2024 Ballon d’Or, Rodri! #ballondor pic.twitter.com/HbcPorxTlp
— Ballon d’Or (@ballondor) October 28, 2024
Immerhin wurde mit Rodri ein Spieler gewürdigt, der auf diskrete Art enormen Einfluss auf das Spiel seiner Mannschaft hat.
Das will ich gar nicht bestreiten, und wir sehen ja, wie es seinem Klub geht, wo er nun wegen einer schweren Verletzung nicht dabei ist. Aber die Leute stehen nicht auf, wenn er antritt. Und Vinícius Júnior steht eben für das unberechenbare Moment. Dazu gehört auch, dass dieser Mann sich nicht unter Kontrolle hat, dass er beleidigt wird, dass er zu einer Art Störenfried wird und nicht in dieses glatte Image der selbstkontrollierten Profis passt. Das wird ihm dann, wie beim Ballon d’Or, zu einem moralischen Verhängnis. Und das finde ich kurios, gar abgründig: Man stört sich kaum daran, dass eine Fussball-WM nach Saudiarabien vergeben wird, aber daran, dass Vinícius Júnior eine Auszeichnung erhalten soll.
Das flegelhafte Verhalten eines Spielers ist allerdings etwas anderes als Menschenrechtsverstösse in Saudiarabien. Und es ist ja nicht so, dass sich keine Kritik an der Vergabe regt, auch wenn es naiv tönt, wenn Funktionäre nun erzählen, dass sie durch das Ereignis auf positive Veränderungen hinwirken wollen.
Ich bin mir da gar nicht so sicher. 2008 fuhren wir mit der deutschen Autoren-Nationalmannschaft nach Saudiarabien, um dort gegen die saudische Autoren-Auswahl anzutreten. Die entpuppte sich dann als ein Team von gut trainierten Sportjournalisten. Das Besondere an diesem Spiel war allerdings: Es war das erste Spiel, bei dem Frauen im Stadion waren, nämlich die Frau des deutschen Botschafters und zwei andere Ehefrauen von Offiziellen.
Sie haben also Pionierarbeit geleistet?
Wir scherzen jetzt darüber, aber durch solche kleinen Ereignisse können Mikrorisse entstehen, bei denen man nicht weiss, was später daraus wird. Nun gibt es in Saudiarabien eine Frauenliga, und auch die wird mit Zynismus bedacht. Aber wir wissen nicht, welche kulturellen Effekte das haben wird.
Die Vergabe an Saudiarabien folgt einem Expansionsdrang der Fifa unter Präsident Gianni Infantino, der sich auch an der Klub-WM 2025 mit 32 Teams zeigt.
Ich glaube dennoch, dass die Klub-WM zu einem Riesenerfolg für die Fans werden kann. Und das wäre schon eine grosse Kränkung, die Gianni Infantino den Europäern abermals zufügen würde. Infantino vollzieht in aller Konsequenz die Kränkung, die westliche Gesellschaften noch ertragen oder überhaupt realisieren müssen: zu erkennen, dass sie nicht mehr das Zentrum der Welt sind. Wie schockiert waren wir darüber, dass Infantino begriffen hat, dass das Zentrum dieser Welt – auch der Fussballwelt – zukünftig womöglich nicht in Europa liegen wird.
Zur Expansion trägt auch der Frauenfussball bei, dessen Präsenz weit grösser ist als noch vor einigen Jahren.
Dort beobachte ich auf Klubebene eine sehr interessante Entwicklung: Die Identitätsübertragung bei den Fans funktioniert. Wenn Schalke gegen Dortmund im Frauenfussball spielt, ist auf einmal das alte Schalker Parkstadion ausverkauft, obwohl es nicht einmal ein Bundesligaspiel ist. Die alten Rivalitäten der Traditionsklubs übertragen sich publikumswirksam auf die Frauenmannschaften. Das ist ein Riesenerfolg.
Also eine Art geschlechterübergreifender Rivalitätstransfer?
Und der funktioniert nur, weil die Identifikation mit den Klubs vorhanden ist. Das ist vielleicht der entscheidende Schritt, der den Frauenfussball tragen wird. Und inzwischen sehen wir, dass es dort eine starke Professionalisierung gibt, was für die Frauen ein positives Signal ist. Was der FC Barcelona im Frauenfussball zeigt, steht in geradezu unheimlicher Kontinuität zu dem, was die grossen Barça-Teams einst auszeichnete. Das ist eine Weltdominanz, die sich auch in der Eleganz des Spiels zeigt. Wir sehen hier: Es kann gelingen, Marken kontinuierlich und überraschend weiterzuentwickeln.
Die Markenentwicklung soll demnächst auch der ehemalige Dortmund- und Liverpool-Trainer Jürgen Klopp für die Fussballteams des Red-Bull-Konzerns vorantreiben. Hat Sie die Heftigkeit der Reaktionen auf seine Entscheidung überrascht?
Klopp hatte eine ganz und gar einzigartige Fähigkeit: Egal, was er tat – es trug stets zu seiner Authentizität bei. Auch wenn es noch so künstlich war. Insofern ist dieses Engagement für mich keine Überraschung. Er war immer ein Macht-Zyniker. Er hat mit Leuten gearbeitet, die sich bedingungslos nach ihm gerichtet haben, bei der Wahl der Klubs ist er auch klug vorgegangen. Er wusste, dass er mit ihnen gut arbeiten kann und dass sie auf seine Marke einzahlen. Das Verhältnis zu diesen Klubs war rein professionell-instrumentell. Darüber hat er uns eigentlich auch nie im Unklaren gelassen, zumindest mich nicht.
So geht allerdings jeder Trainer vor, der seine Karriere ernst nimmt. Das erklärt nicht seine Beliebtheit und handkehrum nun die Enttäuschung über sein Engagement bei Red Bull.
Klopp war lange Zeit der kommunikationsintelligenteste Trainer der Welt. Sein Aufstieg vollzog sich parallel zu seiner Tätigkeit als TV-Kommentator im ZDF. Es waren nicht allein seine Leistungen als Trainer in Mainz, sondern auch die verbale Geschmeidigkeit als Experte. Er hob sich von Günter Netzer ab, der viele Jahre für die ARD kommentierte, zunehmend erkenntnisfrei. Mein Kollege Peter Sloterdijk hatte ihn in der Endphase den Chef-Tautologen der Nation genannt: Er durfte sagen, was jeder sah. Klopp bedeutet hier einen Qualitätssprung. Den könnte nun mittlerweile auch das fussballspielende Brause-Imperium gebrauchen, bei dem er angeheuert hat. Möge er diesem neue Energie verleihen.
Wolfram Eilenberger: Philosoph und Fussballkenner
sos. · Der Philosoph Wolfram Eilenberger ist als Moderator der Sternstunde Philosophie und als Autor von Bestellern bekannt. Sein aktuelles Buch «Geister der Gegenwart» handelt von Theodor W. Adorno, Susan Sontag, Michel Foucault und Paul K. Feyerabend. Wenn es um Fussball geht, dann weiss der 52-Jährige nicht nur als Spieler der deutschen Autoren-Nationalmannschaft, wovon er spricht: Eilenberger ist Inhaber einer Trainerlizenz des Deutschen Fussballbundes.