Angeleitete Atemreisen gibt es in kleinen Gruppen oder auch als Partyevent in grossen Hallen. Manche Teilnehmer wollen ein besonderes Erlebnis, andere erhoffen sich eine wirkungsvolle therapeutische Methode. Ein Selbstversuch.
Mit gemischten Gefühlen liege ich in einem Yogastudio auf einer Matte. Ich kann mir nicht vorstellen, wie intensiv es werden wird. Das Licht ist gedämpft, sparsam platzierte südamerikanische Ketten und handgefertigte Instrumente lassen mich an einen schamanischen Kontext denken. Mit mir liegen acht Teilnehmerinnen in einem Halbkreis um Francesca und Jonas, die uns auf eine Atemreise führen werden. Wir atmen schnell wie beim Hyperventilieren, aber auch tief: ein und aus.
Was ich erleben werde, probieren immer mehr Menschen aus – und auch die Wissenschaft interessiert sich mittlerweile dafür. Doch wer teilnimmt, sollte bei dieser Atemarbeit einiges beachten. Denn die intensiven Formen der beschleunigten Atmung, wie sie beim «holotropen Atmen» oder «connected breathing» praktiziert werden, haben starke Effekte und sind nicht ganz ungefährlich.
Mich beruhigt allerdings, dass diese Atemtechniken eine lange Tradition haben und weltweit seit Jahrtausenden in spirituellen Ritualen praktiziert werden. Das Besondere daran: Anders als die verlangsamte Atemarbeit, die das Nervensystem beruhigt, wirkt die beschleunigte Atmung anregend. Herzschlag und Blutdruck steigen. Zudem soll die schnelle und vertiefte Atmung, um die es hier gehen wird, ähnliche bewusstseinserweiternde Effekte haben wie LSD: zum Beispiel veränderte Körper- und Sinneswahrnehmungen, spirituelle oder mystische Gefühle oder eine Ich-Auflösung, was als Verschmelzung mit der Umwelt empfunden wird. In westlichen Ländern entstand im vergangenen Jahrhundert ein grösseres Interesse an solchen Techniken. Beispielsweise suchte der Psychiater Stan Grof in den 1970er Jahren nach einem Weg, einen Trance-ähnlichen Zustand zu erreichen. Er hatte sterbenskranke Krebspatienten mit LSD gegen Angst und Depressionen behandelt und war überzeugt von der positiven Wirkung. Als die Substanz verboten wurde, wollte er eine legale Alternative einsetzen und entwickelte das holotrope Atmen.
Auf Set und Setting kommt es an
Es ist schwer vorstellbar, dass allein die Atmung einen so starken Effekt haben kann. Helena Aicher vom Netzwerk für holotrope Atemtherapie in der Schweiz erklärt: «Die Wirkung kommt nicht allein von der Atmung, Set und Setting spielen eine grosse Rolle.» Mit Set sei das Mindset gemeint, also die innere Intention, die persönlichen Erwartungen und Vorerfahrungen, mit Setting der Raum, die Einrichtung und die Musik. Das alles habe einen Einfluss.
Was man nicht ausprobiert hat, kann man nur schwer beschreiben. Ein Selbstversuch ist deshalb Teil meiner Recherche. Ich entscheide mich für eine dreistündige Atemarbeit in der Breath Academy bei Francesca Caputo. Sie ist Yogalehrerin und hat eine Ausbildung in traumasensitiver Atemarbeit. Die Methode unterscheidet sich in Ablauf und Technik von der Grofschen Methode. Neben Phasen der vertieften Mundatmung gehören auch lange Atempausen dazu.
Starke körperliche Reaktion
Wir atmen schnell und tief in den Bauch ein. Bald schon beginnen meine Füsse zu kribbeln, dann krampfen meine Hände. Es ist eine physiologische Reaktion auf den sinkenden Kohlendioxidgehalt im Blut, die oft, aber nicht immer auftritt. Es ist sehr unangenehm.
Im Internet liest man oft, dass das Gehirn mit Sauerstoff geflutet werde. Aber wahrscheinlich ist eher das Gegenteil der Fall. Bei der Hyperventilation wird viel Kohlendioxid (CO2) abgeatmet. Dadurch verengen sich die Blutgefässe, denn CO2 wirkt als ein Signalmolekül. Weniger Blut fliesst ins Gehirn, was vermutlich einen Sauerstoffmangel auslöst.
Der sinkende CO2-Gehalt im Blut kann Muskelkrämpfe verursachen. Um mich davon abzulenken, konzentriere ich mich auf die Musik. Die durch verschiedene Instrumente und rituelle Gesänge kreierten Vibrationen sind für Francesca ein zentraler Teil des Settings und unterstützen die Atemarbeit.
Vor meinem inneren Auge entstehen Bilder. Inspiriert von der Musik, sehe ich die sprechende Weide aus dem Film «Pocahontas», den ich kürzlich mit den Kindern geschaut habe. Weiter geht es in meiner Phantasie im Vogelflug über Wälder und Wiesen. Der Krampf in den Händen löst sich. Ähnlich wie beim Einschlafen werden die Gedanken und Bilder traumartiger. Ich verliere das Zeitgefühl. Mehrmals überkommt mich ein unendliches Glücksgefühl. Die Intensität der Bilder und Emotionen verblüfft mich.
In der Sharing-Runde wird klar, wie unterschiedlich die Erlebnisse an diesem Abend waren. Schliesslich kommt jeder mit anderen Erwartungen und Intentionen. Viele der Anwesenden sehen das Erlebte als Teil eines inneren Prozesses. Eine Frau will sich ihren Ängsten stellen, eine andere sucht die Energie, die sie beim letzten Mal gespürt hat. Manche scheinen einen langen Leidensweg hinter sich zu haben und finden hier einen sicheren Rahmen und neue Kraft.
Francesca bestätigt: «Viele kommen, weil sie mit persönlichen Themen nicht weiterkommen. Mit der Atemarbeit können Veränderungen angestossen und Probleme auf andere Art verarbeitet werden.» Es sei ein kraftvoller Weg zur Heilung, der durchaus auch anstrengend sein könne. Die Erfahrung zeige aber, dass sich die Arbeit lohne.
Traumata können aktiviert werden
Das bestätigt die Psychotherapeutin Aicher. Sie leitet mehrtägige Workshops im holotropen Atmen. Es klingt nach intensiver Arbeit. Jeweils zwei Teilnehmende unterstützen sich dabei gegenseitig und atmen abwechselnd während mehrerer Stunden, begleitet von Musik. Sie sagt: «Es können starke Emotionen, intensive Erinnerungen an die Kindheit oder schwierige Erfahrungen hochkommen. Das ist Teil des Prozesses und kann heilsam sein. Aber es kann auch Angst auslösen.» Manchmal komme es vor, dass jemand schreie, weine oder um sich schlage. Deshalb sei es wichtig, das Erlebte mit erfahrenen Begleitern zu integrieren.
Das ist nicht überall möglich. Atemreisen werden mitunter auch als Partyevent mit Musik und Lichteffekten für mehr als hundert Teilnehmende organisiert. Aicher und andere erfahrene Personen äussern sich kritisch darüber.
Zwar kann man die Atmung gut steuern und aufhören, wenn es einem zu viel wird. Aber womöglich kommt etwas hoch, das nicht so leicht kontrollierbar ist. Abgeraten wird Menschen, die bereits eine Psychose erlebt haben.
Auch die körperlichen Reaktionen sind nicht ganz ungefährlich. Durch die Hyperventilation steigt der pH-Wert im Blut. Dadurch werden gewisse Nervenzellen im Gehirn überreaktiv. Bei Epileptikern kann das einen epileptischen Anfall auslösen. Zudem steigen der Blutdruck und die Herzfrequenz, deshalb ist bei gewissen Herz-Kreislauf-Erkrankungen Vorsicht geboten. Schwangere sollten darauf verzichten.
Ein Sauerstoffmangel im Gehirn
Als die Muskelkrämpfe bei mir einsetzen, atme ich eine Weile langsamer. Sobald sich meine Hände entspannen, beschleunige ich die Atmung wieder. Ich will wissen, wie weit ich gehen kann, denn je mehr CO2 ich abatme, desto stärker die bewusstseinsverändernde Wirkung, wie eine Preprint-Publikation vermuten lässt. Die Studie zeigt: Probanden, deren Ausatemluft nach langer Atemarbeit nur noch wenig CO2 enthält, beschreiben die Bewusstseinsveränderung als besonders intensiv.
Die Studie weist auch noch auf etwas anderes hin. Das Setting hat tatsächlich eine starke Wirkung. Probanden, die im selben Kreis normal atmeten, beschrieben ebenfalls intensive Emotionen und veränderte Sinneswahrnehmungen. Allerdings waren sie weniger intensiv als bei den Probanden, die beschleunigt atmeten.
Ein erhöhter Blutdruck, gesteigerter Herzschlag, Muskelkrämpfe und wenig Sauerstoff im Gehirn – für den Körper ist die schnelle Atmung wie eine körperliche Stressreaktion. Tatsächlich fühlt es sich nach Arbeit an. Aber am Ende des Abends überkommt mich eine tiefe Entspannung. Der Wissenschafter und Psychiater Alessandro Colasanti von der University of Sussex in England beschreibt es als positiven Stress, der das System fordere und widerstandsfähiger mache.
In einer Übersichtsarbeit haben er und seine Kollegen letztes Jahr zusammengefasst, wie die körperlichen und psychischen Auswirkungen der Atemarbeit erklärt werden können. Colasanti vermutet, dass die neurophysiologischen Veränderungen, die im Gehirn durch den Abfall von CO2 und den steigenden pH-Wert ausgelöst werden, die bewusste Wahrnehmung und das Denken verändern, wie das auch bei extremer Hitze, Kälte, Meditation oder eben auch durch Psychedelika wie LSD geschehen kann. Das veränderte Bewusstsein könne helfen, sich selbst oder Probleme in einem anderen Licht zu sehen. Wie gross das Potenzial als therapeutische Methode ist, wird in ersten kleinen Studien erforscht.
Dessen ungeachtet machen viele Menschen in verschiedenen Kontexten bereits ihre Erfahrungen damit. Sie sollten sich bewusst machen, dass ein so harmloses Mittel wie die Atmung starke körperliche und psychische Reaktionen auslösen kann und dass eine erfahrene Unterstützung ratsam ist. Für mich war es ein intensives Erlebnis, einige Gedanken und Bilder werden mich noch eine Weile begleiten. Aber die gemischten Gefühle sind verflogen, und ich fühle mich um eine Erfahrung reicher.
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