Bis zuletzt galt Bayer als spannende Turnaround-Wette. Auch The Market setzte die Titel auf die Favoritenliste. Auf dem Kapitalmarkttag hat das Management Analysten und Anleger im Dunkeln stehen lassen. Der Investment Case hat erheblich an Attraktivität eingebüsst.
Seit 2019 hat Bayer einen operativen Cashflow von durchschnittlich 5 Mrd. € pro Jahr erwirtschaftet. Pharma-Blockbuster wie der Blutverdünner Xarelto, Pflanzenschutzmittel wie Roundup, aber auch Kopfschmerztabletten wie Aspirin spülen anständige Summen in die Kassen. Das Problem: Unter dem Strich ist in den letzten fünf Jahren nichts von dem Geld im Unternehmen hängen geblieben.
Wie kann das sein? Zur Erklärung hilft ein Blick auf die Ausgaben.
Die Leverkusener geben im Schnitt jährlich rund 3 Mrd. € für Rechtsstreitigkeiten aus – hauptsächlich im Zusammenhang mit dem unter Krebsverdacht stehenden Unkrautvernichter Glyphosat. Zudem werden pro Jahr rund 2 Mrd. € an die Aktionäre ausgeschüttet. Damit blieb in den letzten Jahren kaum etwas übrig für dringend benötigte Investitionen in neue Geschäftsfelder oder Pharmaprojekte – oder für den Schuldenabbau. Die Nettofinanzschulden sind mit 34 Mrd. € auf einem Rekordstand.
Der deutsche Pharma- und Agrochemiekonzern ist die wahrscheinlich längste Turnaround-Wette am deutschen Aktienmarkt. Seit mittlerweile fast einem Jahrzehnt befinden sich die Titel in einem übergeordneten Abwärtstrend (siehe Chart). Anfang April 2015 erreichten sie ein Allzeithoch von 144 €. Heute steht der Kurs rund 81% tiefer bei nur noch 26 €. Fast 100 Mrd. € an Börsenwert sind vernichtet worden.
Monsanto: eine fatale Akquisition
Der Anfang vom – zumindest vorläufigen – Ende ereignete sich am 23. Mai, als Bayer unter Federführung des neuen CEO Werner Baumann per Ad-hoc-Meldung bekannt gab, die Übernahme des US-Saatgutherstellers Monsanto anzustreben. Am Ende zahlten die Deutschen 63 Mrd. € – und bürdeten sich mit dieser Akquisition eine Klagewelle in Milliardenhöhe auf, die sie bis heute nicht loslässt.
Hintergrund: Zahlreiche Menschen machen den Monsanto-Unkrautvernichter Roundup mit dem Wirkstoff Glyphosat für ihre Krebserkrankung verantwortlich. Auf Anfrage von The Market teilt Bayer mit, dass sich die Kosten für Rechtsfälle – darunter fallen Zahlungen für Anwälte, Vergleiche und gerichtlich verfügte Entschädigungen – in den letzten fünf Jahren auf 13 Mrd. $ belaufen haben. Zwar schliesst dieser Betrag alle Verfahren ein, die Bayer zuletzt führte, doch der Grossteil der Summe dürfte auf das Konto der Glyphosat-Prozesse gehen.
Teure Rechtsstreitigkeiten, die kein Ende finden, und ein zu langes Festhalten an einer Dividendenpolitik, die Bayer sich eigentlich nicht leisten konnte, sind nur zwei Probleme des Konzerns. Vor dem letzte Woche stattfindenden Kapitalmarkttag erhofften sich Investoren und Analysten auch Antworten auf drängende Fragen betreffend die maue Pharmapipeline und die träge Konzernstruktur. Viele Marktteilnehmer spekulieren auf eine Aufspaltung der drei Konzerndivisionen (Pharma, Agrochemie, Consumer Health).
Bayer verzichtet auf Mittelfristprognose
Die Erwartungen wurden fast durch die Bank enttäuscht. Das Management um CEO Bill Anderson irritierte den Kapitalmarkt, indem es auf bessere Zeiten vertröstete, ohne dabei wirklich konkret zu werden. Die Aktie sackte – bereits auf einem Neunzehnjahrestief notierend – um weitere 8% ab. Auch The Market hinterfragt vor diesem Hintergrund den Turnaround-Tipp Bayer im Rahmen der europäischen Favoriten für 2024.
Bayer enttäuschte Analysten und Investoren besonders damit, auf eine konkrete Mittelfristprognose – etwa beim Umsatzwachstum oder bei der Marge – zu verzichten. «Das ist ein grosser Fehler», sagt Markus Manns, Portfoliomanager von Union Investment – die zweitgrösste Fondsgesellschaft Deutschlands hält 0,6% der Anteile von Bayer. «Damit fehlen Investoren sowohl die Wachstumsperspektiven für die nächsten Jahre als auch konkrete Benchmarks, an denen das Management gemessen werden kann.»
Der Konzern formulierte lediglich vage Ziele für die jeweiligen Segmente. Das Agrargeschäft (Crop Science) soll mittelfristig das globale Marktwachstum übertreffen, das Bayer auf jährlich 2% beziffert. Bei der Pharmasparte wird eine flache Umsatzentwicklung prognostiziert, während im kleinsten Segment, Consumer Health, ebenfalls ein Wachstum über dem Markt erwartet wird (3 bis 5%).
Immerhin wird Bayer bei der Guidance für 2024 konkret. Hier gibt jedoch nur Consumer Health Grund zu Optimismus, was die Division zu einer Art Filetstück des Konzerns macht.
CEO Anderson begründete den Verzicht auf konkrete Zielvorgaben auf mittlere Sicht sinngemäss damit, dass es am Ende ja doch immer anders komme. Damit mag er zwar recht haben, vor allem in Bezug auf die Geschichte von Bayer, die er selbst erst seit neun Monaten als CEO zu verantworten hat. Doch den Kapitalmarkt derart im Dunkeln zu lassen, verschärft die ohnehin grosse Unsicherheit.
Lars Jakob Selsås, Analyst bei der Fondsboutique BWM, die in Bayer investiert ist, hält es für möglich, dass der Konzern am Kapitalmarkttag bewusst keine zu grossen Erwartungen aufbauen wollte. «Auch die Divisionsleiter äusserten sich zu den Aussichten bis 2026 viel pessimistischer als noch vor einem Jahr.» Statt immer wieder zu enttäuschen, wolle man bei den Prognosen jetzt offenbar konservativer sein und die Erwartungen schlagen, vermutet er.
Aufspaltung bis auf weiteres vom Tisch
Die harsche Kursreaktion im Zuge des Kapitalmarkttages dürfte auch darin begründet liegen, dass Anderson der Forderung vieler Hedge Funds nach einer Aufspaltung Konzerns eine klare Absage erteilte – zumindest vorerst. Zunächst will er die Restrukturierung des Unternehmens in Angriff nehmen. Dabei hat Anderson offenbar die Rückendeckung des Aufsichtsratsvorsitzenden Norbert Winkeljohann, der den Konzern um jeden Preis zusammenhalten will.
Ein möglicher Kurstreiber, auf den viele Investoren gehofft hatten, ist damit bis auf weiteres verpufft. Auch für The Market war eine potenzielle Aufspaltung ein Argument, die Titel auf die Favoritenliste für 2024 zu setzen. Sie hätte den Wert der Summe der Einzelteile des Konzerns zum Vorschein bringen können – und ihnen je einzeln einen Neustart ermöglicht. Markus Manns von Union Investment schliesst dennoch nicht aus, dass die Abspaltung der kleinsten, aber gesündesten Division Consumer Health «schnell wieder auf der Tagesordnung landen wird, sollte es keine operativen Fortschritte geben».
Dass CEO Anderson zunächst den Laden auf Vordermann bringen möchte, bevor er ihn in Einzelteile zerlegt, ist nachvollziehbar. Das bedeutet für Anlegerinnen und Anleger jedoch, dass sie noch mehr Geduld aufbringen müssen. Der Amerikaner will mit seinem Organisationsmodell Dynamic Shared Ownership (DSO) Bürokratie beseitigen, Hierarchien abbauen und die Entscheidungsprozesse beschleunigen. Dadurch soll bis Ende 2026 eine jährliche Kosteneinsparung von 2 Mrd. € erreicht werden – die einzige konkrete Zielmarke, die Bayer den Investoren bietet.
Glyphosat bleibt eine «Neverending Story»
Kosteneinsparungen hat Bayer mehr denn je nötig. Der Konzern hat wie erwähnt Rekordnettoschulden von 34 Mrd. €, der Verschuldungsgrad (Nettoschulden/Ebitda) beträgt 3,4. Erhält ein Unternehmen robuste Geldflüsse, müssen hohe Schulden nicht zwangsläufig problematisch sein. Doch bei Bayer sind sie ein Problem, weil der Cashflow nicht stimmt und die Ratingagenturen zunehmend kritisch werden. Noch hat Bayer Investment-Grade-Status. Am Dienstag haben die Bonitätswächter von S&P Global Ratings ihren Ausblick für Bayer jedoch von positiv auf nur noch stabil gesenkt. Das Rating entscheidet darüber, zu welchen Konditionen sich ein Unternehmen refinanzieren kann.
Zumindest auf lange Sicht ist Aktienanalyst Selsås davon überzeugt, dass Bayer die Schuldenlast reduzieren kann. Die Herabsetzung der Dividende auf das gesetzlich geforderte Mindestmass (von 2.40 auf 0.11 € je Aktie) für die nächsten drei Jahre verschaffe dem Konzern etwas Luft. Das Management müsse den Cashflow aber wieder in den Griff bekommen. «Wenn der Konzern in den nächsten Jahren vernünftig arbeitet, sehe ich hier sehr gute Chancen», sagt Selsås.
Geld wird Bayer weiterhin auch und vor allem für die Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit den Glyphosat-Prozessen benötigen. Momentan belaufen sich die Rückstellungen auf 6,3 Mrd. $ (ca. 5,7 Mrd. €). Auf die Frage, ob man sie künftig weiter ausbauen wolle, teilt Bayer lediglich mit, dass aus Sicht des Konzerns nach wie vor keinerlei Bedenken in Bezug auf die Sicherheit des Produkts bestünden.
Daran, dass es bei den 13 Mrd. € an Rechtskosten nicht bleiben wird, besteht kein Zweifel. Bisher sah sich Bayer mit 167’000 Klagen konfrontiert, davon sind Stand heute noch 54’000 offen. Bayer betont, dies sei eine Zahl, «die von Anwaltskanzleien der Kläger mitgeteilt wurde». Man wisse nicht, ob die Kläger wirklich Roundup verwendet hätten.
Kann die Klagewelle gebrochen werden?
Klar ist, dass derzeit eine zweite Welle an Klagen anrollt – nachdem vor einem Jahr der Wind erstmals zugunsten von Bayer zu drehen schien. Damals hatte der Konzern eine Reihe von Prozessen für sich entscheiden können. Jüngste Erfolge durch Sammelklagen rufen US-Anwaltskanzleien zurück auf den Plan, die potenzielle Kläger seit Jahren mit TV-Spots anzulocken versuchen.
Bayer teilte am Kapitalmarkttag mit, die Strategie betreffend die Glyphosat-Prozesse überarbeiten zu wollen – auch hier ohne konkret zu werden. «Bayer hält sich mit Details verständlicherweise zurück, weil sie sonst der Gegenseite in die Hände spielen würde», sagt BWM-Analyst Selsås. Manns von Union Investment glaubt derweil, dass die veränderte Strategie zu einem «Game Changer» werden könnte.
Doch wie soll die Klagewelle gebrochen werden? Einige Hoffnungen ruhen auf dem obersten US-Gerichtshof (Supreme Court). Bayer will durch ein Grundsatzurteil erreichen, dass in einigen Bundesstaaten geforderte Krebswarnungen auf der Roundup-Packung grundsätzlich ausgeschlossen werden. Der Konzern stützt sich dabei auf die US-Bundesbehörde EPA, die zum Schluss gekommen ist, dass Glyphosat keinen Krebs verursacht. Ein positiver Entscheid könnte den Klägern einiges an Wind aus den Segeln nehmen.
Die Analysten von Berenberg haben jedoch keine grossen Hoffnungen, dass es so kommen wird. «Die US-Politik ist ausländischen Konzernen gegenüber nicht gerade freundlich gesinnt», schreiben sie im jüngsten Research-Bericht. Man bezweifle, dass Änderungen des US-Rechts Bayer helfen würden. «Der einzige Ausweg besteht darin, wiederholt zu gewinnen – oder weiterhin zu zahlen.»
Es gibt attraktivere Turnaround-Storys
Das sind keine erbaulichen Aussichten für eine attraktive Turnaround-Story. Die Probleme beim Agrar- und Chemiekonzern aus Leverkusen sind zahlreich. Über der trägen Konzernstruktur, der schwachen Pharmapipeline sowie den hohen Schulden, die wegen einer zu geringen Cashflow-Generierung dringend benötigte Investitionen nahezu verunmöglichen, schweben die Glyphosat-Prozesse als Damoklesschwert.
Nach dem enttäuschenden Kapitalmarkttag letzte Woche hat der Investment Case für Bayer auch aus Sicht von The Market an Attraktivität verloren. Die klare Absage an die von Investoren geforderte Aufspaltung ist zwar nachvollziehbar – Anderson will zuallererst die vorhandenen Pferdestärken von Bayer wieder auf die Strasse bringen. Doch dadurch verlängert sich aller Voraussicht nach das Warten der Anleger auf Kursimpulse.
Währenddessen lässt der Verzicht auf eine Mittelfristprognose Analysten, Anleger – und auch The Market – zu sehr im Dunkeln. Das erschwert eine klare Empfehlung zu den Aktien erheblich. Der Turnaround droht noch mehr Zeit zu benötigen als befürchtet. Anleger sollten abwarten, bis klarer wird, wo die Reise bei Bayer hingehen soll und wann sich eine operative Trendwende abzeichnet.
Bis dahin bieten andere Turnaround-Kandidaten mehr Attraktivität, im Pharmabereich etwa Roche. Der Schweizer Konzern kämpft ebenfalls mit seiner Pipeline und wird derzeit an der Börse gemieden. Anders als bei Bayer steckt in Roche jedoch viel Substanz. Mehr zu diesem Investment Case hier.