Karl Kraus hielt «Die letzten Tage der Menschheit» für unspielbar. Nun wird sein vielstimmiges Drama an den Salzburger Festspielen gezeigt. Die Inszenierung überzeugt nur bis zur Pause.
Die jungen Schauspieler nehmen das Wetter poetisch: «Der Regen kommt, doch habt nur Mut. Die Zeit vergeht, es wird schon gut. Doch heut’ nicht, nein, ich seh’ es klar, die Tropfen fallen sonderbar. Ha, nass und kalt, mir soll’s gefallen, drum spielt’s im Haus, Ihr armen Narren.»
In einem launigen Video auf der Website der Salzburger Festspiele reimen sie das Unvermeidliche: Wegen Dauerregens findet die Aufführung von Hugo von Hofmannsthals «Jedermann» heuer nicht draussen auf dem Domplatz, sondern im Festspielhaus statt. Später im August erwartet man in Salzburg gar noch einen «Schneesturm» (nach dem Roman von Vladimir Sorokin), derweil auf der Perner-Insel in Hallein die ganze Welt untergeht und die «Letzten Tage der Menschheit» anbrechen.
Ein Theater-Monstrum
Der Autor Karl Kraus selber hielt sein Stück für unspielbar. Er nannte es «Marstheater» und meinte damit etwas unvorstellbar Grosses, nie Erreichbares. Zehn Abende, schätzte er, würde das Spiel des gesamten Textes mindestens dauern. Hunderte von Szenen und Schauplätzen, bis zu tausend verschiedene Figuren und Stimmen: Ungekürzt hatte das Werk 800 Seiten, eine Bühnenfassung des Autors brachte es noch auf 280 Seiten.
Der Prolog beginnt harmlos mit dem Ausruf eines kleinen Zeitungsverkäufers: «Extraausgabee – !» Der Epilog aber schliesst mit den berühmten und vergeblichen Worten Gottes: «Ich habe es nicht gewollt.» Dazwischen eben: «Die letzten Tage der Menschheit». Ein Theater-Monstrum des Wiener Satirikers und überzeugten Pazifisten Kraus (1874–1936), das mit keinem klassischen Drama gleichzusetzen ist.
Kraus hat Szenen erdacht und vor allem der Wirklichkeit abgelauscht, die sich seit der Ermordung des habsburgischen Thronfolgers 1914 in Sarajevo abgespielt haben oder so zugetragen haben könnten. Dialogfetzen von der Strasse, Monologe von Optimisten und Nörglern, politische Schlüssellochschau, Berichte von der vordersten Front. Vor allem aber auch Klatsch und Tratsch, seitenlang Dummheit, vorgetragen von Zeitgenossen, die im Krieg das neu aufblühende Leben sahen, im Frieden nur die Feigheit. Feindes-Bashing und tumber Nationalstolz – in dem Stück palavern die Menschen, als gleiche ihr bewusst herbeigeführter Niedergang einer strahlenden Wiedergeburt.
Es hat einige Versuche gegeben, «Die letzten Tage der Menschheit» wirklich aufzuführen. Lange Fassungen von bis zu sieben Stunden oder auch an zwei Abenden, jüngst eine Opernversion in Köln sowie kürzere Bearbeitungen, die das Publikum in Nummernrevuen mit berühmten Zitaten bei Laune halten wollten («Serbien muss sterbien!», «Jeder Russ ein Schuss»). In Bamberg versuchte sich gar einmal der grosse Hans Wollschläger an dem dramatischen Unding – und scheiterte.
Allzu plumpe Rhetorik
Bei den Salzburger Festspielen hat sich nun der tschechische Regisseur Dušan David Pařízek bemüht, das Marstheater zu erden, und es gelang ihm erstaunlich kurzweilig, wenngleich auch er den klassischen Krausschen Fallstricken allzu plumper Rhetorik, rhetorisch gedrechselter Friedenslösungen und offensichtlicher Wut auf alles kleinbürgerliche Denken nicht immer entgehen konnte.
Im eigenen Bühnenbild, einem riesigen Würfel, der die Welt bedeutet, braucht Pařízek gerade einmal sieben Schauspieler und keinerlei Rollenwechselzauber, um von einer Gesellschaft zu erzählen, die sich selber alle Lebensgrundlagen abgräbt. Seine Konzentration gilt der Wahrheit und der Frage, wie sie in Kriegszeiten verbogen wird. Dass der Regisseur hier die krisengeschüttelte Gegenwart im Auge hat, muss er nicht extra betonen und braucht auch keinerlei Aktualisierungen.
Die legendäre Frontberichterstatterin Alice Schalek steht im Mittelpunkt des Geschehens und Verderbens. Marie-Luise Stockinger gibt sie mit der hyperventilierenden Aufdringlichkeit, die man auch bei ihren realen Kollegen in allabendlichen Nachrichtensendungen beobachten und beklagen kann. Die Schalek hat das Volk im Griff, verdreht dessen Aussagen ins staatstragende Gegenteil, schert sich einen Dreck um Täter und Opfer, wenn sie nur ganz nah dort sein kann, wo es richtig «Bumsti!» macht.
Ihr erliegen sowohl der brave Wiener (Branko Samarovski), dem das Nachplappern der «freien Presse» ins Blut übergegangen ist und der einem stets ein wenig leidtut im Leiden; das hochtrabend bürgerliche Paar (Dörte Lyssewski, Michael Maertens), das beim Krieg nur die Gewinn- und Verlustrechnung im Kopf hat; der Feldkurat (Felix Resch), dem die Schlacht zur erlösenden Religion wird; der unscheinbare Feldwebel (Peter Fasching) als Spielball. Dazwischenfunken mit Geist und Vernunft könnte da nur der Nörgler, doch die famose Elisa Plüss argumentiert auf verlorenem Posten, ihre Warnungen und messerscharfen Analysen werden vom Lärm der Salven und Detonationen übertönt.
Phrasen der Kriegstreiber
Bis hierher hält die Aufführung zusammen. Die Bezüge zwischen den weit auseinanderliegenden Szenen bleiben bestehen. Doch nach der Pause dieses dreistündigen, kammerspielartigen Schützengraben-Lehrgangs gehen Pařízek die Ideen aus. Er lässt nun zwischen dauerndem Fallen des Vorhangs eine Art Kraus-Best-of abspulen, dessen einzelne Teile meist mit dem moralisch geraunten Satz «Was empfinden Sie?», frontal zum Publikum gesprochen, pädagogisch aufgemotzt werden.
Der Regisseur nimmt seinen Auftrag hier ein bisschen überernst, wenn er in Szenenschnipseln unverdrossen der untergehenden Welt unterstellt, sie sei «geschichtsvergessen», wie er im Programmheft sagt. Die hohlen Phrasen der Kriegstreiber aber verhallen, die blinde Gefolgschaft des Volkes wirkt harmlos, die Erzählungen von Greueltaten und Vergewaltigungen, von zerfetzten Leibern und Militär-Arroganz gehen beiläufig unter im Kanonendonner.
Der aufgeklärte Festspiel-Zuschauer, dem hier auf der Perner-Insel eh der Frieden lieber ist als der dauernde Krieg, möchte da eigentlich nur noch mit dem alten Kaiser sprechen: «Mir bleibt auch nichts erspart.» Gleichwohl stehende Ovationen bei der Premiere für Schauspieler und Regie.