Die Katholiken feiern Anfang November Allerheiligen und Allerseelen, und gedenken auf dem Friedhof der Toten. Was sich dort gerade verändert, erzählt viel über die Gesellschaft.
Stefan Mesmer-Edelmann hat in seinem Leben viele Grabsteine angefertigt. Ausgefallene, zurückhaltende, aufwendige, einfache. Er ist seit vierzig Jahren Bildhauer in Muttenz. Lange waren Grabsteine in der Schweiz eine Selbstverständlichkeit.
Die Namen und Lebensdaten von Verstorbenen wurden in Grabplatten eingraviert, Stein um Stein erinnerte an die Verstorbenen. Der Friedhof, das war auch eine Galerie der Dorfgeschichte.
Es gibt eine Anekdote aus Mesmer-Edelmanns langem Berufsleben, die den Wandel seiner Branche veranschaulicht. Einst habe eine Frau bei ihm einen Grabstein bestellt. Sie sagte, sie werde morgen sterben und wolle die Angehörigen entlasten. Sie bezahlte, er machte die Arbeit. Die Frau starb erst siebzehn Jahre später.
Mesmer-Edelmann las die Todesanzeige und meldete sich bei den Hinterbliebenen, in der Annahme, sie würden sich über die Überraschung freuen. Doch die Angehörigen wiesen den Grabstein zurück. Sie wollten sich nach der Beerdigung nicht um die Grabpflege kümmern müssen und bestatteten die Frau in einer Urne im Gemeinschaftsgrab.
Die Anekdote illustriert einen gesellschaftlichen Trend. Immer häufiger werden Verstorbene kremiert und in Gemeinschaftsgräbern beigesetzt. Der Grabstein, einst wichtiges Statussymbol, verschwindet.
Die Urnenbestattung ist der Normalfall
Stefan Mesmer-Edelmann sagt, der Friedhof sei ein Abbild der Gesellschaft und des Zeitgeistes. «Früher war ein repräsentativer Grabstein so wichtig wie heute ein schickes Auto oder eine teure Uhr. Wenn jemand keinen Grabstein hatte und in die Urnenwand musste, galt er als armer Schlucker.»
Heute ist die Urnenbestattung der Normalfall. Im vergangenen Jahr wurden laut dem Schweizer Verband der Bestatter 90 Prozent aller Verstorbenen kremiert. Im Jahr 2000 waren es noch etwa 70 Prozent, 1950 knapp 20 Prozent. Erdbestattungen kommen nur noch selten vor, an manchen Orten gibt es jahrelang keine einzige.
Ein Grab bedeutet Arbeit, Verpflichtung, Engagement. Viele Angehörige sind heute nicht mehr bereit, ein Grabmal selber zu unterhalten. Entweder man lässt das von einer Fachperson machen, und das kostet Geld. Oder man kümmert sich selber um die Blumen und den Grabschmuck, das kostet Zeit.
Und immer mehr Menschen wenden sich von der Religion ab. Dieses Jahr haben die Konfessionslosen die Katholiken erstmals überholt und sind zur grössten religionssoziologischen Gruppe im Land geworden. Die Kirche, der Friedhof, der Grabstein: scheinbare Relikte aus einer früheren Zeit.
Ein Stück Erinnerungskultur verblasst
Mit dem Grabstein verschwindet ein Kulturgut und ein Denkmal der Erinnerungskultur. Die Stadt Basel setzt diesen Freitag, zu Allerheiligen, einen Kontrapunkt. Eine Jury, der auch Mesmer-Edelmann angehört, zeichnet künstlerisch und handwerklich herausragende Grabmäler aus. Die Ehrung findet seit 1996 jedes Jahr statt, auch andere Städte kennen ähnliche Anlässe.
Christian Galsterer ist Teamleiter bei den Friedhöfen der Stadt Basel und verantwortlich für diese Auszeichnung. Er sagt: «Ein besonderes Grabmal verleiht Gefühlen und Geschichten eine Form und zeugt von einer Auseinandersetzung mit dem Verstorbenen.» Der Preis ist ein stilles Zeichen gegen die Beliebigkeit. Die Stadt wolle mit der Grabmalprämierung die Hinterbliebenen ermutigen, sich die Zeit zu nehmen, um der verstorbenen Person ein persönliches Andenken zu schaffen.
Dieser Prozess sei oft mit Schmerz verbunden. Darum versteht Galsterer die Auszeichnung auch als Anstoss zur Enttabuisierung des Sterbens. «Wenn wir uns vor dem eigenen Tod mit der Endlichkeit befassen, können wir dem versteckten Leiden entgegenwirken.»
Besser trauern mit einem Grabstein
Ein Grabstein habe im Trauerprozess einen starken Effekt, sagt Stefan Mesmer-Edelmann. Besonders bei plötzlichen Verlusten, etwa wenn ein junger Mensch verunfallt oder eine nahe Bezugsperson überraschend verstirbt. Diese Wirkung werde oft unterschätzt. «Sobald der Grabstein steht, können viele Menschen besser akzeptieren, dass ein lieber Mensch tot ist und das Leben ringsum weitergeht.» Der Stein ruht, und so ruht auch der Verstorbene.
Dazu kommt die soziale Komponente. «Früher war es für viele Witwen oder Witwer eine dankbare Aufgabe, das Grab zu bestellen», sagt Stefan Mesmer-Edelmann. «Sie trafen sich mit anderen Hinterbliebenen auf dem Friedhof, man kümmerte sich, das Grabmal war wie ein sozialer Treffpunkt.» Man könne das teilweise in kleinen italienischen Dörfern heute noch beobachten. In der Schweiz sei die Gesellschaft heute anonymer, und das zeige sich eben auf dem Friedhof.
Das Andenken heute: individuell, aber anders
Der Umgang mit den Toten verändert sich. Die Asche von Verstorbenen wird häufiger in der Natur verstreut, auf einem Berg, an einem See, im Wald. Man liest, dass Angehörige statt eines Grabsteins ein Wildbienenhotel aufstellen wollen oder die Asche in einen Diamanten pressen lassen. Friedhöfe bieten Baumgräber an, private Anbieter sogenannte ökologische Alternativen. Das Bedürfnis nach einem individuellen Andenken zeigt sich heute also immer noch, aber in anderer Form.
Der Friedhof aber verändert sich. Für die Gemeinden hat das finanzielle Folgen, aber auch gestalterische. Wenn immer weniger Menschen einen Grabstein haben, verändert sich das Erscheinungsbild der Friedhöfe. Gerade in grösseren Städten werden zunehmend Flächen frei. Manche testen Zwischennutzungen, andere setzen vermehrt auf Veranstaltungen.
Die Grenzen zwischen Friedhof und Park verschwinden, was sich am Beispiel grosser Städte wie Basel, Bern, Luzern oder Zürich gut beobachten lässt. Oder wie Christian Galsterer sagt: «Ein Friedhof ist heute ein Ort des Lebens, und nicht ein Ort des Todes.»