Unter dem Trainer Xabi Alonso ist der Schweizer der unumstrittene Leader des designierten Bundesliga-Champions. Er schreibt in Leverkusen eine Erfolgsgeschichte, an die ausser ihm nicht viele geglaubt haben.
Vielleicht muss man bei Harry Kane beginnen, um zu Granit Xhaka zu gelangen. Auf den ersten Blick haben die beiden Fussballer relativ wenig gemein. Von der Position her – der eine Stürmer, der andere ein Stratege im Mittelfeld – unterscheiden sie sich ebenso sehr wie von der Erscheinung.
Was die beiden aber verbindet, ist neben dem fortgeschrittenen Fussballeralter von mehr als 30 Jahren der Zeitpunkt eines Wechsels aus der englischen Premier League in die Bundesliga – und ebenso der Anspruch, mit dem sie gekommen waren. Harry Kane wollte, als er im vergangenen Sommer für stattliche 100 Millionen Euro aus Tottenham zu den Bayern kam, endlich den ersten Titel seiner Karriere gewinnen. Granit Xhaka, für relativ preiswerte 15 Millionen Euro vom FC Arsenal verpflichtet, hatte grosse Pläne mit Leverkusen.
Während Kanes Anspruch mit dem deutschen Rekordchampion nicht weiter erklärungsbedürftig erschien, dürften manche über Xhakas Ambitionen mit Leverkusen gelächelt haben. Doch nun, vor dem 29. Spieltag, ist es der Schweizer, der die Meisterschaft am Sonntagabend mit einem Sieg gegen Bremen feiern kann. Kane, der Weltstar aus London, ist mit seinem Bayern von Leverkusen regelrecht deklassiert worden.
Leverkusen liegt 16 Punkte vor den Bayern
16 Punkte liegen die bisher in allen Wettbewerben ungeschlagenen Leverkusener vor dem Serienmeister. Für Xhaka wäre es die erste Meisterschaft, seit er Basel 2012 verlassen hat. Zweimal gewann er den FA Cup mit dem FC Arsenal – das ist keineswegs geringzuschätzen. Doch mit Leverkusen, jenem Klub, der sich wegen zahlreicher zweiter Plätze den deprimierenden Beinamen «Vizekusen» einhandelte, über die Bayern zu triumphieren, ist dann doch noch einmal eine andere Preisklasse.
Xhaka ist sich dessen durchaus bewusst. Er spricht davon, «Geschichte schreiben» zu können mit der Mannschaft, die er dirigiert. Sie folgt seinem Kommando, seinen Anweisungen, und sie spielt so eindrücklich gut Fussball, dass auch das Urteil über ihn bereits gesprochen ist: In dieser Saison gibt es keinen besseren defensiven Mittelfeldspieler in der Bundesliga. Nicht in München, nicht in Stuttgart, erst recht nicht in Dortmund.
Xhaka imponiert, und zwar in allen Wettbewerben; ausser in der Meisterschaft reüssiert Leverkusen auch in der Europa League und im DFB-Cup. Die grösste Sorge der Leverkusener war und ist stets diejenige, dass sich der 31-Jährige verletzen könnte. Ausfälle wie jener des Mittelstürmers Victor Boniface waren zu verkraften. Eine Verletzung Xhakas indes wäre eine Katastrophe gewesen.
Warum geht einer von seinem Kaliber nach Leverkusen? In jenen Klub, der vieles ist, nur nicht glamourös? Diese Frage war Gegenstand vieler Spekulationen, als er im vergangenen Sommer unterschrieb. Eine Deutung lautete: weil seine Frau Leonita zurück ins Rheinland wolle, wo sie aufgewachsen sei. Die beiden haben sich kennengelernt, als Xhaka für Borussia Mönchengladbach spielte und sie in der Geschäftsstelle in Gladbach arbeitete.
Diese Interpretation ist umstritten; der Boulevard will erfahren haben, dass es Frau Xhaka in London ausgezeichnet gefallen habe. Vielmehr war der Wechsel ausschliesslich fussballerisch motiviert, wie Xhaka der «NZZ am Sonntag» sagte: «Ich habe den Entscheid allein als Fussballer und Sportler getroffen. Ich bin zu einem Topklub in Deutschland gekommen, der einen Plan hat und der etwas erreichen will.»
Xhaka übertrifft die Erwartungen
Ein Topklub: Das war Leverkusen gerade nicht, als Xhaka dort hinkam. Vielmehr hatte der Trainer Xabi Alonso aus einer Mannschaft, die unter seinem Vorgänger Gerardo Seoane spektakulär abgestürzt war, wieder ein sehr respektables Team gemacht. Das Potenzial der Equipe war zwar zu erkennen, aber es spricht vor allem für Xhakas Selbstvertrauen, ein solches Etikett zu verwenden, um ihm hinterher erst das entsprechende Gewicht zu verleihen.
Leverkusens Sportchef Simon Rolfes indes erklärte, dass es Xhaka zurück nach Deutschland gezogen habe. Auch deswegen sei es gar nicht so schwer gewesen, ihn für das ehrgeizige Leverkusener Projekt zu gewinnen: als Adjutanten von Xabi Alonso auf dem Feld, jenem einstigen Mittelfeldlenker, der innerhalb kürzester Zeit zum meistumworbenen Coach des Weltfussballs geworden ist.
Doch ganz gleich, welches Motiv nun den Ausschlag gab, sich Leverkusen anzuschliessen: Der Klub hat mit Xhaka bekommen, was er sich erhofft hatte, und womöglich sogar noch viel mehr. Einen Schlüsselspieler habe man verpflichten wollen, einen herausragenden Fussballer, aber auch einen Leader, sagt der Sportchef Rolfes: «Wenn man dann auch noch Anforderungen wie Erfahrung an den Spieler stellt und dass er im besten Fall sowohl auf Deutsch wie auch auf Englisch gut kommunizieren kann», so Rolfes im NZZ-Interview, «ist die Auswahl nicht mehr so gross. All diese Komponenten bringt Granit auf höchstem Niveau mit.»
Rolfes und Xhaka kennen sich noch als Gegenspieler aus Bundesliga-Duellen, Rolfes spielte auf derselben Position wie Xhaka und auch Xabi Alonso. Der Manager preist die Reifung des 31-Jährigen, der längst über eine «ganz andere Stabilität» verfüge als damals. Schliesslich aber sei es geradezu traumhaft, wie der Trainer Alonso und Xhaka harmonierten. Da passe alles zusammen: der Anspruch des Trainers, einen Leader auf dem Feld zu haben, der Anspruch Xhakas, ebenjene Figur zu sein, und die Idee vom Fussball, die dieselbe sei.
Xhaka bewundert den Trainer Xabi Alonso
Als sich der Trainer und der Spieler zur ersten Arbeitsbesprechung trafen, ging es vor allem darum, ob Xhaka defensiver oder offensiver spielen solle. Beide kamen zu dem Schluss, dass der Schweizer seine Qualitäten am besten als defensiver Mittelfeldspieler entfalten könne. Auf die Frage, ob der Trainer in ihm den Spieler sehe, der Xabi Alonso einst in Madrid, München und Liverpool gewesen sei, übte er sich in Demut: «Wenn das von aussen so aussieht und man mich mit ihm vergleicht, ist das für mich eine grosse Ehre. In meinen Augen ist Alonso einer der besten Sechser in der Fussballgeschichte.»
Zwar erstarrt der notorisch selbstbewusste Xhaka nicht in Ehrfurcht vor dem grossen Mann aus dem Baskenland, der jeden erdenklichen Titel im Fussball gewonnen hat – «ausser der Europa League», wie Xhaka beflissen anmerkte, da Xabi Alonso nie in der Europa League, sondern stets in der Champions League spielte. Doch der Respekt vor Alonso ist gewaltig. Und vielleicht klärt sich so auch ganz nebenbei die Frage, warum der Stratege Xhaka in Leverkusen mit jener Konstanz überzeugt, die ihm in der Schweizer Nationalmannschaft mitunter abgeht. Zwar liegen ihm dort die Duelle, in denen er sich bis an die Grenze der Verträglichkeit aufputscht.
Allerdings ist auffällig, dass er in Leverkusen ohne diese bisweilen selbstschädigende Reibung auskommt. Vielmehr zügelt er sein Temperament in einem Masse, dass es kein Risiko mehr darstellt. Die vier gelben Karten, die er im Laufe dieser Saison kassierte, sind für einen mit seinem Vorstrafenregister, der in seiner Karriere neun Mal vom Platz geflogen ist, geradezu ein Klacks.
Zumal die Position per se selbst die diszipliniertesten Spieler manchmal zu taktischen Fouls zwingt. Auch darin spiegelt sich der Reifeprozess eines Spielers, dem der ehemalige Mönchengladbacher Manager Max Eberl schon 2016 ein erlesenes Qualitätszeugnis ausstellte: «Wir reden hier über einen Weltklassespieler», sagte Eberl, als Arsenal damals beachtliche 45 Millionen Euro für den Schweizer Nationalmannschafts-Captain bot.
Neu ist es also nicht, dass Xhaka enorme Qualitäten hat: Ruhe, Übersicht, Ballbehauptung selbst in grosser Bedrängnis. Ebenso wie den Drang, eine Mannschaft nach vorne zu treiben. Idealtypisch war dies zu beobachten im Match gegen die Bayern, als Leverkusen beim 3:0 genau das tat, was der Bayern-Coach Thomas Tuchel gefordert hatte: «Die Karten auf den Tisch legen.»
Wer Xhaka nach solchen Auftritten erlebt, der sieht keinen Spieler, der triumphierend durch die Katakomben des Stadions gockelt. Eher einen, der kurz den Augenblick geniesst und weiss, dass die nächste Prüfung schon ansteht.
Inzwischen hat er ein Gespür dafür entwickelt, wann es an der Zeit ist, Ansprüche zu formulieren. Dezenter als früher, ohne dass es ihm an Selbstbewusstsein gebricht. Vor ein paar Tagen sprach Xhaka vom Triple – und er meint damit die Meisterschaft, den Sieg im DFB-Pokal und den Erfolg in der Europa League. Drei Titel in einem Jahr: Das würde für einmal selbst dem Anspruch Granit Xhakas an sich selber genügen.