Der amerikanische Reporter Evan Gershkovich und der Berliner Tiergartenmörder sind unter den Freigelassenen. Russland hat aber auch prominente politische Gefangene abgeschoben – in diesem Ausmass ein Novum.
Einen so aufsehenerregenden Gefangenenaustausch zwischen dem Westen und Moskau hat es selbst im Kalten Krieg nicht gegeben. Am Donnerstagnachmittag verdichteten sich die tagelangen Gerüchte zur Gewissheit, als auf dem Flughafen der türkischen Hauptstadt Ankara Regierungsflugzeuge aus Russland und Flugzeuge aus Deutschland, Slowenien, Polen, Norwegen und den USA mit Gefangenen an Bord landeten. 26 Personen wurden ausgetauscht – 10 wurden an Russland überstellt, 16 an Deutschland und die USA.
Der türkische Geheimdienst MIT war nach Angaben des türkischen Präsidialamts von Anfang an massgeblich in die Verhandlungen und die Umsetzung des Austauschs involviert. Das Weisse Haus in Washington und der Kremlsprecher bestätigten diesen am Abend. Der russische Geheimdienst FSB veröffentlichte Fernsehbilder von der Übergabe der Gefangenen in Ankara.
Berlin übergibt den «Tiergarten-Mörder»
An Bord des amerikanischen Flugzeugs befanden sich Russen, die in den USA zu langjährigen Haftstrafen wegen Cyber-Verbrechen, des Schmuggels westlicher Technologie und Finanzdelikten verurteilt worden waren, sowie der sogenannte «Tiergartenmörder» Wadim Krasikow, der in Deutschland zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilte Geheimdienstagent.
Einer der von den USA Freigelassenen, Wladislaw Kljuschin, war 2021 auf amerikanische Bitte in der Schweiz festgenommen und später in die USA ausgeliefert worden. Aus Slowenien wurde ein russisches Ehepaar, das als sogenannte «Illegale» – unter falschem Namen lebende Spione –aufgeflogen war, aus Norwegen ein weiterer «Illegaler» und aus Polen ein Spion überstellt. Der russische Präsident Wladimir Putin hat die freigelassenen Russen nach ihrer Ankunft in Moskau persönlich empfangen.
Den russischen Flugzeugen entstiegen unter anderen der amerikanische Journalist Evan Gershkovich, der vor zwei Wochen wegen angeblicher Spionage zu 16 Jahren Lagerhaft verurteilte Korrespondent des «Wall Street Journal», sowie Paul Whelan, der seit 2020 eine Lagerhaftstrafe wegen «Spionage» absass. Auch Rico Krieger, der vor kurzem in Weissrussland zum Tode verurteilte und diese Woche vom Machthaber Lukaschenko begnadigte Deutsche, sowie ein in St. Petersburg wegen Drogenschmuggels verurteilter Deutscher wurden freigelassen.
Bekannte russische Gefangene abgeschoben
Bemerkenswerter noch ist der Umstand, dass Russland zwölf eigene Staatsbürger an den Westen überstellte, die aus politischen Gründen verurteilt worden waren. Unter ihnen sind der Oppositionspolitiker Ilja Jaschin, der Historiker, Journalist und Politiker Wladimir Kara-Mursa, der auch britischer Bürger ist, sowie der Menschenrechtsaktivist und langjährige Memorial-Vorsitzende Oleg Orlow. Sie alle hatten sich angeblich der «Verbreitung von Falschnachrichten über die russischen Streitkräfte», des «Hasses auf die Staatsmacht» und, im Falle Kara-Mursas, auch des Hochverrats und der Tätigkeit in einer «unerwünschten Organisation» schuldig gemacht.
Auch der jüngste wegen Hochverrats Verurteilte, der 18-jährige deutsch-russische Doppelbürger Kevin Lick, zwei weitere deutsch-russische Doppelbürger, die russisch-amerikanische Journalistin Alsu Kurmasheva sowie drei wegen «Führung einer extremistischen Organisation» zu langjährigen Haftstrafen verurteilte ehemalige regionale Vertreter des im Februar im Straflager umgekommenen Politikers Alexei Nawalny sind unter den Freigelassenen.
Hätte Nawalny ausgetauscht werden sollen?
Über einen möglichen Gefangenenaustausch war seit Monaten spekuliert worden. Die Festnahme Gershkovichs im März 2023 hatte von Anfang an wie eine Geiselnahme zum Freipressen von im Westen verurteilten Russen ausgesehen. Im Februar hatte Präsident Wladimir Putin gegenüber dem amerikanischen Moderator Tucker Carlson unverblümt, aber ohne Namensnennung angedeutet, wen er im Tausch gegen den 31-jährigen amerikanischen Reporter gerne zurückhätte: den Tiergartenmörder Krasikow, dessen Tat auf offener Strasse in Berlin er einen «patriotischen Akt» nannte.
Als kurz darauf Nawalny unter bis heute ungeklärten Umständen im Straflager am Polarkreis ums Leben kam, wurde bekannt, dass ein Austausch Nawalnys gegen Krasikow möglicherweise kurz vor der Realisierung gestanden habe. Nur so wäre Deutschland bereit gewesen, den verurteilten Mörder freizugeben. Diesen Sachverhalt bestätigten am Donnerstag Nawalnys Witwe Julia, sein Mitstreiter Leonid Wolkow und der Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten, Jake Sullivan. Nawalnys Tod im russischen Kerker beendete zwar zunächst die Verhandlungen. Zugleich führte er umso greller das Schicksal vor Augen, das auch anderen prominenten Gefangenen blühen könnte.
Wie die russische Rechercheplattform «The Insider» schreibt, nahmen deshalb Geheimdienstvertreter Russlands, Deutschlands und der USA im Frühsommer die Verhandlungen wieder auf. Deutschland bemühte sich als Gegenleistung für die umstrittene Überstellung Krasikows um die Freilassung russischer politischer Gefangener. Diese wurden von Putin begnadigt. Reue mussten sie dafür nicht bekunden.
Putin begründete die Begnadigungen damit, dass dadurch russische, in ausländischen Gefängnissen festgehaltene Bürger zurückgeholt werden konnten. Der FSB, der russischerseits den Austausch koordinierte, teilte mit, die in den Westen Überstellten hätten im Auftrag ausländischer Staaten gehandelt und die Sicherheit Russlands bedroht. Dmitri Peskow, der Sprecher Putins, liess verlauten, er hoffe, diese «Feinde» kämen nie mehr nach Russland zurück.
Die Rückkehrer begrüsste Putin am späteren Abend persönlich in Moskau am Flugzeug; ein roter Teppich war für sie ausgelegt worden, und die Präsidialgarde säumte diesen. Putin umarmte jeden einzelnen – auch Krasikow. Er dankte ihnen für ihre Dienste am Vaterland und stellte in Aussicht, sie dafür auszuzeichnen.
Erfolg für Putin
Mit dem Gefangenenaustausch kann der Kreml zeigen, dass er seine Agenten nicht im Stich lässt. Die Bereitschaft dazu, im Ausland blutige Aufträge zu erledigen, dürfte das erhöhen. Mit der Abschiebung lästiger politischer Gegner, die, wie Kara-Mursa, schwer krank sind, zeigt Putin einerseits eine gewisse Milde, anderseits weiss er, dass diese im Exil eine weit geringere Bedrohung für sein Regime darstellen als im Land selbst. Dem Westen beweist er, dass er verhandlungs- und kompromissfähig ist – ein willkommenes Signal im Hinblick auf mögliche Friedensgespräche zur Ukraine. Von einem «Tauwetter» auszugehen, wäre aber völlig verfehlt. In den russischen Gefängnissen harren Hunderte von politischen Gefangenen aus, und die Repression gegen Andersdenkende lässt keineswegs nach.
Dass Putin indirekt zugibt, politische Gefangene gemacht und ausländische Geiseln genommen zu haben, kümmert ihn nicht. Den Propagandisten gibt der Austausch sogar zusätzliche Nahrung: Sie fühlen sich erst recht darin bestätigt, dass Jaschin, Kara-Mursa und die anderen «Politischen» immer schon «Agenten des Westens» gewesen seien. Die exilierte russische Politologin Jekaterina Schulmann dagegen hob mit Bezug auf die faktischen Geiselnahmen ausländischer Bürger in Russland hervor, ein Staat sei keine Bande. Er bediene sich legaler Methoden, nicht solcher, die terroristische Gruppierungen anwendeten.
So bedeutsam und erfreulich es ist, dass die allesamt zu Unrecht Verurteilten dem russischen Strafvollzug entronnen sind, hinterlässt der Gefangenenaustausch auch einen bitteren Nachgeschmack. Er ist ein weiterer Beleg dafür, wie der russische Staat Menschen, auch die eigenen Bürger, nur als Ware betrachtet. Nicht genügend Stromlinienförmige drängt er ohne Rücksicht auf deren Willen und familiäre Bezüge in der Heimat aus dem Land und versucht sie zu zerstören.
Ausbürgern, wie zu Sowjetzeiten, kann er sie nicht mehr. Aber es geht bei aller berechtigten Euphorie, besonders in der Exil-Opposition, vergessen, dass einige der Betroffenen, besonders Jaschin und Orlow, ganz bewusst nicht ausreisen wollten und sehenden Auges das Gefängnis für ihre politischen Überzeugungen in Kauf nahmen. Jaschin hatte einst gesagt, er würde im Exil verkümmern, deshalb wolle er Russland nicht verlassen. Jetzt scheint ihm keine Wahl geblieben zu sein.