Im Schauspielhaus inszeniert Bastian Kraft das Märchen von Hans Christian Andersen. Dabei kann er sich auf imposante und gewitzte Schauspielerinnen und Dragqueens verlassen.
Zuletzt will der Beifall nicht enden. Standing Ovations im Saal; das Publikum ist von Anerkennung und Mitgefühl in corpore aus den Sitzreihen getragen worden. Und die Dragqueens und Schauspielerinnen und Schauspieler bilden auf der Bühne immer wieder eine bunte Formation, um einmal mehr mit textilem Bombast und kosmetischer Pracht zu beeindrucken.
Der Tüll schäumt auf in zitronengelben Puffärmeln, der grüne Satin glänzt über schmalen Taillen und spitzen Highheels. Bunte Bubikopf- und Bienenstockfrisuren sowie goldene Diademe schmücken bald stolz erhobene, bald kokett geneigte Häupter. Darunter scheinen die Gesichter dank Glittertränen und blutroter Schminke zu überquellen vor Gefühlen und Wünschen. Tatsächlich lässt die üppige Oberfläche, das hat das von Bastian Kraft inszenierte Stück im Pfauen gezeigt, auf seelische Tiefen und Abgründe rückschliessen.
Gut zwei Stunden zuvor nimmt die Premiere von «Die kleine Meerjungfrau. A fluid fairy fantasy» ihren Anfang in einer Garderobe (Bühne: Peter Baur). Sieben Frauen und Männer sitzen, den Rücken zum Publikum gekehrt, vor quadratischen Spiegeln. Wer bin ich, mögen sie sich fragen. Oder: Wer würde ich gerne sein. Und vielleicht können sie sich mithilfe von Pinseln und Stiften eine gewünschte Identität bereits ins Gesicht skizzieren.
Es war einmal
Während die Künstler an ihren Schminktischen arbeiten, kommen ihnen allerdings alte Geschichten in den Sinn, die ihr Selbstverständnis wie ein Schicksal zu überschatten scheinen. Es war einmal. Es war einmal ein Junge, der sich die Meerjungfrau-Barbiepuppe wünschte. Zu seiner Überraschung brachte das die Eltern in Verlegenheit; irgendetwas an seinem Wunsch schien verboten. Once upon a time there was auch ein boy – das Stück ist mehrsprachig in Englisch, Deutsch und Aargauer Mundart –, der plötzlich zu sprechen aufhörte. Und schliesslich war da auch einmal eine Meerjungfrau, die sich bei den Menschen unglücklich in einen Prinzen verliebt hatte.
Irgendwann drehen sich die Darsteller auf der Bühne dann dem Publikum zu, um sich vorzustellen und aus ihrem Leben zu erzählen. Ivy Monteiro alias Tropikahl ist Tänzer. Anis Meschichi alias Klamydia ist Biologe an der ETH und Michel von Känel alias Paprika ist Mathematiklehrer. Die drei Männer treten überdies als Dragqueens auf. Offenbar ist diese Leidenschaft ein Vergnügen, aber auch eine Therapie gegen jahrelanges Leiden unter Einsamkeit, Scham und Tabus. Klamydia erinnert sich an den Vater, der beim Fischen «a real man» aus seinem Sohn machen wollte. Und Paprika weiss noch, wie beleidigt und schockiert sein Mami war nach seinem Coming-out; unterdessen sei es allerdings sein grösster Fan.
Die individuellen Erzählungen aber werden nun mit Hans Christian Andersens Märchen von der Meerjungfrau kombiniert. Der Sinn dieser Verknüpfung manifestiert sich nach und nach – wenn die Dragqueens zusammen mit den Schauspielerinnen und Schauspielern Sasha Melroch, Karin Pfammatter, Elias Arens und Julian Greis in einer Art Nummernshow Episoden aus Andersens Märchen in Szene setzen. Die Verkettung hybrider Genres wie Karaoke, Musical, Burlesque, Video-Choreografien sorgt dabei wiederholt für kräftigen Zwischenapplaus.
Die Bühne wird plötzlich zum Aquarium. Spielzeugfische und Drag-Nixen sieht man durch den Raum schweben. Und die Rollenverteilung erweist sich im wässrigen Element sozusagen als fluid. Es zeigen sich wiederum Probleme der Identitätsfindung, wenn etwa Karin Pfammatter einmal die Schwester der Meerjungfrau spielen soll, dann deren Grossmutter oder gar den mit einem Dreizack bewaffneten Meereskönig. Sie wehrt sich denn auch kleinlaut gegen den wechselnden Rollenzwang – umso mehr glänzt sie einmal mehr als wandelbare und komödiantische Schauspielerin.
Das traurige Schicksal der kleinen Meerjungfrau aber nimmt unaufhaltsam seinen Lauf. Sie hat einen Prinzen vor dem Ertrinken gerettet und sich dabei gleich in ihn verliebt. Der ehelichen Verbindung mit dem schönen Mann aber steht ihr Fischschwanz im Weg. Es nützt nichts, dass sie Eltern und Schwestern vor den Menschen warnen und vor einer Operation: Der Schwanz soll weg. In einer furiosen Musicalszene besucht sie eine medusenhafte Meereszauberin, die ihr zu zwei Beinen verhelfen kann. Allerdings um den Preis der Stimme.
Unmögliche Liebe
Andersens Märchen, der darin auch die eigene, unmögliche Liebe zu einem Mann ausgedrückt haben soll, dient dieser Inszenierung als Analogie – wenn nicht zu operativen Geschlechtsumwandlungen, so jedenfalls zum Schicksal von Homosexuellen und zur Travestie der Dragqueens. Dabei wird insbesondere das Motiv der verlorenen Stimme immer wieder aufgegriffen: wenn die Dragqueens Pop-Songs nicht singen, sondern bloss durch Lippenbewegungen imitieren können. Offensichtlich wollen Regisseur und Dragqueens in der erzwungenen Stummheit ein Symbol für die Tabuisierung sehen.
Ihr Stück immerhin ist ein starkes Statement für Offenheit und Toleranz. Dramaturgisch gesehen ist die Verschränkung des Märchens mit realen Erfahrungen allerdings nicht ganz unproblematisch. Bei allem Schwung, den das unterhaltende Stück entwickelt, ist die Märchenvorlage auch eine Hypothek. Mit der Zeit wird das Drag-Theater zur Drag-Show. Und dann interessiert man sich als Zuschauer vor allem noch für die realen Figuren und ihre performative Virtuosität.
Aber das Märchen will fertig erzählt werden. Und während man dann also erfährt, wie die kleine Meerjungfrau, nun mit Beinen bewehrt, aber stumm, dem Prinzen zwar in die Arme läuft, ohne aber für die Heirat in Betracht gezogen zu werden, um letztlich dem tödlichen Meer anheimzufallen, wird der üppigen Produktion auch noch einiges an politischem Protest beigemischt: Protest gegen den Kolonialismus und die Verschmutzung der Meere, gegen die Unterdrückung der Schwulen in Russland, gegen die Unterdrückung des Gendersterns.
Überfüttert und überwältigt, lassen die Zuschauerinnen und Zuschauer zuletzt den Applaus aufbranden. Die Begeisterung gilt zum einen der barocken Inszenierung und den teilweise grossartigen Einzelshows. Aber die frenetischen Reaktionen lassen sich nicht nur durch künstlerische Qualität erklären. Es geht auch um Sympathie und Solidarität. Die Dragqueens haben sozusagen ihre Herzen geöffnet. Dafür will sich das Publikum zuletzt mit Beifall und Zuneigung bedanken.