Die Kinder ziehen aus, Ehepartner sterben, doch die Menschen bleiben in ihren Wohnungen. Die grösste Hypothekargeberin der Schweiz kritisiert die Fehlanreize im Schweizer Mietrecht und spricht von einem grossen, brachliegenden Flächenpotenzial.
Wer in der Schweiz, besonders in den Städten, derzeit nach einer neuen Wohnung sucht, stösst rasch an Grenzen. Die Zahl der auf Online-Portalen ausgeschriebenen Wohnungen hat sich in eineinhalb Jahren halbiert. Gleichzeitig steigen die Mieten der auf dem Markt stehenden Objekte so schnell wie seit über einem Jahrzehnt nicht mehr (plus 4,7 Prozent im Jahr 2023). Treiber dieser Entwicklung sind die historisch hohe Nettozuwanderung und eine ebenso historisch geringe Bautätigkeit.
Glück hat vor diesem Hintergrund, wer langjähriger Bestandsmieter ist. Das sind Menschen, die seit drei, fünf oder mehr Jahren in ihren Wohnungen leben. Zwar sind auch ihre Mietzinsen in den vergangenen zwei Jahren merklich gestiegen: So konnten Vermieter den höheren Referenzzinssatz, 40 Prozent der Inflation und Kostensteigerungen weitergeben.
Aber von den Kräften des Marktes bleiben die Bestandsmieter vollständig verschont. Wenn die Nachfrage zuwanderungsbedingt steigt, hat das keinen Einfluss auf ihre Mieten. Wenn keine neuen Wohnungen gebaut werden, ebenso. So will es das Schweizer Mietrecht.
Bereits nach wenigen Jahren in einer Wohnung lohnt sich der Umzug nicht mehr. Eine vergleichbare Wohnung auf dem freien Markt kostet fast immer mehr als das bereits gemietete Objekt.
Laut der Hochschule Luzern zahlen Haushalte in angespannten Märkten bei einem Umzug im Median 2,6 Prozent ihres Jahreseinkommens zusätzlich für die Miete. Das liegt daran, dass Vermieter den Mietzins jeweils nur beim Auszug an die Marktverhältnisse anpassen dürfen – dann aber in der Regel markant. Selbst wer als Mieter eine Verkleinerung der Wohnfläche in Kauf nimmt, zahlt in zentralen Lagen eine deutlich höhere Miete, falls er zuvor mehrere Jahre in der gleichen Wohnung gewohnt hat.
Gerade ältere Menschen, die gerne auf weniger Raum leben würden, haben deshalb oft keine andere Wahl, als in ihren zu grossen Wohnungen zu bleiben. Denn wer zahlt schon mehr für weniger Platz.
Flächenverbrauch pro Kopf steigt immer stärker an
Die Raiffeisen-Gruppe schreibt in ihrer neuesten Immobilienstudie von einem Verweilbonus, der Mieter immobil mache. In den fünf grössten Städten wohnen laut der Analyse fast 40 Prozent der Bewohner seit mehr als zehn Jahren in ihrer Wohnung. Auf dem Land ist diese Quote nur gut halb so hoch, weil Bestandes- und Angebotsmieten nicht so stark auseinanderklaffen.
Laut der grössten Hypothekargeberin der Schweiz führt die gegenwärtige Situation dazu, dass der Flächenverbrauch pro Kopf immer stärker steigt. Die Kinder ziehen aus, Ehepartner sterben, doch die Menschen bleiben in ihren Wohnungen. Vor allem ab einem Alter von 50 Jahren nimmt der Pro-Kopf-Flächenverbrauch unaufhörlich zu. Über die Hälfte der über 60-Jährigen lebt in unterbelegten Wohnungen.
Für die Raiffeisen ist die gegenwärtige Wohnflächenverteilung «schlicht eine Verschwendung». Einmal vermietete Objekte würden dem Wohnungsmarkt aufgrund der «grotesken Fehlallokation» viel länger entzogen, als dies eigentlich nötig wäre – und die sinnvolle, vom Raumplanungsgesetz angestrebte Verdichtungsstrategie unterwandert. Die Bankengruppe kritisiert, dass viele langjährige Mieter heute keinen angemessenen Preis mehr bezahlen würden.
Raiffeisen-Chefökonom Fredy Hasenmaile sieht ein grosses Flächenoptimierungspotenzial, wenn man sich zum Ziel setzt, dass es keine unterbelegten Wohnungen mehr geben soll. Wenn es in jeder Mietwohnung genau ein Zimmer mehr gäbe, als Menschen im Haushalt leben, wäre definitionsgemäss keine Wohnung über- und keine Wohnung unterbelegt. Der Flächenverbrauch läge bei 38 Quadratmetern pro Kopf.
Familien mit Kindern würden an Wohnfläche dazugewinnen, ältere Menschen würden unbenutzte Zimmer abgeben. Gleichzeitig entstünde ein Überschuss an Wohnfläche von 17 Millionen Quadratmetern. Das entspräche 170 000 zusätzlichen Mietwohnungen à 100 Quadratmeter mit Wohnraum für 450 000 Menschen.
Hasenmaile räumt ein, dass es sich dabei um ein theoretisches Gedankenspiel handelt. Eine solche Umschichtung an Wohnfläche zwischen Jung und Alt wäre ohne massive Eingriffe in den Mietwohnungsmarkt nicht zu stemmen. Aber er fordert dennoch, dass die Politik sich damit auseinandersetzt, wie man das brachliegende Potenzial am Mietwohnungsmarkt nutzen kann. Ein ähnliches Fazit zieht die Hochschule Luzern: «Wohnungen sind in der Breite bezahlbar, der Wohnraum wird jedoch ineffizient genutzt.»
Das Ziel müsse es letztlich sein, dass auch Bestandesmieter eine marktgerechtere Miete für die benutzte Wohnfläche zahlen, sagt Hasenmaile. Eine 100-prozentige Koppelung der Bestandesmieten an die Inflation wurde bei einer früheren Mietrechtsrevision verworfen.
Für linke Parteien und Mieterverbände allerdings sind solche Vorhaben des Teufels. Sie plädieren für mehr gemeinnützigen Wohnungsbau und Rendite-Obergrenzen für Immobilieninvestoren.
Hasenmaile sieht dagegen die Behörden in der Pflicht, den Regulierungsdschungel für Immobilienentwickler zu entwirren. Einsprachen, Lärmvorschriften und die schleppende Umsetzung der raumplanerischen Verdichtung reduzieren seiner Meinung nach den Anreiz für Investoren, neue Wohnungen zu bauen.
Der Ökonom sieht dies als strukturelles Problem, das sich nicht alleine durch die Zinswende erklären lässt. Seiner Meinung wäre die Bautätigkeit schon in der Vergangenheit viel geringer gewesen, wenn nicht die tiefen Zinsen die institutionellen Anleger auf den Immobilienmarkt gedrängt hätten. «Erst jetzt herrscht Normalbetrieb. Die tiefen Zinsen haben das Problem der Überregulierung überdeckt.»
Hasenmaile spricht von einem «perfekten Sturm», der sich über dem Mietwohnungsmarkt aufbaue. «Wir haben die Parlamentswahlen gerade hinter uns. Jetzt wäre ein guter Moment für die Politik, das Problem anzugehen.»