Die Zivilgesellschaft hat wenig Hoffnung auf einen Wandel im zentralamerikanischen Land unter Bernardo Arévalo. Kritische Stimmen werden weiter von der käuflichen Justiz verfolgt.
«Schön, dass Sie mich besuchen.» José Rubén Zamora öffnet lächelnd seine Zellentür. Seit 19 Monaten sitzt der 67-jährige Investigativjournalist in der drei mal vier Meter kleinen Zelle auf der Mariscal-Zavala-Militärbasis am Rand von Guatemala-Stadt. Er ist ausgemergelt, aber guter Dinge. Seitdem der Sozialdemokrat Bernardo Arévalo von der Anti-Korruptions-Partei Semilla im Januar die Präsidentschaft übernommen hat, ist es einfacher geworden, Guatemalas berühmtesten Journalisten zu besuchen. Statt die Besucher zu schikanieren, geben sich die Wachsoldaten nun freundlich.
Auch die Haftbedingungen seien nun besser, erzählt Zamora. In den ersten Monaten habe man ihn systematisch am Schlafen gehindert, und eine Insektenplage in seiner Zelle habe ihn krank gemacht. 19 Kilo nahm er in jener Zeit ab. Doch die früher 23 Stunden am Tag verschlossene Zellentür bleibe nun tagsüber offen, und er dürfe 20 Minuten am Tag telefonieren. Zudem gebe es nun warmes Wasser in der Dusche, und Ärzte würden ihm Essen zustecken. «Ich bin jetzt der Chef hier», scherzt er.
Vierzig Jahre lang hatte Zamora Korruption in Politik und Wirtschaft aufgedeckt, er schrieb über Militärs, die mit Drogenbanden gemeinsame Sache machten. Er brachte Mächtige zu Fall und gegen sich auf. Im Ausland mit zahlreichen Preisen dekoriert, wurde er daheim das Ziel von Anschlägen. Im Juli 2022 wurde er verhaftet und später zu sechs Jahren Haft wegen Geldwäscherei verurteilt. Für die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ein Versuch, die kritische Presse mundtot zu machen. Zamora spricht von einer Farce, man habe ein Exempel an ihm statuieren wollen.
Das Urteil wurde mittlerweile aufgehoben. Doch die Justiz lässt nicht locker. Sein Fall werde neu aufgerollt, «wohl in einem Jahr», schätzt Zamora. Das Recht, solange in den Hausarrest zu wechseln, verwehre man ihm.
Er sei weiterhin der von der Generalstaatsanwältin María Consuelo Porras angeführten Justiz ausgesetzt, die als Handlangerin dem «Pakt der Korrupten» diene. Dieses informelle Netzwerk umfasst neben einflussreichen Politikern und den Spitzen der Sicherheitsorgane des Landes Unternehmer aus wichtigen Sektoren. So dominieren die «Monopolisten» – wie Zamora sie nennt – im Baustoffsektor die Produktion und den Vertrieb von Zement und Stahl, in der Lebensmittelproduktion vor allem das Angebot von Zucker, Bier und Fleisch. Ausserdem kontrollieren sie den Bankensektor sowie die wichtigsten Radio- und TV-Sender. Sie sichern ihre Monopole bzw. Oligopole über ihnen hörige Politiker und Richter ab.
Sohn eines Reformpräsidenten
Der neue Präsident ist im autoritärer werdenden Zentralamerika eine Ausnahmeerscheinung. Nicaragua ist unter dem Altrevolutionär Daniel Ortega in eine Diktatur abgerutscht, in Honduras verwandeln die Präsidentin Xiomara Castro und ihr Mann, Ex-Präsident Manuel Zelaya, das Land in einen Familienbetrieb. Und in El Salvador herrscht unter Nayib Bukele seit zwei Jahren der Ausnahmezustand, Grundrechte sind ausgesetzt.
Gegen sie wirkt Arévalo wie ein Gentleman aus vergangenen Zeiten. Der armen Bevölkerung, die rund 60 Prozent der Guatemalteken ausmacht, hat er Zugang zu Wasser, Bildung und Gesundheitsversorgung versprochen. Aufbruchstimmung hat er aber nicht ausgelöst. Man wisse, wie schwierig Veränderungen durchzusetzen seien, sagen seine Unterstützer. Man vertraue aber darauf, dass er es versuchen werde, wie einst sein Vater Juan José Arévalo.
Dieser erste demokratisch gewählte Präsident Guatemalas (1945–1951) ist vielen noch im Gedächtnis. Er hatte seinerzeit einen kurzen guatemaltekischen Frühling eingeleitet, mit Reformen zugunsten der städtischen Mittelklasse, der Arbeiterschaft und der Indigenen auf dem Land, welche er aus sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen befreite. Doch nach einem von der amerikanischen CIA unterstützten Putsch musste er 1954 ins uruguayische Exil fliehen, wo sein Sohn Bernardo geboren wurde.
Nach einer Karriere als Diplomat spielte Bernardo Arévalo 2015 eine führende Rolle bei einer Protestwelle gegen die Korruption, welche zur Gründung seiner Semilla-Bewegung führte. Im vergangenen August wurde er überraschend mit grosser Mehrheit zum Präsidenten gewählt.
Doch die Justiz liess nichts unversucht, die Wahl zu annullieren. Derzeit ist die Semilla-Partei unter fadenscheinigen Argumenten suspendiert, weshalb ihre 23 Kongressabgeordneten als Unabhängige geführt werden. Dass Arévalo Mitte Januar sein Amt überhaupt antreten konnte, verdankt er monatelangen Protesten der indigenen Bevölkerung sowie dem Druck der USA und der EU.
Washington setzte Mitglieder des «Paktes der Korrupten» auf eine schwarze Liste. Ihnen sind damit die Einreise in die USA und geschäftliche Aktivitäten mit amerikanischen Partnern untersagt. Einige Unternehmer wurden zudem unter der Magnitsky Act mit Sanktionen belegt, die Verstösse gegen Menschenrechte ächtet. Beeindruckt habe dies die Mächtigen jedoch nicht, manche hätten sich öffentlich darüber lustig gemacht, sagt die Anwältin Samari Carolina Gómez Díaz von Acción Ciudadana, dem lokalen Ableger von Transparency International.
Im Gespräch plädiert sie für schärfere Sanktionen, um die Elite von einem Putsch gegen Arévalo abzuhalten: «Es muss sie in der Geldbörse schmerzen, sonst nehmen sie das nicht ernst.» Die Anwältin weiss, wovon sie spricht. Jahrelang hatte sie als Ermittlerin der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Straflosigkeit (Feci) gearbeitet. Als sie im Jahr 2015 Ermittlungen wegen Korruption im Bankensektor aufnahm, kam sie den Mächtigen zu nahe.
Korrupte Justiz geht gegen unerwünschte Ermittler vor
Eine Woche nach Zamora war auch sie im Juli 2022 wegen angeblicher Weitergabe vertraulicher Informationen verhaftet worden und sass elf Monate lang in Zamoras Nachbarzelle. Wenn sie über die Leibesvisitationen redet, die ihre damals dreijährige Tochter bei den Besuchen über sich ergehen lassen musste, kommen ihr Tränen. Die Vorwürfe gegen sie wurden mittlerweile fallengelassen. Doch es droht ein neuer Prozess, die Justiz lässt auch bei ihr nicht locker.
Dabei war der Kampf gegen Korruption lange auf einem guten Weg gewesen. So hatte die Sonderstaatsanwaltschaft Feci eng mit der 2006 eingerichteten Uno-Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (Cicig) zusammengearbeitet. Doch als diese die Geschäfte der Familie des damaligen Präsidenten Jimmy Morales (2016–2020) unter die Lupe nahm, wurden die Korruptionsjäger selbst zu Gejagten.
Es gelang Morales, den damaligen US-Präsidenten Donald Trump davon zu überzeugen, dass sich der Cicig-Chef Iván Velásquez in Guatemala genauso verhalte wie in den USA der Sonderermittler Robert Mueller, der damals mutmassliche Verbindungen Trumps zu Russland untersuchte. Trump stellte daraufhin die Unterstützung der Cicig ein. Ohne den Rückhalt aus Washington wurde die Arbeit der Cicig in Guatemala entscheidend geschwächt.
Während die aus dem Ausland stammenden Cicig-Mitarbeiter Immunität genossen, waren die lokalen Ermittler der korrupten guatemaltekischen Justiz ausgeliefert. Im Jahr 2019 musste die Cicig auf Drängen von Präsident Morales das Land verlassen, zwei Jahre später floh der Chef der Sonderstaatsanwaltschaft Feci, Juan Francisco Sandoval, ins Ausland. «Seit einigen Jahren wird das Justizsystem dazu missbraucht, all die zu bestrafen, die Korruptionsfälle aufdecken», sagt Gómez Díaz.
So sieht es auch Freedom House, eine internationale Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Washington, deren Ziel es ist, liberale Demokratien weltweit zu fördern. Sie ist die Herausgeberin des Freedom-in-the-World-Indexes. Seit zehn Jahren rutsche das Land in ihrem Ranking kontinuierlich ab, erklärte die Organisation Mitte März bei der Vorstellung des neusten Rankings in Guatemala-Stadt. Die Justiz habe die regierenden Parteien und verbündete Gruppierungen bevorteilt und 2023 zehn Prozent der Kandidaten willkürlich von den Wahlen ausgeschlossen. «Der Regierungsapparat wurde regelrecht für persönliche Bereicherung missbraucht», so fasste es Michael Chertoff von Freedom House zusammen.
So konnte der «Pakt der Korrupten» auch unter Präsident Alejandro Giammattei (2020–2024) ungestört weiterregieren. Und hätte es beinahe auch nach den Wahlen im August getan. Drei aussichtsreiche Oppositionskandidaten hatte die willfährige Justiz bereits suspendiert. Doch Arévalo übersahen sie, da er in den Umfragen weit abgeschlagen war. Seinen Amtsantritt konnten sie deshalb nicht verhindern, hinterliessen ihm dafür leere Staatskassen. Und im Kongress dominieren weiterhin die Parteien des Establishments, wohl auch dank Stimmenkauf zu ihren Gunsten vor allem auf dem Land.
Samari Gómez Díaz bezweifelt, dass der Präsident seine Reformen auch nur ansatzweise wird durchführen können: «Dass Bernardo Arévalo das Präsidentenamt antreten konnte, heisst nicht, dass man ihn auch regieren lässt.» Die meisten politischen Akteure seien korrupt, Arévalo müsste eine regelrechte Revolution in den staatlichen Institutionen durchführen, um eine Kultur der Transparenz zu schaffen. In einer Legislaturperiode sei das nicht zu realisieren. Da in Guatemala Präsidenten nicht wiedergewählt werden dürfen, müsste Semilla 2027 zudem jemanden präsentieren, der Arévalos Politik weiterführt.
Internationale Unterstützung für Reformprojekte
Semilla hat ihre Wurzeln in der intellektuellen städtischen Mittelschicht. Ausserhalb der urbanen Zentren ist sie quasi inexistent. Bei den Kommunalwahlen 2023 konnte sie nur in 64 von 340 Kommunen antreten, jedoch nirgendwo gewinnen. Unter den Indigenen, welche rund die Hälfte der Bevölkerung stellen, schaut man zwar mit Hoffnung auf Arévalo, ist sich aber unsicher, was er für sie tun kann.
Die Biden-Regierung setze auf Arévalo, weil sie ein Abrutschen Guatemalas in eine Diktatur und damit neue Migrationswellen verhindern wolle, sagt Manfredo Marroquín, der Gründer von Acción Ciudadana. Die Mehrheit der Guatemalteken arbeitet informell und verdient oft nicht mehr als 200 Dollar im Monat. Täglich verlassen Hunderte von Guatemalteken ihre Heimat auf der Suche nach besseren Jobs in den USA.
Doch auch von dort kommen Warnsignale. So würde ein Wahlsieg von Donald Trump im November den Kampf gegen Korruption schwächen, mahnt Marroquín. In Guatemala hat man nicht vergessen, wie Trump einst Präsident Jimmy Morales half, sich der Cicig zu entledigen. Nun warteten die korrupten Eliten sehnsüchtig auf Trumps Rückkehr, um den Saubermann Arévalo loszuwerden. «Arévalos grösstmöglicher Erfolg dürfte sein, seine Amtszeit überhaupt ohne einen Staatsstreich zu beenden», meint Marroquín.
Wird Arévalo bald Zamoras Zellennachbar?
In den vergangenen Monaten hatte Generalstaatsanwältin María Consuelo Porras unter fadenscheinigen Argumenten mehrmals am Obersten Gerichtshof die Aufhebung von Arévalos Immunität beantragt. Porras’ Amtszeit läuft noch bis 2026. Um die gefährliche Gegnerin zu entmachten, müssten Gesetze geändert werden. Dafür fehlt Arévalo aber die Mehrheit im Kongress. «In Guatemala ist alles so arrangiert, dass die Korrupten stets geschützt sind», sagt die Anwältin Gómez Díaz.
Arévalo sei viel zu zurückhaltend, urteilt der Journalist Zamora. Er müsse die Rückendeckung der USA und der EU nutzen und radikal gegen die Korrupten vorgehen. «Aber er ist kein typischer lateinamerikanischer Machtpolitiker, sondern viel zu diplomatisch. Er könnte gut ein zivilisiertes Land wie Dänemark regieren. Aber für Guatemala mit seinen skrupellosen Korrupten ist er zu nett.» Erbarmen würden die nicht mit ihm haben, sondern einen Prozess gegen den Präsidenten konstruieren, so wie sie es mit ihm selbst gemacht haben. «Und dann sitzt Bernardo Arévalo bald hier nebenan in der Zelle.»