Tschanun hat vier Personen das Leben genommen – und sah sich bis zuletzt selbst als Opfer. Zehn Jahre sass er im Gefängnis. Nach seiner Freilassung verschwand er. Lange war unklar, wo und ob er noch lebt.
Günther Tschanuns Totalausfall gilt als einer der aufsehenerregendsten Kriminalfälle Zürichs, ja der Schweiz. 1986 tötete der damalige Chef der Zürcher Baupolizei vier seiner Angestellten und verletzte einen weiteren schwer. Er sei durch das schwere Mobbing der Getöteten dazu getrieben worden, sagte er später. Tschanun sah sich bis zuletzt als Opfer, auch nachdem er seine Haftstrafe abgesessen hatte. Vor zehn Jahren ist er bei einem Velounfall ums Leben gekommen.
Tschanuns Fall beschäftigte die Öffentlichkeit über Jahre. Warum kündigte Tschanun damals nicht einfach, statt zur Waffe zu greifen? Wie gross ist die Gefahr, die von einem ausgeht, der die Kontrolle so plötzlich komplett verliert? Als der Fall Tschanun mit seinem Tod vor zehn Jahren ein abruptes Ende nahm, erfuhr das kaum jemand. Denn Tschanun, damals 72-jährig, war längst aus der Öffentlichkeit verschwunden. Wenige wussten, wo oder ob er überhaupt noch lebte.
Erst 2021 machten die Tamedia-Zeitungen Tschanuns Ableben publik. Sie hatten herausgefunden, dass es sich bei Claudio Trentinaglia, der Ende Februar 2015 mit seinem Velo vom Weg abkam und in die Maggia stürzte, um Günther Tschanun handelte. Dieser durfte nach seiner Freilassung im Jahr 2000 einen neuen Namen annehmen. Und seine blutige Vergangenheit zumindest ein Stück weit ablegen.
Statt die Post zu lesen, griff Tschanun zum Revolver
Es war der 16. April 1986, als Günther Tschanun zur Tat schritt. Am Morgen packte er seinen Revolver in die Aktentasche, besuchte seine beiden Stammcafés und ging zur Arbeit ins Amtshaus IV an der Uraniastrasse 1 in der Stadt Zürich.
Doch anstatt wie gewöhnlich seinen Tag mit einer Besprechung und der Post zu starten, griff er zu seiner Waffe. Um 8 Uhr 37 schoss er zuerst auf zwei Kreisarchitekten, dann auf einen Sekretär, einen Adjunkt und den Zentralsekretär. Nur Letztgenannter überlebte, mit viel Glück. Tschanuns Schüsse trafen ihn in der Lunge, im Bauch und an der Schulter.
Tschanun begründete seine Morde später mit massloser Überforderung. 21 Monate leitete Tschanun das Bauamt II und fühlte sich alleingelassen. Die Baudirektion war zum Tatzeitpunkt führungslos. Der freisinnige Stadtrat Hugo Fahrner war kurz davor abgewählt worden, die SP-Politikerin Ursula Koch sollte seine Nachfolge erst am 1. Mai antreten.
Es fehlte an Strukturen, am mittleren Kader, und Tschanun fehlte es an Rückhalt. Seine Angestellten kritisierten ihn harsch. Laut den Gerichtsakten konstruierten einige von ihnen Vorwürfe gegen Tschanun, etwa mithilfe eines gefälschten Protokolls, um ihn zu Fall zu bringen. Und dann wurde auch noch die Presse auf die Missstände im Bauamt II aufmerksam.
Die «Züri-Woche» machte die Probleme in Tschanuns Behörde publik und titelte: «Wen haut die Köchin zuerst in die Pfanne?» Die Zeitung lieferte die Antwort gleich selber: Tschanun.
Nach der Veröffentlichung des Artikels wurde intern die Absetzung des Baupolizeichefs gefordert. Wenige Tage darauf schritt Tschanun zur Tat. Er sagte später, er sei mit dem Rücken an der Wand gestanden, «vor mir ein Abgrund, kein Fluchtweg». Darum habe ihn an jenem Morgen «dammbruchartig» die Idee überfallen, Schluss zu machen «mit mir und denen, die mich kaputtmachen», heisst es im Gerichtsprotokoll.
Tschanun sah sich bis zuletzt als Opfer
Tschanun schien sich nur anfangs sicher, dass er die Tat nicht überleben würde. Am Morgen verfasste er sein Testament – um dann doch sein Auto gleich neben dem Eingang des Bauamts zu parkieren. Nach den Morden gelang ihm die Flucht nach Frankreich. Drei Wochen später wurde er gefasst. Im Jahr 1988 folgte der Prozess.
Reue zeigte Tschanun vor Gericht keine. Er sei überzeugt gewesen, dass jeder in seiner Situation ähnlich gehandelt hätte. Er sprach von einem «hintergründigen Grabenkrieg» am Arbeitsplatz, er habe sich in einem «Fleischwolf» befunden. Mit seinen Schilderungen erregte er Mitleid. Er wurde zum Rächer der geplagten Angestellten mystifiziert. Auch vor Obergericht wurde er milde behandelt, wie etwa der Gerichtsberichterstatter und Autor Nicolas Lindt in einem Buch kritisierte.
«Man hat gegen Sie gearbeitet», stellte der Gerichtspräsident damals fest. Tschanun musste ihm nur beipflichten. Er wurde erstinstanzlich wegen vorsätzlicher Tötung zu 17 Jahren Gefängnis verurteilt. Das Bundesgericht hob das Urteil jedoch auf. In einem zweiten Prozess wurde er 1990 wegen Mordes verurteilt. Die Strafe wurde auf 20 Jahre erhöht.
Tschanun sass zwei Drittel seiner Strafe im Gefängnis ab. Im Jahr 2000 wurde er wegen guter Führung entlassen. Und er erhielt bald das Recht auf einen neuen Namen. Für ihn begann ein neues, zurückgezogenes Leben im Tessin – mit der allgegenwärtigen Gewissheit, dass seine Taten nie vergessen würden.
Laut Recherchen der Tamedia-Zeitungen führte Tschanun eine «prekäre Existenz von einer kleinen IV-Rente», die geprägt war vom Misstrauen gegenüber der Presse und der Öffentlichkeit. Und doch schaffte es Tschanun letztlich, aus dem öffentlichen Fokus hinauszutreten.
Er erhielt zum Lebensende hin den Neuanfang, den er sich erhofft hatte, als er 1986 zum Revolver griff – und vier Menschen das Leben nahm. Im Amtshaus IV in Zürich hängt bis heute eine Messingtafel mit der Aufschrift «Im Gedenken an die Opfer vom 16. April 1986».