Schweizer Unternehmen ärgern sich über den hohen Aufwand der Nachhaltigkeitsberichterstattung. Drei Unternehmer erzählen, was die Dokumentationspflichten für sie bedeuten.
Mental Load ist all das, woran man immer auch noch denken muss. Die Ladung füllt den Kopf und verlängert die To-do-Liste. Eltern – traditionell vor allem Frauen – kennen und fürchten den Mental Load. Geburtstagsgeschenke organisieren, Arzttermine planen, tausend Sachen.
Die mentale Belastung betrifft auch Unternehmen. Dies allerdings mit Blick auf die Anforderungen zu Nachhaltigkeitsberichten. Schwierig ist es vor allem für die Kleinen. Einer davon ist die Manufaktur Jakob’s Basler Leckerly (nicht zu verwechseln mit dem wesentlich grösseren Läckerli-Huus). 1753 wurde das Unternehmen gegründet, es gehört zu den dreissig ältesten Unternehmen in der Schweiz. Der Inhaber Andreas Kuster findet nachhaltiges Wirtschaften zwar «absolut wichtig».
Dennoch belastet ihn die überbordende Bürokratie, die mit den neuen Regulierungen und Vorschriften zur Nachhaltigkeit entstanden ist. Für Kunden müsse er zig Deklarationen für den Umweltschutz ausfüllen, hinzu kämen andere komplizierte Compliance-Themen. Für manches habe er einen halben Tag, für anderes einen ganzen. «Die Deklarationen brauchen mehr Zeit, als man denkt», stellt Kuster fest.
Schwierig sei vor allem die enorme Menge an Regelungen, die jedes Jahr dazukommen. Tausend kleine Sachen: Mental Load eben – wie im Alltag von Eltern. «Es nimmt mir Denkzeit weg und lenkt meinen Fokus vom eigentlichen Geschäft ab.»
«Es ist unmöglich, alles richtig zu machen»
Während die grossen Konzerne eigene Stabsstellen für diese Aufgaben haben, müssen Klein- und Mittelbetriebe die Auflagen nebenher stemmen – und stossen dabei an die Grenzen der Machbarkeit. «Nehmen wir Zucker», sagt Thomas Kopp, Geschäftsleitungsmitglied der familiengeführten Handelsfirma Terravera. Diesen kaufe die Firma in Deutschland oder Frankreich ein und verkaufe ihn an einen Schokoladenhersteller. Die Schoggi wird in die EU exportiert. Die Aldis und Lidls verlangen dann Nachhaltigkeitsnachweise vom Hersteller.
«Dann fängt es an», sagt Kopp. Als Lieferant müsse er die Einhaltung der Standards aus allen Produktionsländern bestätigen. Er müsse nachweisen, dass die Arbeitssicherheit eingehalten sei, der Gesundheitsschutz, das Verbot zur Ausbringung von Klärschlamm, die Entsorgung von Gefahrenstoffen, Beschränkungen von Düngemitteln sowie die Rückstandhöchstmengen von Pflanzenschutzmitteln. «Es ist nahezu unmöglich, alles hundert Prozent vollständig zu machen», sagt Kopp.
«Der administrative Aufwand ist wahnsinnig», bestätigt Clemens Gütermann, Geschäftsführer des Zigarrenherstellers Villiger. Zur Berechnung des CO2-Fussabdrucks müsse man den Energieverbrauch angeben, schätzen, wie viel die Gebäudeisolierung beiträgt und auch, wie viel erneuerbare Energie eingesetzt wird. Für ihn ist daher klar: «Wir sind gefangen durch Gesetze, die sich teilweise sogar widersprechen. Damit geht uns die Basis für die Wettbewerbsfähigkeit verloren.»
Was die drei KMU-Unternehmen eint, ist ihr Ärger über die Nachhaltigkeitsbürokratie. Der Wirtschaftsverband Economiesuisse hat in einer neuen Studie versucht, das Ausmass der Nachhaltigkeitsberichterstattung, das sogenannte ESG-Reporting, zu ermitteln. Dafür wurden über 400 Schweizer Unternehmen und Branchenverbände befragt.
Der Wirtschaftsverband kommt zu dem Schluss, dass die Firmen die Bürokratie als eines der grössten wirtschaftlichen Risiken sehen. Bei 53 Prozent ist der Nachhaltigkeitsbericht rund 30 Seiten lang. Grosse Firmen sind stärker betroffen. Im Unterschied zur EU, die mehr Detailvorschriften macht, ist die eigene Schweizer Regulierung stärker prinzipienorientiert. Unterschätzt wird gemäss Economiesuisse, wie stark die Last auch die KMU betrifft. Diese sind wie die drei erwähnten Firmen vor allem von den Anforderungen der EU an die Lieferketten betroffen.
1,5 Millionen Seiten Nachhaltigkeitsberichte
Mehrere zehntausend Arbeitskräfte in der Schweiz sind nach Schätzung des Verbandes mit dem Reporting beschäftigt. Der Nachhaltigkeitsbericht der börsennotierten Grossunternehmen aus dem SMI-Index ist gemäss Economiesuisse im Durchschnitt mittlerweile 108 Seiten lang, derjenige der kleineren SPI-Unternehmen umfasst im Schnitt 62 Seiten.
«Die Regulierung bremst die Entwicklungen aus, die sie anstossen will», sagt Alexander Keberle, Leiter Energie, Infrastruktur und Umwelt bei Economiesuisse. Statt in die Berichterstattung sollten die Mittel besser in Innovationen und konkrete Umweltprojekte fliessen, fordert er. Den Grund für die Malaise ortet Keberle in der Politik. Wenn sich diese nicht zu konkreten Massnahmen durchringen können, übertünche sie das durch noch mehr Pflichten zur Berichterstattung. Dann hätten alle das Gefühl, etwas getan zu haben.
Ist die Schweiz also in einer Regulierungsfalle? Für Michele Salvi von Avenir Suisse ist die Antwort klar: «Wir drohen in einem Meer aus Vorschriften und Standards zu versinken», sagt er. Oft sei es für ein Unternehmen einfacher, Nachhaltigkeitsberichte auf Hochglanzpapier zu verfassen, als etwa einen CO2-Preis zu zahlen.
Das ist beunruhigend, zumal die Auflagen in Zukunft noch steigen könnten. In der Schweiz haben die Urheber der gescheiterten Initiative zur Konzernverantwortung gerade erst im Januar eine Neuauflage ihrer Anliegen lanciert. Dabei soll sich die Schweiz nach der EU ausrichten.
Das passiert ausgerechnet in dem Moment, in dem die EU von ihren ursprünglichen Ambitionen wieder zurückrudert. Noch im Mai 2024 hatte sich die EU auf eine verschärfte Richtlinie zum Umweltschutz und zu den Menschenrechten geeinigt. Inzwischen merken auch die Bürokraten in Brüssel, dass sie den Unternehmen zu viel aufgehalst haben.
Ursula von der Leyen scheint nun die Notbremse ziehen zu wollen. Der Aufwand der Firmen für Berichterstattungspflichten in Sachen Nachhaltigkeit soll um 25 Prozent gesenkt werden.
Mühsam, aber notwendig?
Die Kritik an der Nachhaltigkeitsberichterstattung wird allerdings nicht überall geteilt. Man könne nicht nur die Formulare betrachten, sagt Damian Oettli von WWF Schweiz. Vielmehr gehe es um eine Analyse des ökologischen Fussabdruckes. Die Firmen müssten ihren Einfluss kennen, Massnahmen definieren und diese dann umsetzen. «In dieser Kette steht das Reporting, es ist ein Teil der Gesamtstrategie.»
Mehr Verständnis für die Unternehmen zeigt der grüne Nationalrat Gerhard Andrey. Das Reporting sei anstrengend und die Unternehmen hätten natürlich nicht auf diese Zusatzaufgabe gewartet. Dennoch findet er: «Nachhaltigkeits-Reporting ist mehr als eine administrative Pflichtübung.» Es gehe darum, die Wirkung unternehmerischer Tätigkeit auf Mensch und Umwelt einzubeziehen, um Kostenwahrheit zu schaffen.
Eine Lanze für das Reporting bricht auch Roberto Micelli, Leiter Nachhaltigkeitsberatung bei Deloitte Schweiz. Er argumentiert, dass Firmen ihre Risiken besonders entlang der Lieferkette dank dem Nachhaltigkeits-Reporting besser analysieren würden. Es zwinge die Firmen zudem dazu, Transparenz zu schaffen, wo echte Fortschritte gemacht werden müssten. «Dieser Grundgedanke sollte nicht verwässert werden.»
Der Economiesuisse-Studienleiter Keberle spricht hingegen von viel Aufwand und beschränktem Einfluss. Dabei sei das Ziel, den Klimawandel zu stoppen und die Wirtschaft zu dekarbonisieren, nach wie vor von hoher Relevanz: «Die Unternehmen bekennen sich dazu», sagt Keberle.
Unter dem Strich entsteht der Eindruck: gut gemeint und schlecht gemacht. Das liegt auch daran, dass die Marketing-Abteilungen in der Anfangsphase der ESG-Modewelle zunächst grosse Versprechen machten. Diese brachten der Umwelt allerdings häufig weniger, als es zunächst den Anschein hatte. Der erste Hype führte zu einem Glaubwürdigkeitsproblem.
An diesem Punkt übernahmen die Finanzabteilungen und Wirtschaftsprüfer. Messbare Ziele und externe Überprüfungen sollten Transparenz und Wirkung schaffen. Unbeabsichtigt entstanden so lukrative Geschäftsfelder für Wirtschaftsprüfer und Berater.
Michele Salvi von Avenir Suisse spricht von einem Scheinnutzen immer neuer Berichtspflichten. Drastischer hatte es im Herbst Deutschlands grüner Wirtschaftsminister Robert Habeck ausgedrückt. Beim Lieferkettengesetz gehe es nicht um einzelne Verbesserungen, sondern darum, «die Kettensäge anzuwerfen und das ganze Ding wegzubolzen».
Habeck stellte fest, dass man bei guter Intention völlig falsch abgebogen sei. Kein Unternehmen wolle Kinder- oder Sklavenarbeit in seinen Produkten haben. Doch bei der Kontrolle sei ein grundlegender Paradigmenwechsel nötig. Es brauche «klare Regeln, aber keine Berichtspflichten», so Habeck. Wenn man sich nicht an die Regeln halte, müsse man «die Strafen zahlen, wenn man erwischt wird».
Für einen Grünen sind das erstaunliche Worte.
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