Dieser Tage erfahren Tausende Kinder und Jugendliche, ob sie die Prüfung für eine Mittelschule geschafft haben. Viele werden enttäuscht sein. Egalitäre Kritik an dem Leistungstest ist trotzdem fehl am Platz.
Können Sie geschickt rechnen? Dann wissen Sie bestimmt, wie Sie den Aufwand bei dieser Aufgabe stark verringern können:
(6,2×2024)+(4,2×1107)−(3,1×4048)=?
Oder wie wäre es damit: «Die Pfeiler stachen regelrecht in den Himmel.» Ist «regelrecht» ein Nomen, ein Verb, ein Adjektiv oder nichts davon?
Und wenn Sie noch nicht genug haben, können Sie eine Geschichte schreiben, die mit diesem Satz endet: «Das Gespräch hatte mich grosse Überwindung gekostet, aber danach fühlte ich mich erleichtert.» Erzählen Sie im Präteritum und in der Ich-Form. Sie haben eine Stunde Zeit dafür.
Die Aufgaben stammen aus der Aufnahmeprüfung fürs Zürcher Langzeitgymnasium vom März 2024. Mathematik, Deutsch, Aufsatz: Das ist Primarschulstoff. Da müssen Sechstklässler durch, wenn sie den Sprung ins Gymnasium schaffen wollen. Und das ist gut so. Die Gymiprüfung ist ein Test für die besten Schülerinnen und Schüler des Kantons. Sie müssen solche Aufgaben beherrschen. Sie müssen mit der Prüfungssituation zurechtkommen. Und sie sollten die drei Teilprüfungen sorgfältig angehen – und die Zeit trotzdem im Blick haben.
Wenn sie das alles schaffen, sind sie reif fürs Gymnasium. Neun von zehn erfolgreichen Prüfungskandidaten schaffen danach auch die Probezeit.
Quote statt Leistung?
Die Aufnahmeprüfung ist nicht perfekt. Aber sie ist die beste der bestehenden Varianten: hart, aber aussagekräftig. Leistung und effizientes Arbeiten werden belohnt. Auch wenn Lehrerinnen, Eltern, Minderheitenvertreter und Journalisten die Prüfung jedes Jahr aufs Neue als «willkürlich» kritisieren.
Die Gegner der Gymiprüfung würden sie am liebsten durch ein anderes System ersetzen. Kürzlich beglückte Philippe Wampfler das Publikum wieder einmal mit seinen Ideen. In einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen schwadronierte der umtriebige Lehrer und Universitätsdozent für Fachdidaktik Deutsch von einer neuen «kompetenzbasierten Prüfung», die «nicht nur» Sprache, sondern logisches Denken und «Problemlösungskompetenzen» testen würde.
Mit Verlaub: Logisch denken und Probleme lösen müssen die Kandidaten heute schon. Empfehlungen durch die Lehrerschaft statt einer Prüfung wie im Kanton Aargau wären nicht besser. Sie würden den vielbeklagten Druck nur verlagern: von den Schülern auf die Lehrerinnen und Lehrer, die ihrerseits von Eltern unter Druck gesetzt würden, die ihre Kinder unbedingt ins Gymnasium bringen wollen. Da ist das Zürcher Aufnahmeverfahren viel ehrlicher: Die Kinder haben es selber in der Hand – am Prüfungstag und mit den Vornoten, die sie aus der Primarschule mitbringen.
In dieser Debatte werden viele Unwahrheiten herumgeboten. Der Kanton Zürich operiere mit klandestinen Tricks, um die Zahl der Gymnasiasten künstlich tief zu halten. Das Ergebnis – wie viele Kandidaten bestehen – stehe schon vor der Korrektur fest. Philippe Wampfler erzählt diese Räubergeschichte ebenfalls. Belege liefert er keine.
Richtig ist: Die Lehrer kennen die Vornoten der Schüler nicht, deren Prüfungen sie korrigieren. Es dürfte ihnen schwerfallen, mit ihren Bewertungen einer fixen Quote zuzudienen. Somit gilt die Unschuldsvermutung: Die Verantwortlichen tricksen nicht. Die Resultate der Zürcher Aufnahmeprüfung sind vielmehr deshalb derart stabil, weil die Aufgaben jedes Jahr ungefähr gleich schwierig sind und ungefähr gleich streng bewertet werden.
Dauerkritik der Larmoyanten
Aber davon lassen sich die Gegner nicht beeindrucken. Die Prüfung sei schwieriger geworden, da der Kanton den «Run aufs Gymnasium» bremsen wolle, behaupten sie immer wieder. Richtig ist: Die Notenskala wurde verschoben, die Anforderungen blieben jedoch unverändert. Daher müssen Prüflinge seit zwei Jahren in der Endabrechnung eine 4,75 oder mehr erreichen statt mindestens eine 4,5 – Resultatkosmetik des Mittelschulamts von Bildungsdirektorin Silvia Steiner (Mitte).
Ausserdem: Einen «Run aufs Gymnasium» gibt es nicht. Die Zahl der Prüflinge nimmt zwar seit Jahren zu. Aber dieser Anstieg entspricht ziemlich genau dem Bevölkerungswachstum. Die Quote der erfolgreichen Kandidaten ist ebenfalls recht konstant. Rund jeder zweite Kandidat schafft die Prüfung fürs Langzeitgymnasium. 2024 waren es etwas mehr (53 Prozent).
Im Aargau (17,8 Prozent) ist die Maturandenquote nicht höher, wie von Wampfler behauptet, sondern tiefer als in Zürich, wo 21,9 Prozent der Jugendlichen Matur machen. Der bevölkerungsreichste Kanton der Schweiz liegt damit nahe am nationalen Mittel (22,9 Prozent).
Dennoch ist die Gymiprüfung ein Dauerbrenner. Halbwahrheiten werden zu unverrückbaren Tatsachen erhoben, weil sie einem egalitären Weltbild entsprechen und etwas zementieren, was in diesen Kreisen ohnehin bereits feststeht: Die Prüfung sei «unfair», weil sie jene Familien bevorzuge, die ihren Kinder teure Vorbereitungskurse finanzieren könnten.
Schule ist Glückssache
Ein Blick auf die Karte des Kantons scheint diesen Befund zu bestätigen. Im wohlhabenden Bezirk Meilen am rechten Zürichseeufer wechseln über 20 Prozent der Primarschüler ins Langzeitgymnasium, so viele wie nirgendwo sonst in Zürich. Viele dieser Kinder besuchen tatsächlich einen privaten Vorbereitungskurs.
Man kann sie und ihre Eltern verstehen. Wer will schon abseitsstehen, wenn alle anderen Kandidaten der Klasse neben den Standard-Übungsstunden der Primarschule ein solches Extra-Training absolvieren?
Schule ist Glückssache. Die einen Lehrer lassen ihre Klassen Aufsätze schreiben, die anderen nicht (obwohl sie gemäss Lehrplan 21 eigentlich dazu verpflichtet wären). Die einen korrigieren die Texte genau und besprechen sie mit ihren Schülern, die anderen nicht. In der einen Gemeinde kann die schulinterne Prüfungsvorbereitung das alles auffangen, in der anderen nicht.
Das spricht allerdings nicht gegen die Gymiprüfung. Hier kommt vielmehr die Überlastung der Volksschule zum Ausdruck, die sich um alles Mögliche zu kümmern hat: Störenfriede müssen ruhiggestellt, lernschwache Schüler müssen unterstützt, die Klasse muss irgendwie zusammengehalten werden. Zeit zum Texteschreiben (und -korrigieren) bleibt da kaum. Die Volksschule ist längst nicht mehr für alle da. Gute Schüler gehen unter, da das System auf die weniger guten und auf Problemfälle ausgerichtet ist. Das ist eine Fehlentwicklung, die viel zu selten zur Sprache kommt.
Es ist nachvollziehbar, dass Eltern nervös werden, wenn ihre Kinder nie einen Aufsatz schreiben in der Schule – und an der Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium dann aber eine runde Geschichte oder einen Bericht wie für eine Zeitung abliefern sollen. Was bleibt ihnen anderes übrig, als mit ihren Kindern selber zu üben – oder einen Aufsatzkurs zu buchen?
Allein, diese Anbieter werben zum Teil mit absurden Angeboten um Kundschaft. Diesen Samstag startet ein Kurs an bester Lage am Bellevue in Zürich: zweieinhalb Stunden Deutsch und Mathematik jede Woche, plus dreissig bis sechzig Minuten Hausaufgaben pro Fach, in Kleingruppen von 5 bis 7 Kindern – für die Aufnahmeprüfung im März 2026! Das ganze Programm bis Anfang Februar kostet knapp 5000 Franken. Der Kurs ist ausgebucht.
Geld macht nicht intelligent
Über solche Auswüchse kann man nur den Kopf schütteln. Eltern, die ihr Kind ein Jahr lang in einen Prüfungsvorbereitungskurs schicken, haben das Grundprinzip der gymnasialen Bildung nicht verstanden: Gymnasiasten gehen gerne zur Schule. Sie lernen gern, sie wissen viel, sie wollen Neues erfahren über die Welt. Sie wollen mit anderen guten Schülern zusammen sein, weil sie das Beste aus ihren Möglichkeiten machen wollen.
Aber das muss von innen kommen. Das lässt sich nicht trainieren. Schon gar nicht in einem Kurs am Wochenende, den Elf- oder Zwölfjährige ein ganzes Jahr lang besuchen müssen, weil ihnen die Eltern die Gymiprüfung sonst nicht zutrauen. Oder weil ein anderer Weg nach der Primarschule in diesen Schichten gar erst nicht infrage kommt – obwohl die Kinder vielleicht gar nicht ins Gymnasium wollen. Das wäre noch schlimmer.
Private Prüfungskurse bringen keine Gymnasiasten hervor. Geld macht nicht intelligent. Es macht auch nicht wissbegierig, vermittelt keine Freude am Nachdenken oder am Lernen. Geld hilft nicht, wenn Schülerinnen und Schüler nicht gern rechnen, nicht gern schreiben oder sich nicht gern mit Sprache beschäftigen. Wenn keine dieser Anforderungen erfüllt sind, dürfte es schwer werden. Auch und gerade dann, wenn das Kind die Aufnahmeprüfung bestehen sollte.
Sechs Jahre bis zur Matur sind eine lange Zeit. Das sollten sich Eltern genau überlegen, bevor sie einen teuren Kurs buchen.
Natürlich haben Kandidaten aus deutschsprachigen Familien einen Vorteil. Natürlich haben intelligente Migrantenkinder nicht die gleichen Chancen, weil ihnen ihre Eltern oft nicht helfen können beim Lernen. Aber auch das kann man nicht der Gymiprüfung zum Vorwurf machen – zumal es durchaus fremdsprachige Schülerinnen gibt, die den Sprung an die Mittelschule trotzdem schaffen.
Die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium ist kein Wunschkonzert. Hier geht es um die künftige Elite des Landes. Auch wenn man das in der durchschnittsverliebten Schweiz nicht gerne hört. Dieser Tage werden die Resultate bekanntgegeben. Primarschüler freuen sich zu Recht, wenn sie bestanden haben. Sie haben die beste Phase ihrer Schulzeit noch vor sich. Die Gymiprüfung ist ein Erfolgsmodell. Der Kanton Zürich sollte unbedingt daran festhalten.