Der bisherige Übergangspräsident sitzt im Ausland fest, und in der Hauptstadt haben kriminelle Gangs das Sagen. Viele Haitianer sehen den Übergangsrat als ausländisches Konstrukt.
Das vergangene Wochenende war in Port-au-Prince wieder von Gewalt gezeichnet. Bewaffnete Gangs griffen Polizisten im Viertel Delmas an und verbreiteten Panik. «Brennt die Häuser ab, damit alle fliehen» ist in einer von einem Radiosender veröffentlichten Sprachnachricht zu hören. Sie soll von Jimmy «Barbecue» Chérizier stammen, einem der mächtigsten Gang-Chefs. Mittlerweile kontrollieren die Banden 90 Prozent der Hauptstadt, wie Menschenrechtsgruppen schätzen.
Port-au-Prince gleiche derzeit einer Stadt im Belagerungszustand, berichten mehrere Vertreter der Zivilgesellschaft der NZZ. Die Bevölkerung lebe in ständiger Angst. Daten der Uno zeigen den Ernst der Lage: Zwischen Januar und März wurden 2500 Menschen ermordet, 53 Prozent mehr als im Vorjahr. Zudem wurden rund 500 Menschen entführt, und rund 360 000 flohen aus ihren Wohnvierteln.
Haitis Polizeikräfte seien schlecht ausgerüstet und den mit modernsten Waffen aus den USA ausgerüsteten Gangs unterlegen, sagt der Soziologe Ilionor Louis von der Université d’État d’Haïti. So hätten sich in einigen Stadtvierteln von Port-au-Prince bereits Bürgerwehren gegen die Gangs gebildet.
Der Übergangsrat soll das politische Vakuum ausfüllen
Kämpfe wurden am Wochenende auch um den Nationalpalast gemeldet, in dem der vergangene Woche ernannte neunköpfige Übergangsrat bald seine Arbeit aufnehmen soll. Sechs Mitglieder wurden von den wichtigsten politischen Parteien benannt, dazu kommen ein Wirtschaftsvertreter und zwei Beobachter aus der Zivilgesellschaft. Der Rat soll bis zur Durchführung von Wahlen das Land anstelle des bisherigen Übergangspräsidenten Ariel Henry führen und einen neuen Premierminister bestimmen. Er soll die seit 2020 überfälligen Wahlen organisieren und den Einsatz einer 5000 Mann starken internationalen Polizeitruppe unter der Leitung Kenyas vorbereiten.
Henry war Ende Februar ausser Landes gereist. In seiner Abwesenheit hatten Gangs den internationalen Flughafen von Port-au-Prince zur Schliessung gezwungen, so dass Henry bisher nicht wieder einreisen konnte. Unter internationalem Druck – vor allem der USA – hatte der ausgesperrte Premierminister im März die Übergabe der Macht an den Übergangsrat zugesagt.
«Der Westen ist schuld»
Henry war 2021 von Präsident Jovenel Moïse zwei Tage vor dessen Ermordung ernannt worden. Viele Haitianer hielten ihn für eine amerikanische Marionette. Sie geben den USA, aber auch Kanada und der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich die Schuld an Haitis Dauermisere. Nachdem die USA im 20. Jahrhundert mehrmals militärisch intervenierten, manipulierten sie und ihre Verbündeten jetzt Haitis Politik, so das Narrativ.
Die westlichen Mächte sorgten stets dafür, dass ihnen willfährige Kandidaten in Haiti gewählt und ihr neoliberales Projekt umgesetzt würde, sagt auch der Soziologe Louis. Die Idee des Übergangsrates stamme von ihnen. Entsprechend titelte die Zeitung «Haïti Liberté» vor einigen Wochen: «US-Imperialisten, raus mit euch, und nehmt euren Übergangsrat mit.»
Haiti müsse sich endlich der ausländischen Bevormundung entziehen, findet Louis. So hätten Henrys Wirtschaftsreformen zu hohen Preisen bei Lebensmitteln und Benzin geführt und die Wirtschaftslage verschlechtert. Die Konsequenz sei, dass Gangs mit dem vorgeschobenen Narrativ vom Klassenkampf Zuspruch in der armen Bevölkerung gewännen. «Uns droht gerade die Verwandlung der Gangs in politische Kräfte, die ihre Gewalt mit der sozialen Ungerechtigkeit rechtfertigen», so Louis. Dabei stünden hinter den Banden in Wahrheit korrupte Lokalpolitiker und machtgierige Geschäftsleute.
Antworten darauf habe der Übergangsrat nicht zu bieten, meint Louis. «Dort sitzen traditionelle Politiker, die den Rat ausnutzen, um sich für die Wahlen in einem Jahr in Stellung zu bringen.» Dem stimmt auch der Gewerkschaftsaktivist Didier Dominique zu. Der Übergangsrat sei lediglich die Bühne für die Machtkämpfe der Bourgeoisie.
Doch auch nach den US-Marines wird gerufen
Auch Stephan Destin von der Organisation Proche, die im Wiederaufbau des durch Erdbeben und Hurrikans verwüsteten Süden Haitis aktiv ist, sieht den Übergangsrat kritisch. Schon bei der Ausarbeitung von dessen Spielregeln hätten sich die politischen Akteure hoffnungslos zerstritten: «Das zeigt, dass sie unfähig sind, eine kollektive Idee zu entwickeln. Das ist ein Kindergarten voll Egoisten.» Es sei fraglich, wie der mit Parteipolitikern besetzte Rat sich auf einen neuen Premierminister einigen und Interessenkonflikte bei den anstehenden Wahlen vermeiden wolle. Schliesslich sei er auch für die Einsetzung eines provisorischen Wahlgerichts verantwortlich.
Destin spricht sich für die Entsendung von amerikanischen Truppen anstelle von ausländischen Polizisten aus. US-Marines hätten einen psychologischen Effekt. Die Gangs fürchteten sich vor ihnen und trauten sich nicht, gegen sie zu kämpfen. Das Resultat wäre eine sofortige Stabilisierung der Lage. Entscheidend, um die Macht der Gangs zu brechen, sei jedoch auch, den Schmuggel von Waffen und Munition aus den USA nach Haiti zu unterbinden.