Die Flammen im Flüchtlingslager waren noch nicht gelöscht, als die Hamas in der Nacht des 26. Mai um 22.57 Uhr auf ihrer Website eine Mitteilung veröffentlichte. Darin richtete die Terrormiliz schwere Vorwürfe an Israel und bezeichnete den Raketenangriff als ein «Massaker». Vor allem aber behauptete die Hamas, dass Israel eine humanitäre Zone angegriffen habe.
So schrieb die renommierte amerikanische Zeitung: «Das behelfsmässige Lager befand sich in Block 2371, einem Gebiet, das am 22. Mai von den israelischen Behörden zur humanitären Sicherheitszone erklärt worden war.» Sie bezog sich dabei auf eine Aussage des «Zivilschutzbeamten» Muhammad Abu Hani aus dem Gazastreifen. «Block 2371» ist eine der zahlreichen nummerierten Zonen, in welche die israelische Armee das ganze Gebiet aufgeteilt hat. Diese Aufteilung nutzt sie, um die jeweils betroffenen Bewohner vor bevorstehenden Kampfhandlungen zu warnen.
Der Angriff erfolgte ausserhalb der humanitären Zone
Im Krieg im Gazastreifen kommt es immer wieder zu tödlichen Vorfällen, in deren Folge sich völlig unvereinbare Aussagen und Schuldzuweisungen gegenüberstehen, die sich oft nicht verifizieren lassen. Im Fall des Raketenangriffs vom 26. Mai liess sich die Behauptung der Hamas allerdings schnell widerlegen. Der genaue Ort des Brandes lässt sich ausfindig machen, indem das verfügbare Bildmaterial mit Karten und Satellitenbildern abgeglichen wird.
Fazit: Der Angriff ereignete sich rund einen Kilometer ausserhalb der sogenannten «humanitären Zone» an der Küste des Gazastreifens. Dennoch trafen die israelischen Raketen ein Lager, in dem zahlreiche palästinensische Flüchtlinge lebten.
Der Zeigefinger der israelischen Armee
Obwohl es nicht schwer ist, die Behauptung der Hamas zu widerlegen, hatten sie viele internationale Medien ungeprüft weiterverbreitet. Am Nachmittag des 27. Mai prangerte Peter Lerner, ein Sprecher des israelischen Militärs, diese «Evolution von Fake News» und die «Massenmanipulation der Hamas» in einem Beitrag auf X an. Insbesondere kritisierte er die «Washington Post» und das von ihr verwendete Zitat des Zivilschutzbeamten. Lerner schrieb: «Die ‹Washington Post› hätte dieses verifizierbare Zitat überprüfen müssen. Sie entschied sich, blindlings eine Geschichte zu veröffentlichen, und liess damit ihre Leser kläglich im Stich.»
In der Folge zogen einige Medienunternehmen ihre Artikel zurück – auch die «Washington Post». Die Zeitung löschte den Artikel stillschweigend von ihrer Seite, ohne ein Korrigendum zu publizieren. Stattdessen veröffentlichte sie einen neuen Bericht über den Vorfall. Andere Medien reagierten gar nicht. Und in den sozialen Netzwerken hatten sich die Schlagzeilen ohnehin längst verbreitet.
Die Hamas nutzt die Dynamiken des Informationskriegs sehr geschickt. Mit der Verbreitung einer Falschinformation konnte sie den Raketenangriff und den dadurch ausgelösten Brand mit seinen zweifellos tragischen Folgen noch schlimmer aussehen lassen und ihre Erzählung bestärken, Israel bombardiere gezielt und bewusst Zivilisten. Derweil nutzte die israelische Armee den Vorfall, um im Informationsraum zu punkten und den internationalen Medien konfrontativ den Spiegel vorzuhalten.
Verwirrung um Zonen
Gleichzeitig ist die Sache mit den sogenannten «humanitären Zonen» und den Evakuierungsgebieten nicht immer so eindeutig, wie sie von Israel dargestellt wird. Die Armee hat in der Vergangenheit selber mehrfach unklare oder verwirrende Informationen in Bezug auf diese Gebiete verbreitet. In den Tagen vor dem Angriff am 26. Mai hatte die Armee etwa kommuniziert, dass die humanitäre Zone an der Küste des Gazastreifens in Richtung Süden erweitert werde.
Zudem hatten die IDF offenbar in der Woche vor dem Angriff die Bevölkerung in Gebieten im Norden von Gaza mit Flugblättern aufgefordert, sich über die Küstenstrasse zu «den bekannten Zufluchtsorten» in Tel al-Sultan zu begeben, allerdings ohne diese näher zu definieren.
In einer Situation, in der es um Leben und Tod geht, können solche Unsicherheiten und Missverständnisse fatal sein. So waren manche der Bewohner des Lagers überzeugt, sich in einer humanitären Zone zu befinden, wie sie gegenüber Medien sagten.
Netanyahu: «Tragisches Missgeschick»
Gleichzeitig gilt es festzuhalten: Israel ist nicht verpflichtet, die Zivilbevölkerung vor einem bevorstehenden Angriff zu warnen oder sie zur Evakuierung aufzufordern. Es muss allerdings sicherstellen, dass der zu erwartende Schaden für die Zivilbevölkerung im Rahmen des Prinzips der Verhältnismässigkeit minimiert wird – was in diesem Fall anscheinend nicht sorgfältig genug gemacht wurde.
Die israelische Armee erklärte später, sie habe bei dem Angriff zwei hochrangige Hamas-Mitglieder ins Visier genommen, die sich in einem Zelt am Rand des Flüchtlingslagers getroffen hätten. Kampfjets hätten dazu zwei kleine Präzisionsraketen abgefeuert. Die IDF gestanden später allerdings ein, dass zuvor nicht abgeklärt worden war, ob durch den Angriff ein Grossbrand entstehen könnte. Es gibt Hinweise darauf, dass infolge des Beschusses Gasflaschen explodierten, die die tödliche Wirkung der Raketen vervielfachten. Am 27. Mai beschrieb Ministerpräsident Netanyahu den Vorfall als «tragisches Missgeschick».
Der Vorfall vom 26. Mai zeigt, wie entscheidend die öffentliche Wahrnehmung in modernen Konflikten ist – und wie intensiv die Konfliktparteien um die Kontrolle der Informationen ringen. Der Kampf mit Waffen beschränkt sich auf Gaza, doch der Kampf der Erzählungen findet global statt. So hat der Informationskrieg enorme Auswirkungen auf den Krieg und dessen Wahrnehmung in der breiten Öffentlichkeit, die sich zunehmend polarisiert. Die Tragik des Vorfalls, bei dem tatsächlich Dutzende Zivilpersonen in einem Flüchtlingslager getötet wurden, rückt derweil in den Hintergrund.
Quellen: Video erstes visuelles Element: Reuters; Schlagzeilen: Washington Post, Daily Sabah, al-Jazeera, Rescue, Financial Times, Ärzte ohne Grenzen.
Zweites visuelles Element: Hamas Mitteilung, Palästinensische Rote Halbmond.
Satellitenbild drittes visuelles Element: Planet Labs.
Viertes visuelles Element: IDF-Mitteilung 22. Mai, IDF-Mitteilung 27. Mai.








