Estlands Verteidigungsminister Hanno Pevkur rechnet damit, dass sein Land in drei bis fünf Jahren von Russland angegriffen werden könnte. Welche Rolle die grosse russische Minderheit im Land dabei spielt, erklärt er im Gespräch.
Herr Pevkur, Sie und Ministerpräsidentin Kaja Kallas rechnen mit einem russischen Angriff in drei bis fünf Jahren. Die baltischen Staaten wären wohl das erste Ziel. Ist die Nato darauf vorbereitet?
Für die Nato gibt es eine einzige Bedrohung, und die ist Russland. Wie lange wird Russland brauchen, um seine Bestände an Munition und Waffen wieder aufzufüllen, wenn der Krieg in der Ukraine irgendwann vorbei ist? Wir sind zum Schluss gekommen, dass Russland in drei bis fünf Jahren auf demselben Stand wäre wie vor dem Angriffskrieg. Wenn Sie fragen, ob die Nato vorbereitet ist, kann ich Ihnen sagen: Wir sind immer bereit. Militärisch ist die Nato eindeutig stärker als Russland, und sie ist gerade dabei, in schnellem Tempo ihre Fähigkeiten weiter zu verbessern.
Die Mitgliedsstaaten haben sich bereits 2014 darauf geeinigt, zwei Prozent ihres Bruttoinlandproduktes (BIP) für die Verteidigung auszugeben. Russland hatte damals gerade die Krim annektiert. Der zweite Einmarsch in die Ukraine ist nun bald zwei Jahre her. Trotzdem haben letztes Jahr nur 11 der 31 Mitgliedsländer – darunter Estland – das Zwei-Prozent-Ziel erreicht.
In Estland haben wir das Verteidigungsbudget für 2024 auf 3,2 Prozent des BIP erhöht. Ende dieses Jahres werden etwa 20 Mitgliedsstaaten das Zwei-Prozent-Ziel erreichen. Das zeigt ganz klar: Die Nato ist bereit, ihr Gebiet zu verteidigen, und die einzelnen Staaten sind bereit, ihre Menschen und ihre Freiheit zu schützen.
Das gewichtigste Mitglied der Nato ist die USA. Dort stehen Präsidentschaftswahlen an. Donald Trump war nie ein Freund des Verteidigungsbündnisses. Wie sollte sich Europa auf ein Comeback von Präsident Trump vorbereiten? Oder anders gefragt: Wie würde die Nato ohne die USA aussehen?
Die Nato ist als Allianz die stärkste militärische Organisation der Welt. Sie hat es geschafft, in der transatlantischen Zone während 75 Jahren den Frieden zu sichern. Von diesem Bündnis profitiert auch die USA. Sie braucht die europäischen Verbündeten genauso, wie wir sie brauchen. Ich glaube, auch Trump erkennt diesen Wert. Ich sehe keinen einleuchtenden Grund, weshalb die USA die Nato verlassen sollten.
Estland sorgt auch selbst vor. Die baltischen Staaten bauen eine gemeinsame Verteidigungslinie entlang der Grenzen zu Russland und Weissrussland. Allein Estland will dort 600 Bunker bauen. Worum geht es da genau?
Es geht darum, bereit und widerstandsfähig zu sein und damit Russland abzuschrecken. Ich hoffe, dass es nie so weit kommt, aber wir werden unser Land ab dem ersten Meter unseres Territoriums verteidigen. Die Vorbereitungen dazu müssen jetzt, in Friedenszeiten, gemacht werden.
Solange Russland Krieg gegen die Ukraine führt, ist eine militärische Intervention anderswo unwahrscheinlich. Der Kreml versucht aber auf anderem Weg, Chaos zu stiften: Russland drängt Migranten an die finnische Grenze und stört GPS-Signale. Unklar ist, wer die Erdgaspipeline Balticconnector im Finnischen Meerbusen beschädigt hat. Bunker helfen wenig, solche Aktionen zu verhindern.
Das ist wahr. Es ist schwierig, hybride Angriffe vorherzusehen. Deshalb arbeiten wir eng mit anderen Ländern aus der EU und der Nato zusammen und tauschen Informationen aus. Estland verfolgt einen umfassenden Ansatz der Verteidigung. Neben der Armee verstärken wir den Grenzschutz und die Polizei. Ein guter Nachrichtendienst ist sehr wichtig. Es kostet am Ende weniger, wenn Attacken verhindert werden können.
Wie oft gelingt das?
Das verrate ich Ihnen nicht. Nur so viel: Russland verübt täglich Cyberangriffe auf estnische Institutionen, Organisationen und Firmen.
Finnland ist der Nato im letzten Jahr beigetreten, Schweden dürfte demnächst folgen. Wie verändert das die strategische Lage der baltischen Staaten?
Die Ostsee ist nun so etwas wie ein Binnenmeer der Nato, und durch Finnlands Beitritt hat sich die Grenze der Nato zu Russland fast verdoppelt. Das Verteidigungsbündnis ist dadurch vor allem im Nordosten Europas viel stärker geworden. Wir können umfassender Informationen austauschen, besser planen und gemeinsam üben – und zwar ohne die Restriktionen, die es zuvor gab.
Europas Zukunft hängt massgeblich davon ab, wie der Krieg in der Ukraine ausgeht. Mit 1,4 Prozent seines BIP ist Estland das zweitgrösste Geberland in Europa. Tun die anderen europäischen Länder genug?
Die Ukraine ist auf eine langfristige, stabile Unterstützung angewiesen. Deshalb haben wir vorgeschlagen, dass die Mitglieder der Ramstein-Kontaktgruppe (Anmerkung: eine Allianz aus 54 Staaten, die die Ukraine militärisch unterstützen) 0,25 Prozent ihres BIP zur Verfügung stellen. Das wären etwa 120 Milliarden Euro jährlich, was nach unseren Berechnungen ausreichen würde, damit sich die Ukraine verteidigen und die verlorenen Gebiete zurückerobern könnte.
Der Krieg dauert an, und es ist zu befürchten, dass die Hilfe eher abnimmt, zumal sich die Länder ja auch um ihre eigene Verteidigung kümmern müssen.
Ich höre diese Befürchtung immer wieder, aber sie hat sich bisher nicht bewahrheitet. Im Gegenteil. Die Hilfe hat sogar zugenommen, und das muss sie auch. Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen. Es gibt keine andere Lösung. Das ist entscheidend für die Sicherheit von ganz Europa. Wenn Russland Erfolg hat, dann ist das ein Signal an alle autoritären Regime, dass es in Ordnung ist, in ein Nachbarland einzufallen und es mit Gewalt zu erobern.
Ein Viertel der Bevölkerung Estlands und Lettlands sind ethnische Russen. Seit Kriegsbeginn scheinen sie unter Generalverdacht zu stehen. In Lettland müssen russische Staatsbürger ihre Loyalität mit einem Sprachtest beweisen. Wer nicht besteht, verliert seine Aufenthaltserlaubnis. Estland möchte russischen Staatsbürgern das Wahlrecht auf lokaler Ebene entziehen. Sollte man nicht eher versuchen, die Russinnen und Russen zu integrieren, statt sie für die Politik Russlands zu bestrafen?
Integration ist ein zweiseitiger Prozess. Wir versuchen die russische Minderheit seit über dreissig Jahren zu integrieren. Jeder, der wollte, konnte in dieser Zeit die estnische Staatsbürgerschaft erhalten. Dafür muss man einen Sprachtest bestehen und die Verfassung kennen. Viele haben das getan, das erkennt man daran, dass die Zahl der russischen Staatsbürger in Estland rapide gesunken ist. Wir haben die öffentliche Meinung zum Krieg in der Ukraine eingeholt. Nur fünf Prozent der Bevölkerung sehen Putin im Recht. Das entspricht so ziemlich den Werten in ganz Europa. Aber natürlich ist es wichtig, die Integration auch weiterhin zu fördern.
Was tut Estland konkret?
Wir bieten für alle Immigranten kostenlose Sprachkurse an. Alle Kinder können die estnische Sprache lernen. Jede Person hat unabhängig vom Pass die Möglichkeit, an einer estnischen Universität zu studieren. Es geht nicht nur um die Russen. In Estland leben derzeit 100 000 Ukrainerinnen und Ukrainer und zahlreiche andere Minderheiten.
Das lokale Wahlrecht soll aber nur den russischen und weissrussischen Staatsbürgern entzogen werden. Damit würden sie anders behandelt als andere Ausländer, die sich weiterhin auf Gemeindeebene beteiligen dürfen.
Die Situation ist folgende: Wir haben einen Aggressor, ein Land, das gegen internationales Recht verstösst, das Menschenrechte verletzt und Kriegsverbrechen begeht. Die einzige Frage, worum es im Moment geht, ist: Sollen die Staatsbürger dieses Landes das Recht haben, in einem anderen Land abzustimmen und zu wählen?
Putin zeigt bereits auf die baltischen Staaten und spricht von der Diskriminierung von Russischsprachigen. Bevor seine Armee in die Ukraine einmarschiert ist, hat er ähnlich argumentiert.
Putin braucht keinen Grund, um irgendwo einzufallen. Er erzählt immer dieselbe Propaganda: 2008, als es um Georgien ging, 2014, als er die Krim annektierte, und 2022, als er in die Ukraine einmarschiert ist. Jede Person, die in Estland lebt – egal, ob Russe, Ukrainer, Deutscher, Schweizer oder Finne – hat dieselben Rechte.
Den russischen Staatsbürgern das Wahlrecht zu entziehen, sorgt für Unmut innerhalb der russischsprachigen Gemeinschaft. In Lettland sind die Russischsprachigen nicht glücklich über die Sprachtests. Was, wenn es zu offenem Widerstand kommt?
Wenn es ihnen hier nicht gefällt, steht es ihnen frei, das Land zu verlassen. Ich glaube aber, dass die Leute genau wissen, was den Unterschied ausmacht, hier in Estland statt auf der anderen Seite der Grenze in Iwangorod zu leben. Auch jene, die für Putin sind, wollen Estland nicht verlassen. Sie wollen hier bleiben, weil sie die Vorteile erkennen.