Der gelernte Metzger hat den grössten Schweizer Fleischverarbeiter in 13 Jahren stärker auf Convenience, Sandwiches und Salate ausgerichtet. Bei Fleischersatzprodukten sieht der abtretende CEO noch Defizite und sagt, ab wann er Laborfleisch im Alltag erwartet.
Herr Wyss, wie war das Image der Metzger, als Sie vor 50 Jahren Ihre Lehre machten?
Bei den Mädchen konnte man schon damals mit dem Beruf nicht punkten. Als angehender Metzger eine Freundin zu finden, war nicht einfach. Das galt für die Agglomeration von Basel, wo ich aufgewachsen bin. Im Emmental war es vielleicht noch etwas anders. Früher gab es in einem Dorf zwei Respektspersonen: den Pfarrer und den Metzger.
Und heute?
Auf den sozialen Netzwerken wird den Jungen eingebleut, was angesagt ist: das optimale Gewicht, die richtigen Kleider, das perfekte Autozubehör – sonst bist du niemand. Ein solches Umfeld hilft nicht, Lehrlinge zu finden. Dabei brauchen wir eigentlich doppelt so viele Metzgerlehrlinge, wie wir derzeit haben.
Was tun Sie dagegen?
Wir müssen besser kommunizieren, dass Metzger eine Ausbildung mit Aufstiegsmöglichkeiten ist – so wie es bei mir war oder auch beim Coop-Chef Philipp Wyss, der auch eine Metzgerlehre gemacht hat. Denn gerade für Kaderfunktionen benötigen wir Fachleute mit einem Verständnis für den Gesamtprozess. Zudem finde ich, wir sollten den Lehrlingen schon während der Ausbildung einen anständigen Lohn zahlen.
Es hilft kaum, dass der Fleischkonsum in der Kritik steht. Es wird viel über Vegetarier und Veganer geredet und geschrieben. Ist das ein Medienphänomen oder ein realer Trend?
Der Wandel ist spürbar – aber nicht so stark, wie manche denken oder es sich vielleicht wünschen. Der vollständige Verzicht auf Fleisch ist ein Nischenphänomen, nur 5 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz essen nie Fleisch. Aber der Fleischkonsum pro Kopf ist rückläufig und dürfte weiter sinken. Gleichzeitig steigt aber die absolute Menge an verkauftem Fleisch wegen der wachsenden Bevölkerung. Solange das Wachstum hoch bleibt, wird auch der absolute Fleischkonsum zunehmen.
Sie waren 13 Jahre lang Chef von Bell. War es Ihnen von Anfang an klar, dass die Firma neben dem Fleisch noch andere Standbeine braucht?
Absolut. Es wäre naiv gewesen, nur aufs Fleisch zu setzen und immer noch eine weitere Wurst- oder Schinkenfirma zu kaufen. Heute haben wir alle Alternativen im Portfolio. Unsere Tochter Green Mountain macht pflanzenbasierte Fleischersatzprodukte. Beim Seafood sind wir der grösste Anbieter der Schweiz. Mit Hilcona sind wir stark in Convenience wie Fertiggerichten und Sandwiches, Eisberg liefert Salate und Hügli Suppen und Gewürze. Wir machen mittlerweile fast 30 Prozent unseres Umsatzes mit Convenience-Produkten.
Lässt sich mit Convenience auch mehr verdienen?
Von der Marge her ist das Convenience-Sortiment tatsächlich attraktiver als die Fleischproduktion. In der Fleischbranche ist die Marge generell bescheiden. Wir versuchen die Marge zwar zu halten, indem wir etwa auf Spezialitäten für den Grillsommer setzen oder unsere Prozesse automatisieren und Kosten optimieren. Die Bedeutung bleibt, aber das Verhältnis der Fleischprodukte zum Gesamtumsatz der Bell Food Group wird über die Zeit weiter abnehmen.
Schwergewicht im Coop-Universum
dba. Lorenz Wyss hat bei seinem Antritt als Chef von Bell im Jahr 2011 auch den «Coop-Spirit» in das Unternehmen gebracht. Der Detailhändler ist mit einem Anteil von 69,12 Prozent der Mehrheitsaktionär des börsenkotierten Fleischverarbeiters. Bei Coop war der gelernte Metzger Wyss als Leiter des Category Management für Frischprodukte und in der Beschaffung tätig. Unter Wyss ist der Umsatz des Konzerns, der unterdessen offiziell Bell Food Group heisst, auf 4,5 Milliarden Franken gestiegen, auch dank Zukäufen wie Hilcona, Eisberg oder Hügli. Knapp die Hälfte des Umsatzes macht Bell mit der Coop-Gruppe (inklusive Transgourmet). Das Unternehmen beschäftigt über 13 000 Mitarbeiter. Per 1. Juni übergibt der 65-Jährige den Job des CEO an Marco Tschanz, derzeit Finanzchef bei Bell.
Werden sich pflanzliche Fleischersatzprodukte je im Massenmarkt etablieren?
Wir haben hier noch drei Probleme: Geschmack, Natürlichkeit und Preis. Erstens hat ein Produkt keine Zukunft, wenn die Konsumenten geschmacklich Abstriche machen müssen. Pflanzenbasierte Burger schmecken heute vielleicht «okay» – aber es braucht ein «wow», wenn man hineinbeisst. Der zweite Haken ist die Natürlichkeit. Fleischersatzprodukte haben zu viele E-Nummern auf der Zutatenliste, da fragen sich die Leute zu Recht, ob das Original nicht gesünder ist. Drittens sind Fleischersatzprodukte noch zu teuer. Aber wenn sie irgendwann halb so viel kosten wie Fleisch und gleichzeitig Geschmack und Natürlichkeit stimmen, kann dieser Markt schnell wachsen. Wir sind noch nicht an diesem Punkt, vor allem beim Preis. Aber die Branche arbeitet hart daran, auch Bell.
Essen Sie selbst Fleischersatzprodukte?
Persönlich esse ich sehr gerne Fleisch, das wird sich auch nicht ändern. Ich werfe jeden zweiten Tag den Gasgrill an, bei jedem Wetter. Und wenn nicht, ziehe ich Auberginen, Brokkoli oder Blumenkohl vor, die kann man toll zubereiten. Auch Spaghetti mit Pesto sind eine echte Alternative.
Vielleicht gehört die Zukunft kultiviertem Fleisch, das in Labors gezüchtet wird. Bell hat sich vor ein paar Jahren an der niederländischen Mosa Meat beteiligt. Die Ansage war, 2021 einen Laborfleisch-Burger für 10 Franken anzubieten. Wie weit sind Sie da?
Die 10 Franken stimmen, aber das Jahr nicht . . . Im Ernst: Wenn die Technologie funktioniert, wird das eine echte Ergänzung für die klassische Fleischproduktion, und wir müssen dabei sein. Darum sind wir dort eingestiegen. Aber es dauert länger als gedacht. Das ist bei allen in der Branche so. Ich denke, in etwa drei Jahren wird es den Burger aus kultiviertem Fleisch tatsächlich für einen vernünftigen Preis geben. Allerdings wird man die Produkte vermutlich nicht gleich im Supermarkt kaufen können, sondern zunächst im Restaurant. Möglicherweise wird man zu Beginn auch nur einzelne Zutaten zur Beimischung kultivieren, etwa Fett.
Das Laborfleisch weckt Widerstand – in Italien soll es gar vorsorglich verboten werden, bevor es überhaupt auf dem Markt ist. Wie sollte man diese Produkte regulieren?
Wichtig ist eine saubere Deklaration. Die Konsumenten müssen wissen, dass es sich dabei um kultiviertes Fleisch handelt. Dann können sie selbst entscheiden. Der Staat soll informieren und aufklären – aber mehr nicht. Die Leute müssen selbst beurteilen, was richtig und was falsch ist.
Viele Leute würden aus Gründen des Tierwohls und des Umweltschutzes gerne mehr Biofleisch oder andere Labelprodukte essen. Aber das ist teuer. Sind die Margen auf diesen Produkten zu hoch, wie häufig kritisiert wird?
Mit Biofleisch verdienen wir zum Teil weniger als mit konventionellen Produkten. Was viele nicht sehen: Wenn wir eine Biokuh oder ein Biopoulet kaufen, können wir oft nicht das ganze Tier auch als Biofleisch verkaufen, da die Nachfrage nach gewissen Teilstücken fehlt. Diese Stücke muss man im Preis abwerten und als konventionelle Ware absetzen. Die Abwertungen sind für die Fleischproduzenten ein grosser Faktor, sie müssen deshalb eine Mischrechnung machen. Was zudem gegen überhöhte Bio-Preise spricht: Der Marktanteil der Bioprodukte wächst seit Jahren, sowohl bei unserem Hauptabnehmer Coop wie im gesamten Schweizer Detailhandel.
Viele Bauern beklagen sich, dass sie zu wenig Geld für ihr Fleisch erhalten würden.
In der Schweiz haben wir zwar hohe Kosten, aber dafür zahlen wir weltweit die höchsten Schlachtviehpreise.
Es wurde auch schon ein Verbot von Fleischwerbung gefordert. Befürchten Sie, dass es eines Tages so weit kommt?
Man kann alles verbieten. Es gibt Länder, die so funktionieren. Aber meistens nicht lange. Wenn man den Leuten mehr Vorschriften macht, spricht man ihnen die Mündigkeit ab. Lassen wir doch die Leute selber entscheiden! Ein Verbot heisst ja eigentlich nichts anderes als: «Der Bürger ist nicht fähig, selbst zu entscheiden.» Solange es nicht bewiesen ist, dass ein vernünftiger Fleischkonsum gesundheitsschädigend ist, sehe ich nicht, warum man Werbung verbieten sollte.
Streichen könnte man aber die Gelder für die Absatzförderung von Schweizer Fleisch, die letztlich der Kunde und der Steuerzahler finanziert.
Einen solchen Mechanismus gibt es für alle möglichen Produkte, auch Kartoffeln oder Milch. Der Betrag, den die Bauern und die Fleischwirtschaft bezahlen, wird vom Bund verdoppelt. Insgesamt sind das gerade einmal 10 Millionen Franken pro Jahr – bei einem Fleischumsatz von 9 Milliarden Franken. Es geht auch nicht darum, den Konsumenten zu mehr Fleischkonsum zu animieren, sondern darum, dass er Schweizer Fleisch bevorzugt. Der Einkaufstourismus beim Fleisch ist nach einer Pause wegen der Covid-Pandemie wieder voll im Gang.
Bell richtet seine Produktionskapazitäten wie den neuen Schlachthof in Oensingen auf eine Schweiz mit offenen Grenzen aus. Wünschen Sie sich den Agrarfreihandel mit der EU?
Nein, aber es wäre fahrlässig, dieses Szenario für unsere Grossinvestitionen, die 40 Jahre oder mehr halten sollen, nicht in Betracht zu ziehen.
Wann würden Sie denn frühestens mit einer Marktöffnung rechnen?
Es kommt darauf an, wie gross der Druck der EU wird. Politisch hätte eine Grenzöffnung momentan natürlich keine Chance, aber vielleicht sieht die Situation in zehn Jahren anders aus.
Was würde das Szenario der offenen Grenzen für Bell bedeuten?
Der Markt würde auf einen Schlag viel, viel grösser. Wir könnten einfacher Spezialitäten aus der Schweiz heraus exportieren: Bündnerfleisch oder St. Galler Kalbsbratwurst zum Beispiel. Schon heute exportieren wir aus unseren ausländischen Standorten in 100 Länder.
Aber das Frischfleisch für die Schweizer Konsumenten würde aus Kostengründen dann in einem solchen Szenario nur noch aus dem Ausland importiert?
Nicht zwingend. Auch in Österreich kommt längst nicht alles Schweinefleisch aus Deutschland, obwohl es dort billiger ist. Aber es ist klar, der Schritt wäre eine riesige Herausforderung für die Schweizer Landwirtschaft, und es würde eine entsprechend lange Vorbereitung und eine Diskussion über Kompensationsmassnahmen für die Bauern brauchen.
Bell hat – auch schon unter Ihrem Vorgänger – im grossen Stil im Ausland investiert. Hat sich das alles gelohnt?
Einen grossen Teil davon würde man heute wohl nicht mehr machen. Von der deutschen Firma Zimbo etwa haben wir über die Zeit einen grossen Teil veräussert. Die hohen Erwartungen, dass man Spezialitäten wie zum Beispiel eine Thüringer Bratwurst zu einem vernünftigen Preis im deutschen Markt verkaufen kann, wurden bei weitem nicht erfüllt. Im Wurstbereich hatten wir in Deutschland einen Marktanteil von vielleicht einem Prozent. Hingegen haben sich der Kauf des deutschen Schinkenspezialisten Abraham und die Fokussierung auf Schinken gelohnt. Da haben wir einen Marktanteil von 20 bis 25 Prozent und können auf Augenhöhe mit den Detailhändlern diskutieren.
Bell hatte zeitweise sogar Metzgereien in Osteuropa.
Jesses! Ja, wir hatten einst mehr als 150 Filialgeschäfte in Tschechien und Ungarn, doch das wurde eine ziemlich schwierige Angelegenheit. Die haben wir verkauft. Unser Fokus ist die DACH-Region, also Deutschland, Österreich und die Schweiz. Da wollen wir Vollgas geben. Ein Überbleibsel in Osteuropa ist das Geschäft in Polen. Das wächst und läuft hervorragend.
Wird Ihr Nachfolger für eine Erholung des Bell-Aktienkurses sorgen? Derzeit ist der Titel mit etwa 260 Franken ziemlich weit vom Höchststand von gut 400 Franken entfernt.
Marco Tschanz wird das sicher richten. Als langjähriger Finanzchef und als Leiter Bell International sowie als Leiter Eisberg kennt er die Firma bestens. Die 400 Franken waren damals wohl etwas hoch. Aber momentan ist der Titel völlig unterbewertet. Aber so 340 Franken fände ich persönlich mehr als gerechtfertigt.
Was machen Sie eigentlich, wenn Sie Ende Mai bei Bell aufhören?
Dann bin ich zum ersten Mal in meinem Leben mein eigener Chef in meiner eigenen Firma, einem Beratungsunternehmen im Lebensmittelbereich. Und ich habe mehr Zeit fürs Motorradfahren.
Hatten Sie nicht einmal den Plan, eine eigene Metzgerei aufzumachen?
Ja, ich hätte ein kleines Geschäft übernehmen können. Doch dann habe ich mir überlegt: Jeden Tag um sechs Uhr aufstehen, das muss nun wirklich nicht mehr sein!