Das Menuhin-Festival in Gstaad nähert sich in diesem Sommer dem Reizthema «Migration», aber ohne ideologische Scheuklappen. Stattdessen rücken der persönliche Umgang mit dem Fremden und die Suche nach den eigenen Wurzeln ins Zentrum.
Düstere Töne hallen durch die Dorfkirche von Saanen. Eigentlich ein idyllischer Ort inmitten einer Alpenlandschaft, die nahezu perfekt dem Klischee der Bilderbuch-Schweiz entspricht. Doch knallende Pizzicati und irritierend fahle und verzerrte orientalische Melodien lassen keine Wohlfühlatmosphäre aufkommen. Als der Pianist und Komponist Fazil Say am Gstaad Menuhin Festival gemeinsam mit der Cellistin Anastasia Kobekina und der Kontrabassistin Uxía Martínez Botana sein Stück «Immigrants» zur Uraufführung bringt, gibt er ein eindringliches politisches Statement ab, das auch ohne Worte verständlich ist.
Was ihn zu dieser Arbeit bewogen hat, erfährt man im Programmheft. Als türkischer Komponist sehe er mit eigenen Augen, wie die durch Kriege und den Klimawandel ausgelösten Flüchtlingsströme seine Region tiefgreifend veränderten, erklärt Say, der als Artist in Residence in mehreren Konzerten zu erleben ist. «Seit Jahren erleben wir menschliche Tragödien, insbesondere im Nahen Osten und in Syrien», heisst es in dem Begleittext, den er zu dem vom Festival in Auftrag gegebenen Werk verfasst hat. «Krieg bringt Zerstörung und unermessliches Leid. Insbesondere Künstlerinnen und Künstler sind in der Lage, die Gewalt und die Verzweiflung jener, die ihre Heimat verlassen müssen, auf tief empfundene Weise auszudrücken.»
Erfahrungen von Exil und Neuanfang
Der Basler Kulturmanager Christoph Müller, der sich nach 24 Jahren als künstlerischer Leiter aus Gstaad verabschiedet, hat seiner letzten Festivalsaison das Motto «Migration» verliehen. Aber es geht ihm nicht darum, politische Kontroversen zu befeuern, die bereits anderswo mit grosser Heftigkeit ausgetragen werden. «Eher stellen wir die Frage, wie Erfahrungen von Exil und Neuanfang das künstlerische Schaffen prägen können», erklärt Müller. In der Praxis zeigt sich allerdings, dass sich oft nur schwer eine Trennlinie zwischen dem politischen Weltgeschehen und der künstlerischen Auseinandersetzung damit ziehen lässt.
Vier rote Fäden ziehen sich durch das vielschichtige Hauptprogramm des Menuhin-Festivals. Der erste Schwerpunkt «Origins» behandelt Musik aus den Heimatländern von Musikern und Komponisten. Unter dem Obertitel «Escape to Exile» werden hingegen Werke vorgestellt, in denen sich die Erfahrungen von Flucht und Neubeginn widerspiegeln. Christina Pluhar und ihr Barockensemble L’ Arpeggiata beispielsweise bringen mit Sängerinnen und Sängern aus Italien, Bosnien und Griechenland die Musik aus Ländern auf der westlichen Balkanroute zum Klingen.
Weitere Themen sind die «innere Emigration» – etwa mit Blick auf den 50. Todestag des russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch, der jahrzehntelang vom Stalin-Regime drangsaliert wurde – sowie «Nostalgia», die unstillbare Sehnsucht nach den verlorenen Wurzeln, und zwar nicht nur in einem Land, das man freiwillig oder zwangsweise hinter sich gelassen hat. In der reformierten Kirche von Zweisimmen beeindruckte etwa die nahe Luzern geborene Sopranistin Regula Mühlemann mit «Liedern der Heimat», die Brücken zwischen den verschiedenen Landessprachen schlugen. Auch Schweizer ohne jegliche Migrationserfahrung konnten sich da angesprochen fühlen – und so manches Neue entdecken.
Heimat sei heute auch ein belasteter Begriff, sagte Mühlemann in einer kurzen Ansprache vor dem Publikum. Sich mit der eigenen Herkunft auseinanderzusetzen, bringe die Menschen aber der Natur und deren Schönheit wieder näher. Lieder von Deutschschweizern wie Wilhelm Baumgartner, Othmar Schoeck und Emil Frey oder der aus Genf stammenden Komponistin Marguerite Roesgen-Champion kombinierte die Sängerin unter anderem mit Werken des Österreichers Franz Schubert. Denn das Lied «Der Hirt auf dem Felsen» passt aus ihrer Sicht ebenso zur Schweizer Bergwelt wie Gioachino Rossinis «La pastorella dell’Alpi». Mit einem der «Schwyzer Liedli» des Aarburgers Friedrich Niggli und Richard Langers «Edelwyss» waren auch vertonte Mundarttexte vertreten.
Leichtfüssig überwand Mühlemann an diesem Abend kulturelle Grenzen – und en passant auch den vieldiskutierten Röstigraben, der am Menuhin-Festival aber ohnehin kaum spürbar wird. Nur wenige Kilometer von Saanen entfernt, kurz hinter der Grenze zwischen den Kantonen Bern und Waadt, liegt das Dorf Rougemont, wo bereits Französisch gesprochen wird. Und die Festivalgäste kommen nicht nur aus Zürich, St. Gallen und der zweisprachigen Stadt Biel/Bienne, sondern auch aus Lausanne oder Genf. Seit er die künstlerische Leitung übernommen habe, sei der Anteil der Konzertbesucher aus der Romandie deutlich gestiegen, berichtet Müller – auf mittlerweile gut 30 Prozent.
Rückkehr zu den Wurzeln
In seinem auf drei Jahre angelegten Zyklus «Wandel» hat Müller die Folgen gesellschaftlicher Umbrüche in den Vordergrund gerückt und durch Musik nahbar gemacht. Auch im letzten Teil «Migration» werden weltumspannende Ereignisse zur Lebensrealität des Individuums in Beziehung gesetzt. Man kann hier freilich auch erkennen, dass die intime Innenschau im grossen Kontext des Migrationsthemas keine reine Privatsache mehr ist.
Während in der Öffentlichkeit über die Auswirkungen des Klimawandels diskutiert wird, erkennt der Mensch, dass sich die Natur mehr und mehr seiner Kontrolle entzieht. Der serbische Geiger Nemanja Radulović, der vor allem in seiner Wahlheimat Frankreich populär ist, entfesselte mit seinem Ensemble Double Sens auf einer Bergstation hoch über Gstaad die Naturgewalten in Antonio Vivaldis «Le quattro stagioni» – hier mithilfe von elektronischer Verstärkung.
Anfang September wird Müller den Stab an seinen Nachfolger Daniel Hope übergeben, ab 2026 leitet er die Settimane Musicali Ascona. Für den weltweit bekannten Geiger ist der Neubeginn in Gstaad in Wirklichkeit eine Rückkehr zu den eigenen Wurzeln. Denn den Festivalgründer Yehudi Menuhin, der sein Mentor wurde, kannte Hope von Kindesbeinen an. Seine Mutter Eleanor Hope war die persönliche Assistentin und später auch Managerin des legendären Künstlers. Menuhins humanistische Ideale und Projekte zur Nachwuchsförderung dürften das Festival auch in der Zukunft prägen.
Menuhin-Festival Gstaad: «Migration», bis 6. September.