Long Covid könnte durch ein Wiederaufflammen von Herpesviren verursacht sein. Und es gibt viele andere gesundheitliche Probleme, die durch Herpes-Infektionen entstehen. Was die Forschung darüber weiss und weshalb es so schwer ist, einen Impfstoff zu entwickeln.
Auch Sie haben Herpes. Vielleicht nicht den bekannten Lippenherpes, aber mindestens ein Virus aus seiner nahen Verwandtschaft, der Familie der Herpesviren.
Die Herpesviren vereint eine Eigenschaft: Sobald sich ein Mensch einmal mit ihnen infiziert hat, wird er sie nie wieder los. Herpesviren setzen sich ein Leben lang im Körper fest, man sagt dann sie sind latent. Oft infiziert man sich schon in der frühen Kindheit, und das Virus begleitet einen das ganze Leben.
Herpesviren sind extrem weit verbreitet. Mit einem von ihnen, dem humanen Herpesvirus 6, ist praktisch jeder Mensch infiziert. Beim ersten Auftreten sind seine Symptome kaum von einer Erkältung zu unterscheiden.
Auch das Epstein-Barr-Virus gehört zu den Herpesviren. Es löst das bekannte Pfeiffersche Drüsenfieber aus und kommt bei 95 Prozent aller Menschen weltweit vor. Die Windpocken werden ebenfalls von einem Herpesvirus verursacht, dem Varizella-Zoster-Virus. Und schliesslich gibt es die Herpesviren 1 und 2, die Lippen- beziehungsweise Genitalherpes auslösen.
Während die Viren latent im Körper lauern, machen sie normalerweise keine Probleme. Obwohl Sie in diesem Moment wahrscheinlich gleich mehrere verschiedene Herpesviren in sich tragen, spüren Sie vermutlich keine Symptome.
Doch die Ruhe trügt. Neuste Forschung zeigt immer deutlicher: Die negativen Effekte der latenten Infektionen wurden lange unterschätzt.
Herpesviren sind ein möglicher Auslöser für Long Covid
Gerade im Kontext von Long Covid geraten Herpesviren immer wieder in den Verdacht. Die Hypothese ist, dass die chronische Erschöpfung und andere langanhaltende Symptome mit einem Wiederaufflammen einer latenten Herpesvirusinfektion zusammenhängen könnten. Besonders das Epstein-Barr-Virus wird als Auslöser diskutiert.
Dafür spricht, dass ein chronisches Erschöpfungssyndrom auch vom Pfeifferschen Drüsenfieber ausgelöst werden kann. Und bei Long-Covid-Patienten finden Forscher häufig erhöhte Level von Antikörpern gegen das Epstein-Barr-Virus. Ausserdem flammt bei ihnen das Virus häufiger wieder auf als bei Patienten, die vier Monate nach der Covid-Infektion keine Symptome mehr hatten.
Doch vieles bleibt unklar. So weiss man zum Beispiel nicht, ob das Wiederaufflammen des Epstein-Barr-Virus bei Long-Covid-Patienten vor, während oder nach der Corona-Infektion auftritt. Diese Frage kann man nur in Studien beantworten, bei denen man auch Proben aus der Zeit vor der Covid-Infektion untersucht. Doch solche Daten gibt es kaum.
Florian Full, Virologe und Leiter einer Forschungsgruppe zu Herpesviren an der Universität Freiburg, sieht die Hürden, die der Erforschung von Herpesviren und Long Covid im Weg stehen. «Man würde Unmengen von Daten brauchen, um festzustellen, ob es da wirklich einen ursächlichen Zusammenhang gibt.»
Denn die grosse Verbreitung der Herpesviren erschwere die Forschung. Am liebsten würde man die Symptome von Covid-Patienten mit und ohne Epstein-Barr-Infektion vergleichen. Doch fast jeder erwachsene Mensch ist schon mit dem Epstein-Barr-Virus infiziert.
Latente Herpesviren können gefährlich werden
Dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Herpesviren und Long Covid gibt, muss erst noch bewiesen werden. Damit wüchse die Liste der Gesundheitsprobleme, die Herpesviren auslösen können. Denn etliche Komplikationen sind bereits bekannt.
Ein Durchbruch gelang vor zwei Jahren einem Forscherteam aus Harvard. Mit Gesundheitsdaten des amerikanischen Militärs konnten sie den Effekt einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus auf die Entwicklung von multipler Sklerose untersuchen. In ihrer Studie untersuchten sie Proben von zehn Millionen jungen Männern und konnten zeigen, dass eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus das Risiko, an multipler Sklerose zu erkranken, um 30 Prozent erhöht.
Dass das Epstein-Barr-Virus in Immunzellen und im Nasen-Rachen-Raum Krebs auslösen kann, ist schon lange bekannt.
Auch bei anderen Herpesviren werden immer mehr negative Langzeiteffekte entdeckt. Das Zytomegalievirus beispielsweise scheint massgeblich zur Alterung des Immunsystems beizutragen. Obwohl die Infektion meist kaum Symptome hervorruft, löst sie eine starke Antwort des Immunsystems aus. Da das Virus immer wieder aufflammt, wird das Immunsystem immer wieder herausgefordert und muss sich mit dem Virus auseinandersetzen. Im hohen Alter kann es sein, dass ein Grossteil aller T-Zellen eines Menschen sich allein auf das Zytomegalievirus spezialisiert haben. Damit sinkt die Widerstandsfähigkeit gegen andere Erkrankungen.
Und nicht nur die lebenslange Latenz macht Herpesviren gefährlich. Gerade bei Neugeborenen und Menschen mit geschwächtem Immunsystem kann eine Infektion mit einem Herpesvirus schwerwiegende Folgen haben – bis hin zum Tod.
Das Zytomegalievirus ist heute die häufigste Ursache für Fehlbildungen bei Neugeborenen. Wenn die Mutter sich während der Schwangerschaft infiziert, kann es beim Kind zum Beispiel zu Hörschäden kommen. In den USA ist etwa eins von 200 Neugeborenen bereits bei der Geburt mit dem Zytomegalievirus infiziert, in der Schweiz eins von 2000. Jedes fünfte infizierte Kind trägt lebenslange Schäden davon.
Auch das Herpes-simplex-Virus, das bei Erwachsenen den Lippen- oder den Genitalherpes auslösen kann, ist für Neugeborene höchst gefährlich. Eins von 3500 Neugeborenen in den USA und eins von 10 000 Neugeborenen in der Schweiz steckt sich während oder kurz nach der Geburt bei der Mutter an. Unbehandelt führt eine Infektion häufig zum Tod.
mRNA-Impfstoffe gegen Herpes werden getestet
Bis jetzt gibt es nur vereinzelt Behandlungen gegen Herpesviren. Herpes simplex kann mit dem Medikament Acyclovir behandelt werden. Es heilt zwar nicht, lindert aber die Symptome und wird bei infizierten Neugeborenen sowie bei Erwachsenen mit schmerzhaften Bläschen und Läsionen angewendet.
Das Varizella-Zoster-Virus, Auslöser der Windpocken und der Gürtelrose, ist das einzige Herpesvirus, gegen das es bereits eine Impfung gibt. In der Schweiz wird sie seit letztem Jahr für alle Säuglinge zwischen sechs und zwölf Monaten empfohlen. Auch für Erwachsene gibt es einen Impfstoff, der vor einem Wiederaufflammen des Virus und damit vor dem Ausbruch der Gürtelrose schützen kann.
Die Entwicklung von Impfstoffen gegen Herpesviren ist besonders schwierig, weil sie nicht nur gegen den akuten Ausbruch schützen sollen, sondern idealerweise auch die lebenslange Latenz verhindern sollen. Nur dann können sie auch vor langfristigen negativen Effekten schützen. An Impfungen gegen das Epstein-Barr-Virus und das Zytomegalievirus wird seit vielen Jahren geforscht. Bisher ohne Erfolg.
Neue Hoffnung schöpft man nun aus dem Aufkommen der mRNA-Impfungen. Die seit der Corona-Pandemie bekannten Biotechunternehmen Moderna und Biontech entwickeln Impfstoffkandidaten gegen Herpes simplex 2, den Auslöser von Genitalherpes. Die beiden mRNA-Impfstoffe werden momentan in klinischen Studien auf ihre Sicherheit getestet.
Ein weiterer Impfstoff von Moderna soll vor dem Zytomegalievirus schützen und so künftig Tausende Neugeborene vor Fehlbildungen bewahren. Der Impfstoff heisst mRNA-1647, und seine Wirksamkeit wird derzeit an 6900 Patienten getestet.
Mensch und Virus haben sich zusammen entwickelt
Herpesviren sind extrem spezialisiert darauf, unserem Immunsystem zu entkommen – und unser Immunsystem darauf, sie in Schach zu halten. Millionen Jahre der gemeinsamen Evolution haben ein Patt herbeigeführt, in dem weder Mensch noch Virus die Überhand gewinnen. Doch sobald das Immunsystem geschwächt ist, kann das Virus wieder ausbrechen.
Die Verzahnung zwischen Immunsystem und Virus ist so eng, und so viele Menschen sind infiziert, dass es schwer ist, vorherzusagen, was passieren würde, wenn die Viren durch eine Impfung plötzlich verschwänden. «Man kann sich durchaus vorstellen, dass diese Viren ein Teil von uns geworden sind», sagt Florian Full. «Es gibt Studien, die darauf hindeuten, dass Infektionen mit Herpesviren auch positive Folgen für das Immunsystem haben können.»
Doch ihre schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen treffen jedes Jahr Millionen von Menschen. Und noch viel mehr ärgern sich ständig über die Bläschen an der Lippe. Wenn man könnte, würde man die Herpesviren wohl trotzdem abschaffen.
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