Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geniesst ein enormes Prestige. Doch es gibt auch Stimmen, die in ihm ein Einfallstor für einflussreiche Nichtregierungsorganisationen sehen.
Diese Woche hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz gerügt, weil sie zu wenig gegen die Klimaerwärmung unternehme und damit die Menschenrechte älterer Frauen verletze. Wem das aufsehenerregende Urteil am Ende politisch dienen wird, ist noch nicht klar. Dem links-grünen Lager, das seine Klimaforderungen künftig bei jeder Gelegenheit mit dem Slogan «Klimaschutz ist ein Menschenrecht!» untermauern wird? Der SVP, die nun am Beispiel von Strassburg zeigen kann, wie ausgreifend internationale Gerichtshöfe ihre Aufgabe interpretieren?
Bei der FDP und der Mitte sorgt man sich, dass solche Urteile die Menschenrechtsidee als Ganzes diskreditieren. Tatsächlich scheinen weite Teile der Bevölkerung wenig Verständnis zu haben für den Sieg, den die mit Greenpeace verbundenen Klimaseniorinnen gegen die Schweiz erzielt haben. Bereits kursieren Witze, weshalb man die Schweiz nun auch noch verklagen könnte: wegen Geschlechterdiskriminierung, weil Männer hierzulande noch immer früher sterben als Frauen? Wegen Verletzung des Rechts auf Privatleben, weil der Staat nicht für jedermann eine billige Fünfzimmerwohnung in der Stadt bereitstellt?
Eine Frage der Interpretation
Nur wenig geredet wird über die Richter, die für das Klima-Urteil und andere umstrittene Entscheide verantwortlich sind. Das ist erstaunlich, denn der EGMR, 1959 geschaffen, übt enormen Einfluss aus. Jeder der 46 Europaratsstaaten stellt einen Richter; für die Schweiz ist das Andreas Zünd. Die Entscheide des Gerichts und die Grundsätze, die es aufstellt, gelten für alle Mitglieder des Europarats. Das war so lange kein Problem, wie der Gerichtshof die europäische Konvention über die Menschenrechte (EMRK) eng auslegte und als Abwehrrechte gegenüber dem Staat interpretierte.
Doch das hat sich geändert. Für die Strassburger Richter ist die EMRK ein «lebendiges Instrument», das sie weiterentwickeln und aus dem sie seit geraumer Zeit laufend neue Ansprüche ableiten. So steht in der Konvention kein Wort davon, dass ein Staat das Recht auf Privatleben älterer Frauen verletzt, wenn er (angeblich) zu wenig gegen die Klimaerwärmung unternimmt: Diese Aussage ist allein auf die Interpretation der Richter zurückzuführen.
Es geht dem EGMR also bei weitem nicht mehr nur um den Schutz des harten Kerns der Menschenrechte, sondern um viel mehr: um Rechtsfortbildung für ganz Europa. Ein Korrektiv gegen solche Urteile gibt es nicht. Das führt immer wieder zu Friktionen zwischen dem Gerichtshof und einzelnen Mitgliedstaaten, dies umso mehr, als sich die Richter häufig als Avantgarde für die Durchsetzung «fortschrittlicher» Ideen sehen, sei dies politisch, sozial oder wirtschaftlich.
Das zeigt sich auch beim Klima-Urteil. Auffällig ist die Geschlossenheit: Die Schweiz wurde mit 16 zu 1 Stimme verurteilt; die abweichende Stimme gehört dem Richter Tim Eicke aus Grossbritannien. Wenn sich ein so grosses Richtergremium praktisch einig ist, dann kann das zweierlei heissen: Entweder liegt juristisch ein glasklarer Fall vor – was auf die Klage der Klimaseniorinnen eindeutig nicht zutrifft. Oder bei den Richtern handelt es sich um Gleichgesinnte, die dieselben Überzeugungen teilen.
«Ernsthafte Interessenkonflikte»
Die meisten der Strassburger Richter sind erfahrene Europa- bzw. Völkerrechtler, was zu einer gewissen Uniformität im Denken führen mag. Die frühere deutsche EGMR-Richterin Renate Jaeger formulierte es wie folgt: «Ein Gericht, das auf einer völkerrechtlichen Vereinbarung beruht, schaut sehr viel auf internationales ‹soft law›, etwa bei der Uno oder im Europarat, um es dann in seinen Entscheidungen heranzuziehen. Es besteht die grosse Verführung und Gefahr, mit einem Richterspruch ‹soft law› völkerrechtlich verbindlich zu machen. Sie ist besonders gross, wenn das Richterpersonal aus Völkerrechtlern und NGO-Vertretern besteht», so Jaeger.
Dass der Gerichtshof sich als Einfallstor für einflussreiche NGO anbietet, darüber wird schon länger geredet. Vor vier Jahren sorgte ein Bericht des französischen Juristen Grégor Puppinck für Aufsehen. Puppinck, Direktor des christlich-konservativen Think-Tanks European Centre for Law and Justice, der den Vatikan in verschiedenen Expertengremien des Europarates vertritt, hatte die Verbindung von EGMR-Richtern mit verschiedenen NGO untersucht. Er gelangte zu dem Schluss, dass es am EGMR ernsthafte Probleme mit Interessenkonflikten gebe.
Laut Puppincks Bericht waren von den 100 Richtern, die zwischen 2009 und 2019 in Strassburg wirkten, mindestens 22 frühere Mitarbeiter oder Partner von grossen NGO, die am EGMR mit Klagen sehr aktiv sind. 12 Richter hätten Verbindungen zum Open-Society-Netzwerk des Milliardärs George Soros, andere zu Amnesty International, zu Human Rights Watch oder zum Helsinki-Komitee. Während des untersuchten Zeitraums hätten diese Richter an knapp 90 Verfahren teilgenommen, in denen «ihre» NGO involviert gewesen sei. «Die massive Präsenz von Richtern, die aus demselben NGO-Netzwerk stammen, spiegelt den Einfluss grosser Stiftungen und privater NGO auf das europäische System des Menschenrechtsschutzes wider», so Puppinck. Das stelle nicht nur die Unabhängigkeit des Gerichtshofs infrage, sondern auch die Unparteilichkeit seiner Richter.
Puppincks Bericht löste zwar kein Erdbeben aus, doch es gab im Europarat und in mehreren Ländern politische Vorstösse dazu. In Strassburg wies man den Vorwurf zurück, dass die Richter nicht unparteilich seien. Der Bundesrat hielt in einer Antwort auf eine Interpellation fest, der Umstand, dass verschiedene EGMR-Richter zuvor für NGO tätig gewesen seien, begründe noch keine Zweifel an ihrer Unbefangenheit. Ob Zufall oder nicht: Ein Jahr nach dem Erscheinen von Puppincks Bericht revidierte der EGMR seinen Kodex zur juristischen Ethik und betonte die Pflicht der richterlichen Unabhängigkeit.
Die politische Haltung ist unbekannt
Gewählt werden die 46 Richter von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, also auch von den National- und den Ständeräten, welche die Schweiz dort vertreten. Der freisinnige Neuenburger Nationalrat Damien Cottier ist im Europarat Mitglied der Gerichtskommission und damit zuständig für die Vorprüfung der Kandidaturen. Jedes Land reicht einen Dreiervorschlag ein. Die Bewerbungsdossiers werden analysiert, anschliessend führt die Kommission ein kurzes Gespräch mit den Kandidaten.
Dabei gehe es auch um die Frage, wie ein Kandidat die Aufgabe des Gerichts interpretiere, sagt Cottier – «also genau um die Frage, die sich beim Klima-Urteil stellt: Ab wann spielt das Gericht eine politische Rolle, ab wann führt es sich als Gesetzgeber auf?». Die persönliche und die politische Haltung der Richter kenne man aber nicht, und sie liessen sich auch in einem Gespräch nicht wirklich herausspüren. Sehr wichtig für die Kommission sei die Unabhängigkeit der Richter, betont Cottier. Wenn ein Kandidat für eine NGO tätig sei, könne dies je nach Dauer und Intensität des Engagements durchaus zu Fragen führen. Das Auswahlverfahren hält Cottier insgesamt für gut, doch am Ende kenne man die Bewerber nicht bis ins Detail. «Die Regierungen, welche die Kandidaten vorschlagen, haben eine grosse Verantwortung.»
Präsident der Schweizer Europaratsdelegation ist der Zürcher SVP-Nationalrat Alfred Heer. Was die berufliche Qualifikation und die Erfahrung angehe, so würden die Kandidaturen genau geprüft, sagt er. Doch sage das noch nichts aus über ihre Einstellung. Nach der Erfahrung von Heer ist es eher schwierig, bürgerlich eingestellte Kandidaten zu finden. Solche Juristen machten meist Karriere in der Privatwirtschaft. In der Tendenz seien es etatistisch eingestellte Anwärter, die sich für das Richteramt in Strassburg interessierten. «Vielfach handelt es sich um Überzeugungstäter oder Aktivisten, die meinen, sie dürften den gesellschaftlichen Entwicklungen vorgreifen und sich über den Willen der nationalen Parlamente hinwegsetzen. Dabei steht der Europarat doch für Demokratie», sagt Heer.
Der SVP-Nationalrat ist überzeugt, dass Urteile wie jenes zu den Klimaseniorinnen letztlich die Glaubwürdigkeit des Gerichtshofs und der EMRK unterlaufen. «Der Europarat riskiert, dass gewisse Länder sich mit der Zeit abwenden werden.» Ähnlich tönt es von Cottier: «Es ist wichtig, die Akzeptanz der Menschenrechtskonvention nicht zu vermindern, indem man sie zu proaktiv interpretiert.»