Ein internationaler Vergleich zeigt: Die Schweizer Regierung kann mithalten.
Im Bundeshaus gab es früher im Erdgeschoss das «Journalistenzimmer», einen Raum mit einem runden Tisch, einem Zeitungsständer und einem Anschlagbrett. Dorthin kam hin und wieder ein Bundesrat, um seinen Rücktritt zu verkünden. Aber die Regel in den fünfziger und sechziger Jahren war, dass Bundeskanzler Charles Oser nach der wöchentlichen Bundesratssitzung einen Zettel ans Anschlagbrett heftete, auf dem stand: «Heute nichts zu berichten.» Da damals die Zeitungen mehrheitlich noch Parteiblätter waren, pflegten sich darauf die Journalisten mit den Bundesräten der gleichen Parteicouleur im Café zu treffen, um mehr zu erfahren. Zitieren durften sie niemanden.
Die Bundesräte wandten sich kaum an die Medien, sondern lieber direkt ans Volk. Sie sprachen an Parteitagen, Volksversammlungen und eidgenössischen Festen. Erst Walter Buser führte als Vizekanzler in den siebziger Jahren die regelmässigen Medienorientierungen ein. Seither haben sich die Beziehungen der schweizerischen Regierung zu den Medien intensiviert: Die Bundesratsmitglieder geben Interviews, gehen in Sendungen wie «Arena» oder «Infrarouge», treten an Pressekonferenzen auf und lassen ihre Medienbeauftragten zusätzliche Fragen von Medienleuten beantworten. Aber die Regierung betreibt auch Kommunikation am Journalismus vorbei: mit Websites, Broschüren, Videobotschaften, dem «Bundesbüchlein», den Rundfunk-Ansprachen vor Volksabstimmungen und über Social Media.
Deshalb stellt sich die Frage: Wie medienfreundlich ist der Bundesrat? Das lässt sich an vier Kriterien messen: erstens an seiner Einstellung zur Medienfreiheit. Zweitens an seiner Haltung zur Medienförderung. Drittens an seiner Bereitschaft zu Medienkonferenzen. Und viertens an seiner Offenheit gegenüber journalistischem Nachfragen (bei Recherchen, in Interviews).
Die in der Verfassung verankerte Medienfreiheit hält der Bundesrat seit je hoch. Kein Medienminister, aber auch kein anderes Mitglied der obersten Exekutive hat je das Prinzip in Zweifel gezogen. Auch die Ausweitung der Pressefreiheit im Bankenbereich, die der Ständerat verhinderte, hatte der Bundesrat unterstützt. Etwas weniger dezidiert tritt die Regierung für die Medienförderung ein; sie will nicht allzu viel Geld einschiessen und hofft, dass sich die Branche selber hilft.
80 bis 100 Medienkonferenzen pro Jahr
Wie oft stellt sich der Bundesrat den Medien? Nach jeder Bundesratssitzung, die jeweils am Mittwoch stattfindet, kommen einzelne Bundesratsmitglieder ins Bundesmedienzentrum, um unter der Leitung des Vizekanzlers und Bundesratssprechers Andrea Arcidiacono den Journalistinnen und Journalisten die wichtigsten der getroffenen Entscheide zu erläutern. Diesen Aufzug gibt es auch nach eidgenössischen Volksabstimmungen.
Die Medienleute erleben die eidgenössischen Minister direkt, authentisch, und sie können ihnen Fragen stellen. Das tun sie manchmal richtig hartnäckig. Mehr als 40-mal pro Jahr besteht die Gelegenheit dazu. Nochmals ungefähr 40-mal finden jedes Jahr Medienkonferenzen statt, in denen Bundesratsmitglieder Vorlagen ihres Departements vorstellen oder Abstimmungskampagnen einläuten. Alle diese Medienkonferenzen werden per Video direkt übertragen. Die Bevölkerung kann so mitverfolgen, wie sich der Austausch zwischen Regierung und Medien abspielt.
80 bis 100 Medienkonferenzen pro Jahr also: Wie steht die Schweizer Regierung im internationalen Vergleich da? Sie kann mithalten, ja sie ist letztlich medienfreundlicher als die Regierungen der USA, Grossbritanniens, Deutschlands und Frankreichs und ähnlich medienfreundlich wie die Regierungen Österreichs und Italiens. Dabei spielt eine Rolle, ob in einem Land ein «political centered news management» (das Parlament hat Vorrang) oder ein «media centered news management» (die Medien haben Vorrang) Tradition hat.
Vorrang des Parlaments: Prototyp Grossbritannien
Das klassische Beispiel für den Vorrang des Parlamentes ist Grossbritannien. Der Premierminister äussert sich jeden Mittwoch in der Fragestunde des Unterhauses, aber selten vor den Medien. Die 470 Lobby-Journalisten haben zweimal täglich die Möglichkeit, den Prime Minister’s Spokesman zu befragen, aber eben nicht den Premierminister selbst. Auch die Minister verhalten sich tendenziell so, dass sie wichtige Neuerungen eher vor dem Unterhaus als vor den Medien verkünden.
In ähnlicher Weise tritt in Deutschland der Bundeskanzler zur «Regierungsbefragung» vor dem Bundestag an, taucht aber praktisch nie an der Bundespressekonferenz auf. Es gibt in Berlin zwar für die 700 Journalistinnen und Journalisten der Bundespressekonferenz wöchentlich drei Regierungspressekonferenzen, die – weltweit einmalig – von einem Journalisten oder einer Journalistin geleitet werden. Dort sind aber nur die Mediensprecher des Kanzlers und der Ministerien zugegen, nur ganz selten treten auch Minister auf.
Sogar in Frankreich sieht man den Premierminister mehr vor der Nationalversammlung als vor den Medien. Und der französische Präsident macht sich im Hinblick auf Medienauftritte erst recht rar. Emmanuel Macron gab in sieben Amtsjahren bloss vier Medienkonferenzen (ohne die Auftritte nach Staatsbesuchen und internationalen Konferenzen) – ähnlich wenige wie die gaullistischen Vorgänger Jacques Chirac (vier Medienkonferenzen in zwölf Jahren) und Nicolas Sarkozy (drei in fünf Jahren) und anders als der Gründer der Fünften Republik, Charles de Gaulle, der in seinen zehn Amtsjahren 17 Medienkonferenzen zelebrierte. Zwar gibt es auch in Frankreich nach jeder Ministerratssitzung ein per Video übertragenes «Compte rendu» der Regierungssprecherin, aber auf Minister treffen die Medienleute dort nicht.
Vorrang der Medien: Prototyp USA
Das klassische Beispiel für den Vorrang der Medien sind die USA. Die Medienleute im Weissen Haus erhalten täglich Briefings durch die Mediensprecherin des Präsidenten, oft mehrmals täglich. Sie sehen allerdings den Präsidenten selber in unterschiedlicher Kadenz. Joe Biden hielt im Jahresdurchschnitt nur 9,9 Medienkonferenzen, Donald Trump jedoch 22 und Barack Obama 20,4. Am sparsamsten waren Richard Nixon mit 7 und Ronald Reagan mit 5,8 jährlichen Medienkonferenzen.
Die Mitglieder des Parlamentes indes sehen den Präsidenten nur einmal jährlich in ihrer Mitte (für die State-of-the-Union-Botschaft), und befragen können sie ihn überhaupt nie. Ähnlich haben sich Italien, Österreich und die Schweiz entwickelt: Von den Regierungsbeschlüssen erfahren die Medienleute als Erste, deutlich vor den Parlamentsmitgliedern. In Italien hat sich die Medieninformation unter Regierungschefin Giorgia Meloni intensiviert.
Nach jeder Ministerratssitzung treten im Palazzo Chigi einzelne Minister vor die Medien, und oft ist Giorgia Meloni auch dabei. Diese Konferenzen werden per Video übertragen. Auch in Österreich geben nach dem wöchentlichen Ministerrat einzelne Minister im «Pressefoyer» den Medien Auskunft. Bundeskanzler und Vizekanzler sind indes nur in besonderen Fällen dabei. Daneben laufen aber in Wien jede Woche noch weitere 10 bis 15 Medienkonferenzen, an denen Ministerinnen und Minister auftreten.
Fazit also: In der Schweiz haben die Journalistinnen und Journalisten ähnlich wie in Österreich und Italien eine Garantie, dass sie die Regierungsmitglieder offiziell regelmässig sehen und ihnen Fragen stellen können. In den USA, in Grossbritannien, in Deutschland und in Frankreich haben sie diese Garantie nicht.
Unterschiedliche Redebereitschaft je nach Lage
Bleibt noch die vierte Frage: Wie gross ist die Bereitschaft von Regierungsmitgliedern, Interviews zu geben und Recherchen zuzulassen? Länderübergreifend gilt, dass Ministerinnen und Minister Interviews geradezu anbieten, wenn es ihnen gut läuft, und sich vor Interviews drücken, wenn sie in einer Krise stecken. In Grossbritannien ist es üblich, dass der Premierminister, aber auch andere Minister Lobby-Journalisten um sich versammeln, um ihnen Hintergrund-Informationen zu geben, die sie aber nicht direkt zitieren dürfen.
Auch in Deutschland gibt es solche Hintergrund-Kreise, in Berlin allerdings etwas weniger ausgeprägt als früher in Bonn. Interviews geben alle, dabei überlegen sich die Regierungsmitglieder und ihre Medienverantwortlichen jeweils genau, welche Zeitungen und welche Sendungen für sie eine geeignete Plattform sind. So äussern sich Schweizer Bundesräte hin und wieder in Sendungen wie der «Samstagsrundschau», in Deutschland trifft man Minister bei «Maischberger», «Markus Lanz» oder «Caren Miosga». In Frankreich sind die politischen Akteure fast ständig auf allen Kanälen.
In Frankreich, Österreich und Italien sind die Beziehungen zwischen Medienleuten und politisch Verantwortlichen ohnehin eng. Sie dinieren miteinander im Restaurant und treffen sich auch privat, um politische Fragen zu erörtern. In Wien spricht man von «Verhaberung» (ein altjüdisches Wort für Kumpanei), in Paris von «connivence», in Rom kennt man den «giornalista dimezzato», der gespalten ist zwischen seinem publizistischen Auftrag und der Anlehnung an einen politischen Förderer. In der Schweiz wird indes die professionelle Distanz trotz Überschaubarkeit und Duz-Kultur besser gewahrt als noch vor einigen Jahrzehnten.
Roger Blum ist emeritierter Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Bern. Von 2008 bis 2015 war er Präsident der UBI.