Diversität und Inklusion sind die Ideale dieser Zeit. Im Zweifel sind sie nicht viel wert. Der Krieg in der Ukraine und in Gaza hat diese Tendenz nur verstärkt.
Eigentlich leben wir ja in menschenfreundlichen, sanften Zeiten. Unternehmen, Parteien, Vereine und Veranstaltungen haben sich der Vielfalt und der Inklusion verschrieben. Um dies zu symbolisieren, schmücken sich die Institutionen mit bunten Fahnen und Anstecknadeln.
Wie du liebst, woher du kommst, was du glaubst – das spielt angeblich alles keine Rolle mehr. Es beginnt am Arbeitsplatz, wo man offen und tolerant ist. Hin und wieder, es ist unvermeidlich, muss man gegenseitig Kritik üben, aber man macht das wertschätzend, so dass es der andere fast nicht spürt. In dieser Weise arbeiten wir an unserer gegenseitigen Verzärtelung. Und fast könnte man glauben, die westliche Gegenwart sei eine grosse Party mit dem Motto: «Komm, wie du bist.»
Dieser Eindruck wäre allerdings ein Irrtum. Den Zeitgeist gibt es nur mit seinen Paradoxien, das scheint eine Gesetzmässigkeit zu sein. So entpuppt sich die Inklusionsgesellschaft bei näherer Betrachtung auch als eine Ausschlussgesellschaft. Von politischen Parteien ist man das gewohnt: Wer von der Linie zu stark abweicht, wird subtil oder weniger subtil aussortiert. Parteien schliessen Menschen mit abweichenden Meinungen aus, um die Reinheit der Lehre wiederherzustellen. Auch um ihr öffentliches Ansehen zu schützen und glaubwürdig zu bleiben, wie sie meinen. Sowieso geht es immer auch ums Image.
Keine Körperertüchtigung mit der AfD
Das Prinzip des Ausschlusses ist heute aber auch im Gewand des Pluralismus verfügbar: Führende deutsche Unternehmen und Medien haben das mustergültig mit der «Zusammenland»-Kampagne exemplifiziert. Sie reagierten damit auf einen angeblichen Remigrationsgipfel von Rechtsextremen und Rechten in Potsdam. Die Message der Kampagne war: Für alle ist Platz im Zusammenland, aber nicht für Populisten und ihre Anhänger. Im Bundestag hat man den Ausschluss der AfD perfektioniert. Jüngst meldete der FC Bundestag, keine AfD-Mitglieder mehr in die Mannschaft aufzunehmen. Die Parlamentsfussballer halten die gemeinsame Körperertüchtigung für nicht vereinbar mit ihren Vorstellungen von Weltoffenheit und Toleranz.
Die Ächtung der AfD ist letztlich ein Kontaktverbot, schliesslich will man den wachsamen Medien keine falschen Signale senden. Ein falsches Signal kann im Zweifel die Teilnahme an einer Geburtstagsparty sein. Der konservative deutsche Kolumnist Jan Fleischhauer sah sich einmal zu einer öffentlichen Rechtfertigung veranlasst, weil er an der Geburtstagsfeier eines ehemaligen Kollegen aufgekreuzt war, der sich politisch radikalisiert hatte. Im Wording des ZDF-Aktivisten Jan Böhmermann hiess das: «mit Neonazis Party machen».
Tribalisierung der Gesellschaft
Die politische Kultur des Ausschliessens kann im Extremfall unfreiheitliche, absolutistische Züge annehmen. Sie ist aber auch deshalb fragwürdig, weil sie in der Regel einen negativen, nicht inklusiven Effekt hat. Der Ausschluss führt selten dazu, dass sich die Ausgeschlossenen der Mehrheit anschliessen. Im Gegenteil, er fördert Frustration und Aggression und führt zu einer Tribalisierung der Gesellschaft. Denn der Ausschluss wird meistens noch von einer Selbstabschottung begleitet.
Wohlgemerkt, es geht nicht darum, demokratische Werte zu relativieren, nicht einmal um politische Kompromisse. Es geht darum, miteinander im Gespräch zu sein. Man kann miteinander umgehen, selbst wenn man keine oder fast keine politischen Gemeinsamkeiten hat. Wer hingegen sogar Angst hat, dass ein Gespräch mit dem politischen Gegner seine eigenen ideologischen Überzeugungen erschüttern könnte, verhält sich feige. Und dürfte erst recht Gesprächsbedarf haben.
Die Kultur des Ausschlusses
Die politische Kultur des Ausschliessens scheint sich unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine und in Gaza tiefer in die Kultur selbst zu graben. Künstler werden fast wie Politiker behandelt, die der Öffentlichkeit Rechenschaft abgeben müssen, dass sie auf der richtigen Seite stehen, sonst drohen auch sie aussortiert zu werden.
Der Eurovision Song Contest (ESC) war in diesem Jahr vom Eifer überschattet, die israelische Kandidatin Eden Golan auszuschliessen. Zehntausende Demonstranten, unter ihnen die Klimaaktivistin Greta Thunberg, protestierten in Malmö gegen die Teilnahme Israels am ESC. Die israelische Sängerin konnte in der schwedischen Islamistenhochburg Malmö das Hotelzimmer nicht verlassen. Zur ESC-Halle wurde sie unter grossem Polizeischutz per Helikopter geflogen.
Es sind ausgerechnet Künstler, die den ESC für ihre LGBTQ-Propaganda instrumentalisiert haben, die gleichzeitig eine angebliche politische Instrumentalisierung des Events durch Israel problematisierten. Die Proteste gegen Eden Golan waren besonders krass, weil es letztlich nicht einmal mehr um moralische Werte oder ideologische Positionen ging. Die Israelin sollte allein wegen ihrer Herkunft nicht teilnehmen dürfen. Man nannte das früher Rassismus.
Auf der Suche nach Isolation
Filmfestivals zeigen kaum noch israelische Filme. In Cannes gab es gar keine israelischen Beiträge, um kritische Diskussionen zu vermeiden. Israelische Filme zu zeigen, wird als Solidarität mit Israel gelesen und ist entsprechend toxisch geworden. Als die demonstrierenden Studenten an der Columbia University in New York den Campus besetzten, stellten sie gleich die Regel auf, dass Zionisten ihr okkupiertes Territorium nicht betreten dürfen. Die Studenten schotteten sich damit selbst vor anderen Meinungen ab. Sie suchten nicht den Austausch, sondern die Isolation.
Ähnlich intolerant ist das Klima gegenüber russischen Künstlern. Sie können sich einem westlichen Boykott oft nur entziehen, wenn sie der russischen Diktatur abschwören. Das heisst, sie müssen sich einer öffentlichen Gesinnungsprüfung unterziehen. Aber auch dies bedeutet nicht unbedingt, dass die Künstler im Westen auftreten dürfen, wie der Fall Anna Netrebkos zeigt. In der Vergangenheit hatte sie einmal die russischen Separatisten in der Ostukraine besucht und ein paar Mal die Hand von Wladimir Putin geschüttelt. 2022 hat sie den Krieg in der Ukraine dann deutlich verurteilt und sich von Putin distanziert, trotzdem blieben starke Vorbehalte. Das KKL Luzern hat kürzlich einen Auftritt von ihr abgesagt, angeblich aus Sicherheitsgründen.
Der imperialistisch-verseuchte Dostojewski
Im März 2022 hat der ukrainische PEN-Klub zu einem kompletten Boykott der russischen Literatur aufgerufen. Es geht nicht einmal nur um die gegenwärtige russische Literatur, sondern auch um die Klassiker. Sie werden als Propagandisten des russischen Imperialismus dargestellt, darüber hinaus seien sie auch nicht Teil der europäischen Kultur. Als ob dies ein Kriterium wäre.
Der bekannte ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan meinte in einem Interview: «Ob wir wollen oder nicht, ist dies zweifellos auch ein Krieg zwischen Puschkin und Schewtschenko.» Der Feldzug gegen die russische Literatur mag aus Sicht der Ukrainer verständlich sein. Aber auch hier: Warum sollten wir uns nicht mit ihr auseinandersetzen, sie geniessen, selbst wenn Dostojewski und Puschkin den russischen Imperialismus beweihräucherten? Moralische Integrität und Herkunft sind keine Kriterien für die Qualität von Literatur. Dostojewski war ein fürchterlicher Antisemit und dennoch ein grossartiger Schriftsteller. Ein Widerspruch ist das nicht.
Inklusionsprogramm für homogenes Publikum
Der ideologisch motivierte Ausschluss-Furor ist gerade im Kulturbereich fragwürdig geworden, und die Medien müssen sich eingestehen, dass sie der Katalysator sind. In ihrem Bestreben, «problematischen Figuren» keine Plattform zu geben, sie nicht salonfähig zu machen, treiben sie selbst die Tribalisierung der Gesellschaft voran. Die inbrünstige Forderung nach noch mehr Inklusion und Diversität ist meistens ein Indiz dafür, wie sich die Toleranz längst in ihr Gegenteil verkehrt hat.
In vielen Fällen kommt es aber auch einfach zu einer sektiererischen Selbstisolation. Anschauungsmaterial lieferte hier jüngst das Schauspielhaus Zürich. Sein Verwaltungsrat, der von der Stadt und dem Kanton Zürich dominiert wird, hat ganz bewusst einen «transdisziplinären, inklusiven und intersektionalen Ansatz» gewählt, «der sowohl bei den Mitarbeiter*innen wie auch beim Publikum grösstmögliche Diversität (. . .) anstrebt». Die Folge des Inklusionsprogramms war ein maximal-homogenes Publikum. Denn nur dieses wollte regelmässig das progressive Erziehungsprogramm konsumieren.
Das inklusive System
Ein probates Mittel gegen die Tendenz, Menschen oder Organisationen auszuschliessen, ist die direkte Demokratie. Ein inklusiveres politisches System wurde bisher nicht erfunden. Es zwingt die verschiedenen Teile der Gesellschaft dazu, sich miteinander auseinanderzusetzen. Es bindet das Individuum ein und bietet dem Einzelnen maximale Möglichkeiten, sich politisch einzubringen. Austausch ist unvermeidlich. Diese politische Kultur überträgt sich auf den generellen Umgang in der Gesellschaft. Die Meinungstoleranz ist grösser. Die Tendenz, den Diskurs zu homogenisieren und Akteure auszuschliessen, ist in der Schweiz weniger ausgeprägt als in anderen Ländern.
Dieser intensive politische Austausch führt gerade dazu, dass man Kontrahenten nicht nur als Politiker, sondern auch als Menschen wahrnimmt. Leute, denen man die Hand geben, mit denen man Fussball spielen kann. Solche Gesten werden nicht als politische Kumpanei gedeutet. Die Auseinandersetzungen sind hier nicht weniger hart, aber alle Akteure sind stärker eingebunden. Das beugt Extremismus eher vor als die Ghettoisierung von einzelnen Menschen oder Gruppierungen.