Mit seinen Expeditionen ins Innere Grönlands hat Alfred Wegener alle menschlichen Grenzen überwunden. Die Erkenntnisse, die er gewann, waren weltbewegend. Und wirken bis heute.
Am Ende ist einfach alles zu viel. Mitte November 1930 kämpft sich Alfred Wegener auf Ski durch die Polarnacht, über die vom zornigen Wind aufgewellte Fläche des grönländischen Inlandeises. Er muss das Tempo halten, das die Schlittenhunde und sein Begleiter Rasmus Villumsen angeschlagen haben, sonst erreichen sie die Basis an der Westküste nicht. Sie hatten die Forschungsstation «Eismitte» 400 Kilometer im Innern Grönlands noch einmal vor dem arktischen Winter versorgt. Am 1. November, Wegeners 50. Geburtstag, machten sie sich auf den Rückweg.
Viel zu spät im Jahr, mit zu wenig Proviant und Brennstoff, denn das meiste liessen sie bei den drei Forschern, die in «Eismitte» überwintern sollten. «Das Ganze ist eine schwere Katastrophe, und es nutzt nichts, es sich zu verheimlichen. Es geht jetzt ums Leben», anerkennt der Expeditionsleiter Wegener. Auf dem Rückmarsch bei minus 50 Grad in der dünnen Luft auf dem Eisschild ist das Mass des Möglichen überschritten.
Im folgenden Frühjahr stiess ein Versorgungstrupp bei Kilometer 189 auf im Schnee steckende Ski. Darunter fand man Wegeners Leiche, bekleidet, ohne Erfrierungen, eingenäht in zwei Schlafsacküberzüge. Er starb vermutlich aus Überanstrengung an Herzversagen, um den 16. November 1930. Villumsen bestattete ihn sorgfältig, markierte das Grab, nahm Wegeners Tagebuch an sich und zog weiter. Auch er schaffte es nicht zur Weststation und blieb verschollen.
Auf der Jagd nach Rekorden
Was treibt Menschen in die Polarzonen? Was bringt sie dazu, am lebensfeindlichsten Ort der Erde zu überwintern, unzulänglich ausgerüstet, den Kälte- und Hungertod ständig vor Augen? Das versucht Günther Wessel in seiner Biografie «Alfred Wegener. Universalgelehrter, Polarreisender, Entdecker» zu ergründen. Akribisch recherchierte er in Briefen, Tagebüchern, Publikationen und Zeugnissen Wegeners Leben und Werk – nicht um eine weitere Heldengeschichte zu erzählen, sondern um zu verstehen, warum dieser Mann in der Arktisforschung von herausragender Bedeutung ist.
Die Polarexpeditionen im 19. Jahrhundert richteten sich auf zwei Ziele – die Nordwestpassage und den Nordpol. Die britische Admiralität hatte es zur nationalen Aufgabe erklärt, den nördlichen Seeweg vom Atlantik zum Pazifik zu finden. John Ross wurde 1818 ins Nordpolarmeer geschickt, 1819 William Edward Parry, schliesslich 1845 John Franklin, dessen Fahrt mit den Schiffen «Erebus» und «Terror» in einer nationalen Tragödie endete.
Während die wenig bedeutende Nordostpassage entlang Sibiriens bereits 1878/1879 vom Schweden Adolf Erik Nordenskiöld durchfahren worden war, gelang die Durchfahrt der Nordwestpassage erst 1906 dem Norweger Roald Amundsen.
Bei der Nordwestpassage gab es wirtschaftliche und geopolitische Gründe. Den an sich belanglosen Nordpol zu erreichen, war hingegen ein Ziel symbolischer Art. Hier ging es darum, die Dominanz des Menschen über den Erdball zu beweisen. Um die Mitte des Jahrhunderts begann eine Hetzjagd mit immer neuen Vorstössen. 1888 überquerte der Norweger Fridtjof Nansen als Erster Südgrönland. 1892 schafften die Amerikaner Robert Peary und Frederick Cook die Querung ganz im Norden.
1893 liess sich Nansen mit der «Fram» drei Jahre lang einfrieren, erreichte in der Eisdrift 83 Grad Nord, musste jedoch den Vorstoss zum Pol auf Ski abbrechen. 1908 behaupteten Cook und 1909 Peary, den Nordpol erreicht zu haben. Als Amundsen davon erfuhr, schwenkte er auf den Südpol um, den er mit Hundeschlitten 35 Tage vor dem Engländer Robert Scott 1911 erreichte. Der Nordpol wurde zweifelsfrei erst 1926 erreicht, ebenfalls von Amundsen per Luftschiff.
«Hier gewinnt das Leben Inhalt»
Diese Rekordjagden waren ruhmvoll, aber wissenschaftlich wenig ertragreich. In ihrem Schatten gab es jedoch Wissenschafter, die echte Forschungsreisen unternahmen wie der Deutsche Carl Koldewey und der Österreicher Carl Weyprecht. Auf dessen Initiative kam 1882/1883 das Internationale Polarjahr zustande, an dem elf Staaten an 14 Orten Daten zu Geomagnetismus und Meteorologie erhoben.
Das war der Stoff, der den 1880 geborenen Alfred Wegener faszinierte, als er in Berlin, Heidelberg und Innsbruck Meteorologie, Astronomie und Physik studierte. Sein Antrieb war der Wissensdrang, der Impetus des Forschers, der die Welt verstehen und Pionierarbeit leisten will. Er hatte als Assistent des Aeronautischen Observatoriums Lindenberg gerade mit einer Ballonfahrt den Weltrekord von 52,5 Stunden Dauerflug aufgestellt. Als er erfuhr, dass der dänische Forscher Ludvig Mylius-Erichsen eine Grönlandexpedition an die Nordostküste plante, sah der 25-Jährige seine Chance gekommen.
Die Expedition, die von 1906 bis 1908 dauerte, ist der Wendepunkt in Wegeners Leben. Bei Danmarkshavn richtet er seine meteorologische Station ein, zeichnet Wetterdaten auf, lässt 125 Ballone und Drachen bis auf 3100 Meter steigen, deren Messungen für 25 Jahre die einzigen aus Grönland bleiben. Zwei Winter lang trotzt er Kälte, Dunkelheit, Einsamkeit und muss auch den Tod dreier Kameraden verkraften.
Doch er findet seine Bestimmung: «Hier draussen gibt es Arbeit, die des Mannes wert ist», schreibt er: «Hier gewinnt das Leben Inhalt. Mögen Schwächlinge daheimbleiben und alle Theorien auswendig lernen, hier draussen Auge in Auge der Natur gegenüberzustehen und seinen Scharfsinn an ihren Rätseln zu erproben, das gibt dem Leben einen ganz ungeahnten Inhalt.»
Danach widmete sich Wegener seiner akademischen Karriere. Er habilitierte sich und wirkte in Marburg als Privatdozent für Meteorologie, Astronomie und kosmische Physik. Er publizierte über Wetterphänomene und die Thermodynamik der Atmosphäre. Seine wissenschaftliche Neugier und geistige Autonomie führten ihn auch in andere Gebiete. So entwickelte er gegen die einhellige Ansicht der Geologen die Theorie der Kontinentalverschiebung, für die er postum berühmt wurde (siehe den zweiten Artikel auf der Doppelseite).
Auf dem Eis überwintern
Wegener ist kein Forscher, der in der Studierstube hockt, sondern der praktische Typ, der aus der Beobachtung die Gesetzmässigkeiten der Welt erkennen will. 1912 bricht er zu seiner zweiten Grönlandexpedition auf. Der Däne Johan Peter Koch, Wegener und zwei weitere Forscher wollen Grönland an der breitesten Stelle queren und auf dem Eisschild durchgehend Temperatur, Feuchtigkeit, Luftdruck und Wind messen.
Das Vorhaben ist anstrengend und gefährlich. Beim Einrichten des Lagers an der Ostküste auf dem Gletscher bricht sich Wegener eine Rippe, Koch stürzt in eine Spalte. Einmal wird beinahe das Lager in den Abgrund gerissen, als der Gletscher kalbt. Den Forschern gelingt es aber erstmals, auf dem Eis zu überwintern, Gletscherbohrungen bis in 24 Meter Tiefe vorzunehmen und wichtige Daten zu sammeln.
Die folgende Überquerung des bis zu 3000 Meter hohen Eisschilds haben sie völlig unterschätzt. Ihre Ponys sind den Strapazen nicht gewachsen, so dass die Männer die Schlitten selbst ziehen müssen. Als sie die westliche Eisgrenze erreichen, sind sie halb verhungert. Während sie ihren Hund schlachten und essen, sichten sie unten auf dem Fjord ein Segelboot. Pastor Chemnitz aus Upernavik, unterwegs zu Siedlungen der Inuit, rettet die Erschöpften. In 56 Tagen haben sie sich gut 1200 Kilometer durchs Inlandeis gekämpft, rund doppelt so weit wie Nansen 1888 und wie die Schweizer Expedition von Alfred de Quervain 1912.
Nach dem Abenteuer kehrte Wegener in Marburg ins bürgerliche Leben zurück. Er heiratete Else Köppen, Tochter des Meteorologen Wladimir Köppen. 1914 wurde er ins Militär eingezogen und an die Westfront geschickt. Zweimal verwundet, kam er zum Heereswetterdienst. In dieser Zeit veröffentlichte er sein Hauptwerk «Die Entstehung der Kontinente und Ozeane» mit der Theorie der Kontinentalverschiebung sowie Theorien zur Entstehung von Tornados und Mondkratern.
Schönheit und Gefahr
1918 zog die Familie nach Hamburg. Wegener wurde Leiter der Deutschen Seewarte, dann Professor an der Universität Hamburg. Er erweiterte seine Theorie der Kontinentaldrift und publizierte mit seinem Schwiegervater Köppen das erste Lehrbuch zur Klimageschichte. 1924 berief ihn die Universität Graz als Professor für Meteorologie und Geophysik. Er galt nun als bedeutender und vielseitiger Wissenschafter. Umso mehr fragt man sich, warum der arrivierte Professor mit fast fünfzig Jahren 1930 erneut loszog, um im Zentrum Grönlands zu überwintern.
Bei vielen Polarfahrern war es Entdeckerdrang, Ehrgeiz und Ruhmsucht. Manche trieb eine ambivalente Sehnsucht nach der Schönheit und der Gefahr in die arktische Einsamkeit. Auch Wegener suchte die Bewährungsprobe und die Verwesentlichung des Selbst in der elementaren Situation. Doch ausschlaggebend war der Sinn, den er in der Forschung sah.
«Wir brauchen auf unserer Expedition die Suggestion, dass unsere Arbeit sowohl nach ihrer wissenschaftlichen Qualität wie in reisetechnischer Hinsicht eine Rekordleistung ersten Ranges ist», schrieb er auf seiner letzten Reise: «Wir müssen uns in die Vorstellung hineinarbeiten, dass die wissenschaftlichen Probleme, denen wir nachgehen – das Inlandeis und sein Klima –, überhaupt die interessantesten Probleme sind, die es auf der Welt gibt.»
Alfred Wegener starb, ohne alle Probleme gelöst zu haben, die er sich stellte. Er liegt tief im Eispanzer begraben. Seine Expedition aber lieferte ganzjährige meteorologische, klimatologische, glaziologische und geophysikalische Daten, die heute noch nützlich sind. Die damalige Kalkulation der grönländischen Eismasse war erstaunlich präzis wie auch der errechnete Anstieg des Meeresspiegels um acht Meter, falls sie jemals schmelzen sollte.
Günther Wessel: Alfred Wegener. Universalgelehrter, Polarreisender, Entdecker. Mare-Verlag, Hamburg 2024. 288 S., mit zahlreichen Karten und Bildern, Fr. 39.90.
Kultfigur der Polarforschung
st. Alfred Wegener ist heute wissenschaftlich weltweit anerkannt. Strassen, Schulen, Forschungsinstitute, Orte in Grönland und der Antarktis, ein Mond- und ein Marskrater sind nach ihm benannt. Seine Frau Else Wegener veröffentlichte schon 1932 das Buch «Alfred Wegeners letzte Grönlandfahrt», das mehr als ein Dutzend Auflagen erreichte. Seit den 1980er Jahren sind nicht weniger als sechs Biografien und ein historischer Roman erschienen. Der Berliner Autor Günther Wessel ordnet Alfred Wegener in der jüngsten Biografie in die Geschichte der Arktisforschung ein und arbeitet seine Bedeutung für die Gegenwart heraus.