Seit den Explosionswellen in Libanon steht der Nahe Osten vor einem regionalen Konflikt – wieder einmal. Warum der Schlagabtausch an Israels Nordgrenze dieses Mal anders verlaufen könnte.
Hassan Nasrallah lässt sich Zeit. Über 48 Stunden, nachdem im ganzen Libanon Pager von Hizbullah-Mitgliedern explodierten und rund 2300 Personen verletzten, tritt der Anführer der Schiitenmiliz am Donnerstagabend vor die Kameras. Nur knapp 24 Stunden ist es her, dass Funkgeräte der Schiitenmiliz in die Luft flogen und mindestens 25 Todesopfer forderten. Es ist die vielleicht wichtigste Rede des bärtigen Hizbullah-Chefs, seitdem er seine Kämpfer am 8. Oktober in einen Grenzkrieg mit dem Todfeind Israel geschickt hat – der für den Hizbullah immer kostspieliger wird.
Seine Miliz habe einen grossen und beispiellosen Schaden erlitten, gab Nasrallah zu. «Israel hat mit dem Angriff auf die Pager und Funkgeräte alle roten Linien überschritten.» In seiner Ansprache warnte der Hizbullah-Chef eindringlich vor einer israelischen Invasion in Libanon. Eine Vergeltung für die Explosionswelle erwähnte er nur ganz am Schluss, nahezu am Rande. Diese werde zu einem Zeitpunkt kommen und in einer Form ausfallen, die noch zu bestimmen seien.
Der Angriff auf die Kommunikationsinfrastruktur des Hizbullah hat die Miliz im Mark getroffen. «Das ist so, als wenn diese Explosionen im Pentagon passiert wären oder in der Kirya, dem israelischen Militärhauptquartier», sagt der israelische Militärexperte Eitan Shamir. Trotzdem hat Nasrallah weder den grossen Krieg ausgerufen, noch ist er von seiner bekannten Linie abgerückt: Der Grenzkrieg werde erst enden, wenn es einen Waffenstillstand in Gaza gibt. Was ist der Hintergrund der Anschläge in Libanon und welche Folgen ergeben sich daraus? Eine Übersicht in vier Szenarien.
Szenario 1: Der Beginn des grossen Kriegs
«Was in den vergangenen zwei Tagen passierte, ist ein strategischer Gamechanger für Israel», sagt Sarit Zehavi, die Leitern des Alma Research-Centers, das Sicherheitsrisiken an Israels Nordgrenze untersucht. Tausende Hizbullah-Kämpfer seien verletzt und die Miliz müsse nun wieder auf Kommunikation von Angesicht zu Angesicht zurückgreifen – ein Moment der Schwäche und der perfekte Augenblick, um zuzuschlagen. «Israel sollte alles dafür tun, diese besondere Gelegenheit nicht verstreichen zu lassen», sagt Zehavi.
Israels Regierung hat genau diesen Anschein erweckt. Am Mittwochabend sagte Verteidigungsminister Yoav Gallant, eine neue Phase des Krieges habe begonnen. Das Gravitationszentrum der Armee bewege sich nach Norden. Kurz zuvor hatte die israelische Armee eine Division an die Nordgrenze verlegt. Generalstabschef Herzi Halevi genehmigte am Donnerstag neue Angriffspläne gegen den Hizbullah, israelische Kampfjets durchbrachen über Beirut mit einem lauten Knall die Schallmauer, als Nasrallah seine Rede hielt.
«Wir Bewohner des Nordens haben das schon oft von der Regierung gehört, wir wollen nun Taten sehen», sagt Zehavi, die mit ihrer Familie selbst in der Nähe der libanesischen Grenze lebt. In Israel wird immer wieder betont, dass ein Krieg in Libanon ohne amerikanische Unterstützung nicht möglich ist – und die USA tun alles dafür, um eine Eskalation zu verhindern. Von israelischen Sicherheitsexperten ist daher zu hören, dass ein grosser Krieg mit dem Hizbullah trotz der günstigen Gelegenheit unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen bleibt.
Szenario 2: Israel will seine Abschreckung verstärken
Laut verschiedenen Medienberichten löste der israelische Auslandgeheimdienst Mossad am Dienstagnachmittag mutmasslich per Knopfdruck die Explosionswelle aus, weil er befürchtete, dass die Sache auffliege. Die Kommunikationsgeräte wurden also nicht als Vorbereitung für eine Bodenoffensive in die Luft gejagt, sondern weil es die letzte Möglichkeit gewesen war, den strategischen Vorteil der mit Sprengstoff präparierten Pager und Funkgeräte zu nutzen.
Der israelische Sicherheitsexperte Eitan Shamir hält die Sorge vor einer Enttarnung für den wahrscheinlichsten Grund für die Operation. «Bei so einem Angriff hätte man eigentlich erwartet, dass es der Beginn eines Grossangriffs auf den Hizbullah ist», sagt der Leiter des Begin-Sadat-Zentrums für strategische Studien. Doch bisher blieb dieser aus.
Trotz der Truppenverlegungen und der markigen Worte des Verteidigungsministers fehlen bisher weitere Hinweise auf eine Offensive in Libanon. Laut israelischen Medienberichten befinden sich nun zwei Divisionen an der Nordgrenze, eine Division umfasst zwischen 10 000 und 20 000 Soldaten. «Für eine Invasion in Libanon sind mindestens 100 000 Soldaten vonnöten,» sagt Eitan Shamir.
Israel hat eine kleine stehende Armee, es braucht viele Reservisten für eine solche Operation. Bisher gab es keine Massenmobilisierung. Die Armee könnte die Reservisten zwar geheim einberufen, um den Hizbullah in Sicherheit zu wiegen – lange Zeit könnte die Mobilisierung allerdings nicht unter dem Teppich bleiben. «Eine Möglichkeit ist es, dass der Angriff den Hizbullah abschrecken sollte – als Zeichen, dass Israel zu noch mehr fähig ist», sagt Shamir. Die Angriffe auf Pager und Funkgeräte wären demnach vor allem als ein Signal der Stärke zu verstehen.
Szenario 3: Doch noch ein Waffenstillstand?
Israelische Sicherheitsexperten erörtern eine weitere Möglichkeit: Der Druck auf Hizbullah wurde mit dem Angriff so weit erhöht, dass eine diplomatische Lösung wahrscheinlicher wird. «Diese Attacke hat dem Hizbullah sehr grossen Schaden zugefügt», sagt Sarit Zehavi. «Vielleicht entscheiden sie sich nun für einen Waffenstillstand, weil sie so schwer getroffen wurden, dass eine weitere Eskalation ausserhalb der Möglichkeiten des Hizbullah liegt.»
Der Angriff sendet laut Zehavi ein Signal an Iran, sich stärker für einen Waffenstillstand im Gazastreifen einzusetzen, der auch ein Ende der Feindseligkeiten im Norden bedeuten könnte. Für dieses Szenario spricht, dass Israel laut Medienberichten am Donnerstag einen neuen Vorschlag für einen Waffenstillstand im Gazastreifen an die USA übermittelt hat. Dieser Plan sieht statt einer Feuerpause in Phasen einen sofortigen Waffenstillstand, die Freilassung aller Geiseln sowie ein Exilangebot für Hamas-Chef Yahya Sinwar vor.
Szenario 4: Zurück zum Grenzkrieg
Trotz dem Ausmass des Angriffes in Libanon, dem grossen Schaden für den Hizbullah und der entschlossenen Rhetorik von Israels Regierung, die über 60 000 evakuierten Bewohner des Nordens sicher wieder nach Hause zu bringen, besteht immer noch die Möglichkeit, dass dieser Angriff dem Drehbuch der Vergangenheit folgt.
Nach einem kurzen Aufflammen der Feindseligkeiten würden beide Seiten wieder zum täglichen Beschuss über die Grenze zurückkehren – so wie es auch vor einigen Wochen nach dem Hizbullah-Angriff auf das Drusendorf Majdal Shams und dem israelischen Schlag gegen die Miliz in Beirut gekommen ist. Israel und der Hizbullah würden zum Status quo ante zurückkehren: einem gefährlichen Spiel mit dem Feuer, das jederzeit den gesamten Nahen Osten in Brand setzen kann.