Eine Analyse des Propagandamaterials der Hamas zeigt, weshalb die Terrororganisation so schwer zu besiegen ist.
Vorsichtig öffnet ein Mann im schwarzen T-Shirt eine Metalltür und späht hinaus. Wenige Meter vor ihm steht ein israelischer Merkava-Panzer auf offener Strasse, er ist offenbar unbewacht. Im Hintergrund sind weitere Panzer zu sehen, aber keine Soldaten weit und breit. Der Mann rennt auf die Strasse, bückt sich unter den Panzer und platziert einen Sprengsatz mit bereits brennender Zündschnur neben der Raupe. Dann sprintet er unbehelligt zurück ins Haus. Als er das Treppenhaus erreicht hat, knallt es.
Veröffentlicht wurde die Aufnahme am 15. Juli. Laut der Videobeschreibung wurde es im Flüchtlingslager Tal al-Sultan in der Nähe von Rafah im südlichen Gazastreifen gefilmt. Ob die Angaben stimmen, lässt sich nicht überprüfen. Das Video ist eines von Hunderten, mit denen die Kassam-Brigaden ihren Kampf gegen die israelische Armee dokumentieren und propagandistisch ausschlachten. Die Kassam-Brigaden sind der militärische Arm der Hamas. Allein auf ihrem Telegram-Kanal erreichen sie eine halbe Million Menschen.
Es ist kein Zufall, dass der Mann im schwarzen T-Shirt nicht nur eine Kamera auf dem Kopf trägt, sondern auch noch von einem zweiten Mann mit einer Canon-Kamera gefilmt wird. Terrororganisationen brauchen ein Publikum. Deshalb filmt die Hamas viele ihrer Angriffe und stellt aufwendig produzierte Videos von ihren «Erfolgen» ins Netz – inklusive Animationen, mit denen israelische Truppen markiert werden.
Natürlich zeigt dieses Propagandamaterial nur ein verzerrtes Bild der Realität, durch die schnellen Schnitte lässt es sich zudem kaum verifizieren. Dennoch gibt eine Analyse der Aufnahmen Aufschluss über drei Strategien, die die Islamisten anwenden – und weshalb sie so schwer zu besiegen sind.
I. Verstecken und verwirren
Jene Terroristentruppe, die am 7. Oktober den jüdischen Staat überfiel und wahllos Israeli ermordete, war eine eigentliche Armee, bestehend aus Kompanien und Eliteeinheiten. Heute, nach neun Monaten des Krieges, zeigt sich ein anderes Bild: Die militärischen Strukturen und Fähigkeiten der Hamas sind stark dezimiert – doch gleichzeitig ist sie zu einer effektiven Guerilla-Organisation mutiert, die sich unbemerkt in Tunneln bewegt, sich in zivilen Einrichtungen versteckt und jederzeit aus dem Hinterhalt zuschlagen kann.
Zu den häufigsten Angriffen gehören solche mit Panzerabwehrwaffen, wie die Auswertung der Hamas-Videos durch die NZZ zeigt. Offensichtlich gelingt es den Kämpfern immer wieder, sich unbemerkt israelischen Panzern oder Soldaten anzunähern und dann aus Hauseingängen oder Fenstern das Feuer zu eröffnen, bevor sie rasch wieder verschwinden. Die Hamas setzt auch Scharfschützen ein, die sich hinter kleinsten Löchern in Hauswänden verbergen.
Das unübersichtliche Gefechtsfeld, auf dem überall Gefahr droht, ist für die israelische Armee eine riesige Herausforderung. Dazu kommt, dass die Hamas-Kämpfer oftmals nicht von der übrigen Bevölkerung zu unterscheiden sind. Sie bewegen sich unbewaffnet und in zivilen Kleidern auf offener Strasse, bevor sie ihre Waffen aus Verstecken holen. Die israelischen Streitkräfte (IDF) haben nach eigenen Angaben Waffenlager in Kinderzimmern, Kleiderschränken, hinter falschen Wänden und in Moscheen entdeckt.
Der untenstehende Screenshot aus einem Propagandavideo zeigt etwa, wie mehrere zivil gekleidete Hamas-Kämpfer eine Strasse überqueren. In unauffälligen Taschen transportieren sie Panzerfäuste. So sind sie kaum als Kombattanten zu erkennen – eine bewusste Taktik, um die IDF auf dem Schlachtfeld zu verwirren.
Gegenüber der «New York Times» berichteten israelische Soldaten sowie ein Hamas-Offizier, dass sich Hamas-Einheiten oft während Stunden oder Tagen in einem Gebiet verbärgen, um den Eindruck zu erwecken, sie hätten das Gebiet verlassen. Die Hamas schlage erst zu, wenn sich die Truppen in falscher Sicherheit wiegten und sich frei bewegten. In der Regel sind es kleine Gruppen, die diese Überraschungsangriffe ausführen, bevor sie wieder in Tunnel oder andere Verstecke verschwinden. Die IDF kamen kürzlich zu dem Schluss, dass ein grosser Teil des Tunnelsystems weiterhin funktionsfähig ist.
II. Sprengfallen und Hinterhalte
Die Hamas versucht, die eigenen Verluste zu minimieren und den Schaden für die IDF zu maximieren. Direkte Gefechte mit israelischen Soldaten scheint sie möglichst zu vermeiden. So versteckt sie etwa Sprengsätze in Trümmerhaufen entlang von Strassen. Das untenstehende Propagandavideo zeigt, wie eine Bombe präpariert und verborgen wird. Die Hamas-Kämpfer warten anschliessend ab, bis ein israelischer Panzer vorbeifährt, und zünden dann die Bombe.
Um ihre Angriffe zu koordinieren, setzt die Hamas auch auf technische Hilfsmittel wie versteckte Überwachungskameras. Sie erlauben es, die israelischen Truppenbewegungen zu verfolgen und platzierte Sprengsätze im richtigen Moment zu zünden.
Sprengfallen versteckt die Hamas nicht nur entlang der Strassen, sondern auch in Gebäuden. Für die IDF stellt dies etwa in der anhaltenden Offensive auf Rafah im südlichen Gazastreifen eine grosse Herausforderung dar. Gegenüber der Zeitung «Times of Israel» berichtete kürzlich ein in Rafah kämpfender israelischer Offizier, dass seine Truppen kaum je auf Hamas-Kämpfer träfen – die meisten seien mit der Zivilbevölkerung nach Norden gegangen. Stattdessen habe die Hamas vorsorglich Hunderte von Gebäuden vermint.
Laut der «New York Times» versucht die Hamas, israelische Soldaten in diese Fallen zu locken. So verstreue sie Gegenstände, die auf eine Präsenz der Hamas oder von israelischen Geiseln hinwiesen. Im Juni wurden fünf israelische Soldaten getötet, als nach der Detonation einer Sprengfalle ein Haus über ihnen zusammenbrach.
III. Überwachen und planen
Die Hamas suggeriert in ihren Propagandavideos, dass sie weiter in der Lage sei, ihre Überfälle und Hinterhalte akribisch zu planen. In den Videos ist zu sehen, wie sie Drohnen zur Überwachung von Truppenbewegungen einsetzt und ihre Angriffe mithilfe von Lagekarten vorbereitet. Mehrere Videos zeigen zudem, wie die Hamas mit Festnetztelefonen kommuniziert. Dieses analoge Netzwerk ist für Israel nur schwer zu überwachen und funktioniert auch dann, wenn das Mobilfunknetz ausfällt.
Offensichtlich will sich die Hamas mit ihren Propagandavideos gegenüber der Öffentlichkeit auch nach mehr als neun Monaten als starke und gefährliche Organisation präsentieren. Dabei beschönigt sie die eigene Lage – ihre zahlreichen Verluste zeigt sie nicht. Die IDF sagen, sie hätten mehr als 15 000 Kämpfer getötet. Überprüfen lässt sich das nicht. Doch obwohl die Hamas im Krieg stark geschwächt wurde, konnte sie sich jüngst in mehreren Gebieten wieder neu aufstellen und die israelische Armee so erneut zu riskanten Einsätzen zwingen.
Trotz den perfiden Taktiken der Hamas ist es Israel gelungen, die eigenen Verluste tief zu halten. Seit Beginn der Bodenoffensive am 27. Oktober wurden 325 Soldaten getötet; weit weniger, als viele Beobachter prognostiziert hatten. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die IDF in den gefährlichsten Gebieten – den dicht bebauten Städten – keine dauerhafte Präsenz etabliert haben, um sich weniger zu exponieren. Derzeit halten sie lediglich eine Zone entlang der gesamten Grenze sowie den sogenannten Netzarim-Korridor, der den Gazastreifen südlich von Gaza-Stadt in zwei Hälften teilt. Aus diesen Gebieten startet die Armee jeweils zeitlich und örtlich begrenzte Einsätze.
Durch dieses Vorgehen entsteht aber ein Vakuum, das die Hamas jeweils schnell wieder ausfüllen kann. Mit ihrer Guerilla-Strategie dürfte die Terrororganisation auch gegen das militärisch weit überlegene Israel einen langen Atem beweisen können. Deshalb lautet eine entscheidende Frage, ob es den IDF gelingen wird, den Nachschub der Hamas zu kappen. Denn ohne Waffen und Munition kann auch eine Guerilla-Truppe nicht ewig überleben.







